Feuersbrunst der Unmenschlichkeit

 In FEATURED, Politik

Brandbomben verwandelten im Zweiten Weltkrieg ganze Städte in ein Inferno — die Spuren der Leiden reichen bis in die Gegenwart. Exklusivabdruck aus „Die Heimat der Wölfe“. Das massenhafte Töten wird ab einer gewissen Dimension abstrakt. Es ist für den menschlichen Geist nur noch schwer greifbar. Von Josef Stalin stammt die überaus zynische Bemerkung, dass der Tod eines Einzelnen eine Tragödie, der Tod von Millionen Menschen hingegen nur eine Statistik sei. Hinter dieser Abstraktion kann das individuelle Leid zwar verborgen werden, aber keinesfalls verschwinden. In seinem Buch „Die Heimat der Wölfe“ beschreibt Raymond Unger familienbiografisch das unvorstellbare Leid, welches die Brandbombardierung Hamburgs für seine Vorfahren mit sich brachte. Der Vater des Autors heißt in diesem Text Andreas. Die lebhafte Schilderung dieser Todesnacht verdeutlicht mit durch Mark und Bein gehenden Details die Schrecken der kriegerischen Massentötung. Sie erinnert uns Heutige daran, das Grauen des Krieges niemals zu unterschätzen und nicht leichtsinnig in ein weiteres großes Morden hineinzustolpern. Exklusivabdruck aus „Die Heimat der Wölfe. Ein Kriegsenkel auf den Spuren seiner Familie — Eine Familienchronik“. Raymond Unger

 

„Wo ist denn der Junge schon wieder!“ Peter Niedermeier war ungehalten. Eben noch hatte er Andreas, dem neuen Pflegekind aus Hamburg, aufgetragen, das Holz zu hacken. Nun war der Holzplatz hinter der Scheune schon wieder verwaist.

„Na, wo wird er schon sein? In der Küche natürlich, wie immer!“ Frau Niedermeier hatte es nicht leicht, obwohl dies manche Leute behaupteten, denn ihr Mann, ein „Kriegskrüppel“ aus dem Ersten Weltkrieg, war immerhin zu Hause. Trotzdem hatte Frau Niedermeier alle Hände voll zu tun. Seit geraumer Zeit musste die Familie nämlich zusätzlich zu ihren eigenen Kindern fremde Pflegekinder aufnehmen. Die Kinder aus dem Programm der „Erweiterten Kinderlandverschickung“ kamen aus „luftgefährdeten Gebieten“, insbesondere aus Großstädten wie Hamburg, Berlin, Düsseldorf oder Frankfurt.

Diese Stadtkinder waren anders als die Buben und Mädel des beschaulichen niederbayrischen Ortes Grafenau. Und dieser Hamburger Bub Andreas war vermutlich der schwierigste. Nicht dass er aufsässig gewesen wäre, keineswegs. Aber Andreas schien sich nicht recht einzufügen. Er war still, oft wirkte er abwesend, und nachts hörte man aus seinem Zimmer ein leises Schluchzen.

Andreas’ Lieblingsplatz war eindeutig die Küchenbank. Jede freie Minute saß er da. Eigentlich sah man von dem Jungen immer nur den Hinterkopf. Stundenlang verkroch er sich vorm hauseigenen Volksempfänger. In der Regel musste man ihn zweimal ansprechen, bevor er überhaupt reagierte.

Und heute, am 26. Juli 1943, reagierte er gar nicht. Peter Niedermeier wollte gerade ein kleines Donnerwetter loslassen, weil Andreas nicht, wie aufgetragen, das Holz hackte. Doch er hatte die Küche kaum betreten, da lief Andreas mit starrem Blick an ihm vorbei und die schmale Stiege hinauf in sein Zimmer. Niedermeier war außer sich. Was war das jetzt für eine neue Frechheit? Wutentbrannt stieg er die Treppe hinauf, riss die schiefe Holztür der kleinen Dachkammer auf und wollte gerade losbrüllen, als ihm seine Frau von hinten auf die Schulter tippte: „Lass ihn!“

Andreas lag auf dem Bett, das Gesicht ins Kissen vergraben, und weinte so bitterlich wie noch niemals zuvor. Leise schloss Irene Niedermeier die Tür. Auf dem Weg nach unten war es, als seien junge Wölfe ins Haus eingezogen, so laut war das Heulen des Neunjährigen zu hören. Peter und Irene Niedermeier sprachen kein Wort. In der Küche angekommen, schnappten sie aus dem Volksempfänger gerade noch den Satz auf: „ … Achtzig Prozent der Stadt wurden zerstört.“

In der Nacht zuvor stand Oskar, der acht Jahre ältere Bruder von Andreas, auf einem Flakturm in Hamburg-Groß-Borstel. Stolz diente der Siebzehnjährige bei einer Hamburger Flakeinheit, die vorwiegend aus Männern bestand, die für den Fronteinsatz entweder zu jung oder zu alt waren. Zwischen 1943 und 1944 wurden ganze Schulklassen junger Männer für den Flakdienst herangezogen, so auch Oskar. Die aktive Luftabwehr durch Abfangjäger war im Sommer 1943 bereits schwach.

Nahezu ungehindert flogen die Bomberstaffeln der Alliierten ihre Ziele an. Zudem feuerte die Hamburger Flak immer noch Geschosse ohne Aufschlagzünder ab. Selbst wenn eine solche Granate einen Lancaster-Bomber traf, was eher selten vorkam, durchschlug das schnelle Geschoss zwar Rumpf oder Tragfläche wie Butter, richtete aber meist keine größeren Schäden an. Die eigentliche Explosion erfolgte erst viele Meter hinter dem Ziel.

Ein geschickter Pilot konnte seinen Bomber weiterfliegen, auch wenn einer der vier Motoren getroffen worden war. Doch ab und an wirkten der durch ein kleines Uhrwerk gesteuerte Zündzeitpunkt, die Detonationshöhe und die Vorhaltezeit des Geschosses so zusammen, dass ein Bomber tatsächlich abgeschossen wurde. Furchtbar für die jungen Piloten, die mit einem Durchschnittsalter von 20 Jahren kaum älter waren als die Flakschützen am Boden. Aus heutiger Perspektive bekämpften sich damals Kinder und Jugendliche. Doch in den 1940er-Jahren wurde das anders gesehen.

Niemand zuvor konnte ahnen, wie es sein würde, wenn eine Millionenstadt in nur einer Nacht in Brand gesetzt wird. Es hatte Jahre gebraucht, um die entsprechende Technik auszuklügeln. Und es hatte nochmals Jahre gebraucht, um für die notwendige Wut und Verwirrung zu sorgen.

Doch in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli 1943 war beides im Übermaß vorhanden. Auf dem Groß-Borsteler Flakturm war die Hölle los. Die Sirenen gaben schon lange Vollalarm, ein grauenhaft an- und abschwellender Heulton ohne Pause. Gespenstisch leuchteten die Flak-Scheinwerfer den Himmel ab. Der suchende Lichtkegel hatte etwas Verzweifeltes, als ob das Licht nie ausreichte oder als ob es immer zu spät wäre, um etwas Entscheidendes zu erkennen. Doch egal, ob in den Lichtkegeln etwas zu sehen war oder nicht, fast alle anderen Türme der Stadt feuerten bereits aus allen Rohren in den Nachthimmel.

In der Ferne hörte Oskar die kleine und mittlere Flak, auf der er ursprünglich ausgebildet wurde. Er wusste, dieser Flaktyp verschoss seine schwache Munition ohnehin nutzlos. Ein Brummen im Hintergrund wurde immer lauter. Es war das Geräusch von Tausenden Flugzeugmotoren. Dann ging es auch hier los. Mit schrillem Pfeifen fielen die ersten Bomben, auf die laute Detonationen folgten.

Anfangs dachte Oskar noch, dass es nicht so schlimm werden würde. Die Explosionen hörten sich zwar furchtbar an, aber Oskar kam es so vor, als wären es nicht viele. Dann hörte Oskar etwas, das er noch niemals zuvor gehört hatte. Es war stärker als eine Explosion. Es war, als ob ihn eine unsichtbare Faust zu Boden streckte. Oskar lag mit dem Rücken auf dem Bunkerdach. Plötzlich war alles ganz leise. Wie durch Watte vernahm er nur noch das Getöse um ihn herum.

Der Grund war eine Luftmine. Diese Riesenbomben, von denen eine einzige mehrere Tonnen wiegen konnte, hatten einen ganz bestimmten Zweck. Luftminen zerstörten alle Gebäude im unmittelbaren Umkreis. Aber selbst im Umkreis von einem Kilometer riss die Detonation noch alle Tür- und Fensterrahmen heraus und deckte die Häuser ab. Und noch im Umkreis von zwei Kilometern zersplitterten alle Fensterscheiben. Diese Effekte waren gewollt, denn mit einer einzigen Luftmine konnten so ganze Wohnviertel optimal für den nachfolgenden Brand vorbereitet werden. Feuer braucht Sauerstoff. Und ein Haus ohne Dach und Fenster brennt fünfmal so gut.

Je nach Entfernung stirbt man nicht sofort, wenn man die Detonation einer Luftmine miterlebt. Oft trennt sich aber das Rippenfell vom Lungenfell. Die Lunge schnurrt dann zu einem faustgroßen Ball zusammen. Und so sehr man dann auch versucht zu atmen, die Lunge kann sich nicht mehr entfalten. Was folgt, ist ein minutenlanger Todeskampf.

Oskars Lunge funktionierte nach dieser Luftmine noch. Er stand auch schon wieder aufrecht auf dem Dach des Bunkers. Das Geschrei und die Befehle erreichten ihn aber kaum noch. Wie gebannt schaute er in Richtung Lokstedt. „Das ist bei uns!“

Er fuchtelte wild mit den Armen und zeigte immer wieder in Richtung Horst-Wessel-Allee, wo er wohnte.

„Es brennt da bei uns!“

„Ruhig, Junge, das kannst du doch gar nicht wissen, das sieht man doch von hier aus gar nicht.“

Sein Vorgesetzter, ein älterer Mann mit gütigen Augen, der bereits den Ersten Weltkrieg miterlebt hatte, war zu Oskar getreten und versuchte, ihn zu beruhigen. Doch Oskar ließ sich nicht davon abbringen.

„Das ist unser Haus! Ich weiß es! Ich muss da hin, sofort!“

Alle Abhärtungsversuche hatten bei Oskar anscheinend nicht so ganz gefruchtet. Hitlerjugend, Lager, soldatisches Training, Tapferkeitsideale — dem Siebzehnjährigen standen in dieser Nacht die Tränen in den Augen.

„Gut. Dann geh. Lauf hin.“ Der alte Flakhelfer erkannte, dass es keinen Zweck hatte und er den Jungen ohnehin nicht halten konnte. Oskar lief so schnell, er konnte in Richtung Lokstedt. Je näher er seinem Stadtteil kam, desto mehr glichen die Straßen einem Inferno. Mittlerweile versahen auch die Brandbomben ihren Dienst. Diese knapp zwei Kilo schweren und zu Hunderttausenden abgeworfenen Magnesium-Brandsätze durchschlugen mühelos Dächer, steckten in den Holzdielen der Häuser fest und verbrannten wie ein Schweißbrenner ihr glühend heißes Inneres.

Atemlos, verheult und in Todesangst erreichte Oskar die Nummer 51 der „Horst-Wessel-Allee“. Der Familie ging es gerade erst etwas besser, sie hatten hier eine neue Wohnung bezogen, die sogar ein richtiges Badezimmer besaß. Ein Klavier war angeschafft worden, und man war dabei, den wirtschaftlichen Verlust der letzten Jahre auszugleichen. Vor dem Hauseingang stand nun Blockwart Bremer. Unter dem riesigen Helm sah Bremers Kopf lächerlich klein aus. Aufgeregt lief er hin und her und schrie dabei ohne Unterlass: „Da geht mir keiner rauf! Da geht mir keiner rauf !“

Oskar sah nach oben, in der elterlichen Wohnung erkannte er einen Feuerschein. Offenbar steckte hier ein Brandstab. Das Haus hatte bereits keine Fenster und kein Dach mehr, davor auf der Straße lagen Ziegel und Mauerstücke verstreut. Dasselbe Bild boten die Nachbarhäuser. Doch von dort war lautes Geschrei zu hören. Beherzte Blockwarte griffen nach den heißen Brandstäben und steckten sie in für diesen Zweck vorbereitete Eimer mit feuchtem Sand. Nur so ließen sich die Fackeln bändigen. Tatsächlich konnten die Nachbarhäuser gerettet werden. Beide Häuser stehen heute noch in der Stresemannallee, denn so heißt die Horst-Wessel-Allee mittlerweile.

In jener Nacht jedoch verbot Blockwart Bremer das Eingreifen in der 51. War Bremer feige? Oder schlau? Vielleicht wusste er, dass es inzwischen zwei Sorten Stabbrandbomben gab: Eine „normale“, die für acht Minuten hell und heiß brannte, und eine modifizierte, die eine kleine Besonderheit bereithielt. In ihrem Inneren schlummerte eine Spezialgranate, die beim Herausziehen explodierte und jeden Helfer verstümmelte oder tötete.

Inzwischen hatten die Strategen für Stadtverbrennung so einiges hinzugelernt. Wessen Ziel es war, eine Stadt vollständig niederzubrennen, der musste auch die Helfer daran hindern, dass Brände gelöscht wurden.

So erfanden die Bombeningenieure diverse Neuerungen. Es gab beispielsweise spezielle Zeitzünder-Bomben, die wie vermeintliche Blindgänger das Hausdach durchschlugen, ganz ohne Detonation. Vorerst bohrten diese Spezialbomben nur ein kleines Loch ins Haus, um dann irgendwo im Kellergeschoss stecken zu bleiben. Im Inneren der Bombe fraß sich aber langsam eine Säure durch eine Plexiglas-Platte. Irgendwann zerbrach die Platte, und eine starke Feder schnellte auf einen Zündmechanismus. Waren inzwischen Feuerwehrleute oder Hausbewohner nach der Entwarnung in das Haus zurückgekehrt, wurden sie urplötzlich durch eine entsetzliche Detonation getötet.

Oskar entdeckte das Klavier seiner Familie. Es stand mitten auf der Straße. Offenbar hatte man sich bereits damit abgefunden, dass dieses Haus verloren war. Andererseits war aber genug Zeit gewesen, um noch das Klavier zu retten. Jetzt fiel Oskar auch das Motorrad ein. Das einzige Fortbewegungsmittel der Familie, es stand noch im Keller. Inzwischen roch es komisch, irgendwie chemisch. Die nächste Stufe der Stadtverbrennung hatte begonnen.

Nachdem Sprengbomben und Luftminen die Häuser für den Brand vorbereitet hatten und Hunderttausende der kleinen Schweißbrenner in den Dielen steckten, warfen Bomberstaffeln eine weitere Sorte Bomben ab — vom Volksmund „Phosphorkanister“ genannt. Wie Lava verbrannten diese flüssigen Brandsätze mit ihrer Mischung aus hochgiftigem weißem Phosphor und Kautschuk alles, was sich der klebrigen Masse darbot. Schlug so ein Kanister auf der Straße auf, spritzte das sich selbst entzündende Brandgel oft bis in den ersten Stock. Wer von dem Gel direkt getroffen wurde, erlitt schwerste Verbrennungen, mitunter bis auf die Knochen, denn das Spezialgel war selbst mit Wasser kaum zu löschen.

Kamen alle Bombensorten in mehreren Straßenzügen zum Einsatz, entstand ein physikalischer Effekt, mit dem selbst Experten kaum gerechnet hatten, der sogenannte Feuersturm. Eine über 1.000 Grad heiße Verbrennung auf einer derart großen Fläche erfordert Tonnen von Sauerstoff.

Die Thermik über der Brandstelle wurde so groß, dass in allen umliegenden Straßen ein orkanartiger Luftsog entstand. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde wie mit einem riesigen Staubsauger in den Brandherd gezogen. Zugleich wurde die Wärmestrahlung über weite Distanzen so groß, dass alles Brennbare ganz ohne Funkenflug augenblicklich von selbst in Flammen aufging. Alles, was der thermischen Strahlung direkt ausgesetzt war, Holz, Stoff, Leder, Haut und Haare, brannte von einer Sekunde auf die nächste.

Was man in Hamburg und Dresden gelernt hatte, führte man in Tokio fort. Tatsächlich konnte die geschickte Kombination konventioneller Waffen die Wirkung der ersten Atombombe sogar übertreffen, wie die Bombardierung Tokios eindrucksvoll bewies. In kürzester Zeit kamen hier weit mehr Menschen ums Leben als bei der Verwendung der ersten Nuklearwaffen in Hiroshima und Nagasaki. Mit dem Unterschied, dass für die Nuklearwaffen dann nicht mehr Hunderte von Flugzeugen benötigt wurden, sondern nur noch ein einziges.

Auch der Brand in der Nummer 51 kam durch flüssigen Phosphor so richtig in Gang. Durch die Decken tropfte eine heiße Masse, lief die Wände hinunter bis in den Keller und entzündete dort das Kohlelager, das nun hell vor sich hin glühte.

Von alledem wusste Oskar nichts, als er nur in eine nasse Decke gehüllt den Keller betrat. Die Hitze im Keller war inzwischen so stark, dass sich das Tachoglas des Motorrades verformt hatte. Trotzdem schaffte Oskar es, das Motorrad aus dem Keller zu bergen. Kurz darauf brannte das Haus vollständig nieder. Fortan war die Familie Unger obdachlos. „Ausgebombt“, sagte man damals, obwohl „ausgebrannt“ wohl treffender gewesen wäre.

Oskars kleiner Bruder Andreas im bayrischen Grafenau hatte sich inzwischen etwas beruhigt. Fast war es den Niedermeiers gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass der Angriff auf Hamburg schon nicht so schlimm gewesen war. Unglücklicherweise verboten sie Andreas aber nicht, am nächsten Tag wieder vor dem Volksempfänger zu sitzen. Und hier erfuhr er nun, dass in der Nacht ein noch stärkerer Angriff auf Hamburg erfolgt war.

Was in der ersten Nacht noch nicht verbrannt war, sollte nun endgültig verbrennen. Und obwohl Andreas erst neun Jahre alt war, begriff er, dass diese Angriffe etwas Besonderes waren. Sie waren persönlich. Hier sollte ein Exempel statuiert werden. Es ging nicht mehr darum, Kriegsindustrie zu vernichten, Infrastruktur, Logistik oder einen Bahnhof. Mit einer eigens dafür entwickelten Technik ging es um die systematische, flächendeckende Vernichtung einer Großstadt und ihrer Bewohner.

Ebenso wie es Oskar nicht auf dem Flakbunker ausgehalten hatte, hielt es nun auch der kleine Andreas nicht mehr im fernen Bayern aus. Insgeheim schmiedete er Fluchtpläne. Er musste, wie auch immer, nach Hamburg zurück. In der Schule hatte Andreas weitere Hamburger Kinder kennengelernt. Darunter war auch eine Familie, die am Programm der „Mutter-und-Kind-Verschickung“ teilnahm.

Diese Familie, eine Mutter und ihre sechs Kinder, hatten vor, bald nach Hamburg zurückzukehren. Schließlich gelang es Andreas, die arme Frau dazu zu überreden, ihn mitzunehmen. Irgendwann sagte sie resigniert: „Ach, ob ich nun auf sechs oder sieben Bälger aufpassen muss, macht dann auch keinen Unterschied mehr.“

Andreas‘ Flucht war also beschlossene Sache. Doch bevor sie ausgeführt werden konnte, nahmen die Niedermeiers Kontakt zu den Ungers in Hamburg auf. „Der Junge geht uns hier ein“, soll in dem Brief gestanden haben. Und so kam mein Vater schließlich ganz offiziell in seine Heimatstadt zurück.

Nicht ahnend, dass er noch viel grauenhaftere Nächte im Großbunker am Siemersplatz würde verbringen müssen. Nächte, die er mutterseelenallein durchzustehen hatte und in denen er aus Angst um die Eltern fast den Verstand verlor. Denn obwohl es streng verboten war, gingen Mutter und Vater bei Vollalarm nur selten mit in den Schutzbunker. Sie behaupteten, das Herzleiden des Vaters ließe dies nicht zu. Ich vermute aber, dass mein Großvater nach seinem knappen Überleben im U-Boot enge Räume, in denen Panik herrschte, nicht mehr ertrug.

 

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Die Heimat der Wölfe. Ein Kriegsenkel auf den Spuren seiner Familie — Eine Familienchronik“ von Raymond Unger.

 

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

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