Es geht um unsere Würde!
Die Wiederentdeckung der eigenen Würde ist ein revolutionärer Akt. In einer von Effizienzdenken und Erfolgsstreben geprägten Welt ist die Wiederentdeckung der eigenen Würde wichtiger denn je. Die Würde ist unser innerer Kompass, der uns durch Turbulenzen, Verlockungen und scheinbare Notwendigkeiten hindurchnavigiert. Und: Wer sich seiner eigenen Würde bewusst ist, behandelt auch seinen Nächsten würdevoll. Das gemeinsame Anliegen der Unterzeichner dieses Aufrufs ist es, eine breite öffentliche Diskussion darüber in Gang zu bringen, wie wichtig es ist und wie es gelingen kann, das Empfinden, die Vorstellung und das Bewusstsein der eigenen Würde eines jeden Menschen zu stärken. (Gerald Hüther)
In einer von Effizienzdenken und Erfolgsstreben geprägten Welt ist die Wiederentdeckung der eigenen Würde wichtiger denn je. Die Würde ist unser innerer Kompass, der uns durch Turbulenzen, Verlockungen und scheinbare Notwendigkeiten hindurchnavigiert. Und: Wer sich seiner eigenen Würde bewusst ist, behandelt auch seinen Nächsten würdevoll. Das gemeinsame Anliegen der Unterzeichner dieses Aufrufs ist es, eine breite öffentliche Diskussion darüber in Gang zu bringen, wie wichtig es ist und wie es gelingen kann, das Empfinden, die Vorstellung und das Bewusstsein der eigenen Würde eines jeden Menschen zu stärken.
Woran wollen wir uns orientieren bei dem, was wir denken, sagen und tun? An dem, was wir vorfinden, weil es sich bisher so entwickelt hat? Oder an dem, wie es sein müsste, damit wir das, was uns als Menschen ausmacht, bewahren und weiterentwickeln können? Die Ansammlung von immer mehr Wissen hat uns bei der Suche nach einer Antwort auf diese wichtige Frage nicht so recht weitergebracht. Wir wissen längst, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Viele Menschen haben auch erkannt, dass das, was sie tagtäglich tun, nicht dazu beiträgt, gesund zu bleiben, glücklich zu werden und ihre Talente und Begabungen zu entfalten. Es ist viel von Erkenntnis die Rede, aber etwas erkannt zu haben, heißt nicht, dass es uns auch wirklich berührt. Und wenn es uns nicht berührt, ändert sich auch nichts im Hirn.
Viele haben versucht und versuchen bis heute, anderen zu erklären, wie es gehen könnte. Dabei wurde und wird an deren Gewissen appelliert, an Werte und Normen erinnert, bisweilen auch Druck gemacht. Es werden Gesetze erlassen und Regeln festgelegt. Doch wir stürzen von einer Krise in die nächste, verbrauchen immer mehr Energie, plündern die natürlichen Ressourcen unseres Planeten und haben keine Ahnung, wie irgendeine Ordnung in das von uns angerichtete Durcheinander kommen soll. Inzwischen machen sich die ersten fertig für einen Flug zum Mars.
Niemand wird irgendetwas in seinem Leben verändern, wenn sie oder er das nicht aus einem inneren Bedürfnis heraus auch wirklich will. Wer jedoch zum Objekt der Absichten und Ziele, der Belehrungen und Bewertungen, der Maßnahmen und Anordnungen anderer gemacht wird, erlebt sich als jemand, der etwas tun soll, das andere wollen. Um sich daraus zu befreien und wieder zum Gestalter seines eigenen Lebens werden zu können, braucht jeder Mensch eine innere Orientierung, die sein Denken, Fühlen und Handeln leitet. Diese Vorstellung davon, was für eine Person jemand sein will, ist nicht angeboren. Sie wird erst im Lauf des eigenen Lebens anhand der dabei gemachten Erfahrungen herausgebildet und als Selbstbild im Gehirn verankert. All jene Menschen, die erleben durften, dass sie so, wie sie sind, von anderen angenommen und wertgeschätzt werden, entwickeln zunächst ein Gefühl, dann eine Vorstellung und schließlich auch ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde. Da jeder Mensch zu jedem Zeitpunkt seines Lebens diese Erfahrung machen kann, ist es nie zu spät, sein Leben fortan im Bewusstsein dieser eigenen Würde zu gestalten.
Die Würde ist unser innerer Kompass für ein menschenwürdiges Leben.
Wer wirklich verstanden hat, was diese eigene Würde ausmacht und wie leicht sie tagtäglich aus Achtlosigkeit verletzt werden kann, will dann auch nicht mehr so weiterleben wie bisher – sei es als unbeteiligter Zuschauer oder als achtloser Konsument oder gar als Erzeuger und Vertreiber von würdelosen Ideen und Produkten. Und wer sich seiner Würde bewusst geworden ist, wird auch den Wunsch verspüren, andere Menschen einzuladen, zu ermutigen und zu inspirieren, ihr Leben künftig etwas würdevoller als bisher zu gestalten.
Menschen, die sich ihrer eigenen Würde bewusst geworden sind, lassen sich fortan auch nicht mehr verführen. Sie verfügen über einen eigenen inneren Kompass, der ihr Denken und Handeln leitet, und sie passen auf, dass der ihnen nicht abhandenkommt. Solche Personen lassen sich von niemandem einreden, was sie noch alles brauchen, um glücklich zu werden. Plakate, Werbespots, Ratgeber und Angebote für ein besseres Leben empfinden sie als unwürdige Versuche, sie so zu behandeln, als könnten sie nicht selber denken und eigene Entscheidungen treffen. Sie stellen sich nicht mehr als Objekte für andere zur Verführung und machen sich auch selbst nicht mehr zum Objekt ihrer eigenen Erwartungen und Bewertungen.
Sich ihrer Würde bewusste Menschen nehmen von anderen Personen auch keine Angebote und Leistungen an, deren Bereitstellung die Würde der Erbringer dieser Angebote und Leistungen verletzt. Sie gehen nicht dorthin, wo Menschen sich für Geld zur Schau stellen, sie besuchen kein Bordell, und sie kaufen auch keine Produkte, für deren Herstellung andere Menschen ausgebeutet und ausgenutzt werden. Würdevolle Menschen erleben sich aus sich selbst heraus als wertvoll und bedeutsam. Sie brauchen weder andere, die sie und ihre Besitztümer bewundern, noch brauchen sie Macht, Einfluss, Reichtum oder irgendwelche Statussymbole, Stellungen oder Positionen, um sich als wertvoll und bedeutsam zu erleben. Auch wird niemand, der sich seiner Würde bewusst ist, andere Menschen würdelos behandeln, sie also zum Objekt seiner eigenen Absichten, Bewertungen oder gar Maßnahmen machen.
Das zutiefst Menschliche in uns zu entdecken und einander zu helfen, es füreinander zu bewahren, ist zu unserer wichtigsten Aufgabe im 21. Jahrhundert geworden. In Würde sterben zu dürfen, ist ein verständlicher Wunsch. Aber wäre es nicht weitaus erstrebenswerter, vorher schon möglichst würdevoll zu leben?
Redaktionelle Anmerkung: Diesen Aufruf können Sie hier selbst unterzeichnen.
Gerald Hüther ist Neurobiologe. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte sind der Einfluss früher Erfahrungen auf die Hirnentwicklung, Auswirkungen von Angst und Stress auf den Menschen sowie die Bedeutung emotionaler Reaktionen. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Publikationen. Seit 2015 ist er Vorsitzender der Akademie für Potentialentfaltung.
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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.