Epilog am Indischen Ozean

 In Buchtipp, Prinz Chaos II.

Wie ein buntes Partyvolk den 11. September 2001 erlebte, Teil 2. „Ich möchte gefälligst auf vernünftigem Niveau belogen werden!“, fordert „Weazel“, einer der drei Protagonisten dieses kapriziösen und zugleich politisch anstößigen Romans. Und nicht einmal das ist ihm sicher, in einer Epoche, in der die politische Klasse in New York, Jugoslawien und Afghanistan Amok läuft. Der elfte September 2001 ist der Urknall, der auch bei einem haltlosen Chaotenhaufen — einer Mischung aus Esoterik-Sekte, Queerfront und alternativem politischem Think Tank — einschlägt wie eine Bombe. In der Bar zum Krokodil trifft sich die bunte Truppe, und jeder „verarbeitet“ das Weltereignis auf seine ganz spezielle Weise — so klarsichtig wie gelegentlich umwölkt. Und dies ist nur der Auftakt zu einem gewagten Trip durch die Abgründe der menschlichen Seele und der politischen Verdummungsmaschinerie. Eben typisch Florian Kirner, der als Schlossbesitzer, Liedermacher und Journalist „Prinz Chaos II.“ die permanente Revolution verkörpert wie kein anderer.   Florian Kirner

 

Auf den Trümmern der menschlichen Zivilisation werde es fröhlich Yoga-Übungen machen! So hatte das Weazel prophezeit, in Mama Valentes »Bar zum Krokodil«, acht Tage nach dem Doppelturmsturz zu Babylon … der in Wirklichkeit ein dreifacher Turmsturz gewesen war.

Von jenem dritten Turm – World Trade Center 7 –, der an jenem sonnigen Septembertag im Jahre 2001 in New York City mit seinen 187 Metern ebenfalls in sich zusammengestürzt war, hatte aber auch Donna Fauna erst viel später gehört. In der unmittelbaren Terrorberichterstattung und im offiziellen Untersuchungsbericht war dieses Gebäude irgendwie vergessen worden.

Also gleich drei Wolkenkratzer im freien Fall? Das war eine Menge Stahl für lediglich zwei Flugzeuge. Dementsprechend beschäftigte das Jahrhundertverbrechen am Beginn des dritten Jahrtausends auch knapp zwei Jahrzehnte danach noch eine Heerschar von Wahrheitssuchern und Klickjägern, nicht nur in den unendlichen Weiten des Internets.

Eine viel kleinere Gruppe im deutschsprachigen Raum hatte sich an der Katastrophe am Platkowsee festgebissen. Sie forschte unermüdlich weiter und stapelte immer noch mehr Hinweise, Argumente, Gegenargumente und Hypothesen aufeinander.

Bis zum Weazeltier war die Kunde vom grauenvollen Tod des Kanarienquex – Segen des Unwissens! – allerdings nicht vorgedrungen. Und der 11. September war ihm längst von Herzen gleichgültig.

Viel lieber meditierte das Weazel vor sich hin, in Frieden, und machte seine Yoga-Übungen. Zwar tat es dies noch nicht auf den Trümmern der menschlichen Zivilisation, immerhin aber am Strand des indischen Ozeans – gut 8 000 Kilometer entfernt von jenen Breiten, in denen Neolin 2 endlich aufgegeben hatte, allabendlich nach Rischke und dem Kanarienquex zu funken, Lola Mercedes mit Germaine Gamma immer noch Belegen für ihre Mordtheorie und anderen Sensationsenthüllungen über die Machenschaften des Deep State nachjagte und Irinäus von Tadelshofen endgültig in seine neue Rolle als Gala-Adeliger und Jetset-Playboy hineingewachsen war.

Sogar Donna Fauna hatte irgendwann beschlossen, sich die Lektüre naturwissenschaftlicher Texte und ihre schon zwanghaft gewordene Dauerbeschäftigung mit der Ballonkatastrophe am Platkowsee künftig zu ersparen.

Sie nutzte die wiedergewonnene Freiheit, um nach und nach zu ihrem guten, alten Straßen-Aktivismus zurückzukehren. In ihre alte politische Heimat fand sie indes nicht mehr zurück.

Dafür war sie neuerdings Feuer und Flamme für die weltweit mit Wucht aufkommende Ökologiebewegung. Wie üblich fühlte sie sich zu deren militantem Arm hingezogen. Und so stürmte Fauna mit Tausenden, zumeist viel jüngeren Aktivisten die Abbruchkante eines Kohletagebaus hinab, kettete sich an das Tor eines Glyphosatwerks, besetzte Straßenkreuzungen und Brücken.

Sie half auch mit, bedrohte Wälder zu verteidigen. Im Hambacher Forst hatte sie eine neue Heimat gefunden, ohne allerdings selbst auf Bäume zu steigen oder in Baumhäusern zu leben. Denn die Höhenangst war ihr geblieben. Auch weilte sie, nicht mehr die allerjüngste Stute im Stall der Revolution, typischerweise nur des Sommers in diesem und in anderen besetzten Wäldern.

Zum Glück, und nicht zuletzt dank eines erfolgreichen Mietervolksbegehrens, hatte sie ja noch ihr WG-Zimmer in Berlin, Prenzlauer Berg.

Geblieben war Fauna auch der unbedingte Wille, sich in Theorie und Praxis jederzeit auf dem äußersten Extrem der Bewegung zu positionieren. Das war aber gar nicht so einfach. Immer wieder musste sie sich eingestehen, dass sie vielen dieser blutjungen Öko-Früchtchen in Sachen Risikobereitschaft kaum mehr das Wasser reichen konnte. Der selbstvergessene Mut dieser neuen Generation an der Front war bewunderungswürdig, brachte Staats- und Konzernmacht schier zum Verzweifeln – und Fauna zum Weinen vor Freude.

Aber in der Theorie! Aber im Wissen! Da freilich lag die durch und durch in revolutionären Traditionen geschulte Geschichtsgranate Donna Fauna immer noch uneinholbar vorn.

Ihre anekdotenreichen Erzählungen von Bauernkrieg und Wiedertäufern, ihre Erläuterung der Grundwidersprüche der französischen oder russischen Revolution, ihre Stories aus dem spanischen Bürgerkrieg, über Paris 1968, Chile 1973 und Portugal 1975, von Zapatisten, Operaisten, Häuserkämpfen und wilden Streiks, sowie Faunas »Kleine Geschichte der Barrikadenbaukunst« … alles das, und sogar mancher analytische Monolog, wurde ihr Abends am Lagerfeuer zugestanden und gerne angehört.

Natürlich aber ließen ihr diese frischradikalisierten Baummenschen nichts einfach so durchgehen, ohne Widerspruch, Einwand, Nachfrage, Gegenargument.

Es war sogar dahin gekommen, dass diese wilde, unverschämte Bande vermocht hatte, den Radikalisierungsspieß glatt umzudrehen. Diese kaum halb so alten Fohlen hatten dem altgedienten Bewegungsschlachtross Donna Fauna eine neuerliche scharfe Wendung auf ihrem lebenslangen Ritt durch die Welt radikaler Theorien verpasst!

Denn die Krieger des Waldes identifizierten sich durch die Bank als Anarchisten. Von den Kommunisten hatten sie kein gutes Bild und wollten nichts wissen von Parteiaufbau, Kaderwesen und Demokratischem Zentralismus.

Ursprünglich um diese verbalradikalen Flausen besser bekämpfen zu können, hatte Fauna, die ewige Leninistin, erstmalig die Klassiker des Anarchismus gelesen. Sie fräste sich durch die Schriften von Michail Bakunin, Peter Kropotkin, Errico Malatesta, Emma Goldmann, Gustav Landauer und Rudolf Rocker. Und siehe da: Deren Entschlossenheit, nicht eine neue Macht zu gebären, sondern endlich das Zeitalter der Herrschaftslosigkeit einzuläuten, gefiel Fauna ausnehmend gut. Hatten Bakunin und Proudhon schon damals recht gehabt gegen Marx und Engels?

So weit wollte Fauna dann doch nicht gehen, aber dieser Strom neuen, alten revolutionären Denkens ließ ihre Säfte ansteigen wie seit frühesten Schülerbewegungszeiten nicht mehr.

Die wiedergefundene Militanz half ihre ungemein, über den Tod des Kanarienquex endgültig hinwegzukommen. Als sie dann zum ersten Mal nach langen Jahren wieder einen richtigen Wasserwerfer-Angriff miterlebte, wobei die Drecksbullen irgendeinen illegalen Kampfstoff ins Wasser gemischt hatten und damit die halbe Demo zum Kotzen brachten, da kotzte sich auch Donna Fauna erst einmal nach Leibeskräften aus.

Als sie damit fertig war, schickte sie KQ einen Kuss in die Wolken und war gesundet.

 

 

Florian Kirner:

Leichter als Luft

Westend Verlag

320 Seiten, € 17,95

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