«Ein Mensch, der ertrinkt, ist ein Mensch, der nicht gerettet wurde»
“In der Poesie liegt ja bekanntlich komprimierter Widerstand” schrieb die Autorin über ihre Gedichte. Wir leben in einer Zeit, in der das Niveau der öffentlichen Debatte in zuvor unvorstellbarem Ausmaß abgesunken ist. Ernsthaft wird erwogen, ob man Ertrinkende retten oder doch lieber sterben lassen soll, um weiteren Zuzug von Flüchtlingen nicht zu ermutigen. Es ist wichtig, dass politische Gedichte gerade heute wieder geschrieben werden. Und schon in der feinfühligen Sprache der Lyrik, die sich von normierter und manipulativer Sprache abhebt, liegt Widerstand. (Drei Gedichte von Siljarosa Schletterer)
du fragst mich, welche lösung ich sehe
du sagst das boot sei voll, sie überrennen uns
du meinst uns fehlen die mittel
das einzige, das ich dir antworte
ist dieses fassungslose schweigen
dieses schreiende gefühl in mir
das einzige rückgrat
mein stift, der sich dir entgegen schreibt
er brüllt worte aus tränenstarker tinte
EIN MENSCH, der ertrinkt
ist ein mensch
ein mensch, wie du
ein mensch, DER ERTRINKT,
ist ein mensch, der nicht
gerettet wurde
ein mensch, der ertrinkt
ist ein verlust für mich
ein todesfall, ein trauerfall
ein fall, der mich bewegt,
der bewegen sollte
wie die wellen seinen körper
ein mensch, der ertrinkt
IST EIN MENSCH
ein toter mensch eine tote hoffnung, ein
unwiderbringliches
ENDE
wir stehen hier
und ziehen linien
zwischen tatsachen
stecken bilder ab
bändigen unser
eignes grauen
zwischen zeilen