Früchtchen des Zorns, oder: Der Kampf um Aufmerksamkeit
Wen interessieren Menschen, wenn man auf ein Smartphone starren und auf ihm herumwischen kann? Allenfalls als Hersteller und Mitglieder einer WhatsApp-Gruppe sind Menschen noch gefragt. Schlimm wird das Ganze, wenn auch Kinder im Kampf um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern nicht mehr mit diversen Apparaten konkurrieren können. Sie suchen dann andere – teils destruktive – Wege, um wieder ins Blickfeld zu kommen… (Götz Eisenberg)
Letzten Freitag war ich vor der drückenden Hitze in den botanischen Garten geflohen, wo es sich im Schatten hoher Bäume gut aushalten und lesen ließ. Als ich den Garten verließ, wurde ich von den Geräuschen einer öffentlichen Fußballübertragung auf dem Kirchenplatz angezogen. Auf einer riesigen Leinwand lief das Spiel Frankreich gegen Uruguay. Nach dem ersten Tor für Frankreich wandte ich mich zum Gehen und schlenderte Richtung Seltersweg.
Auf dem Marktplatz wurde ich Zeuge einer Szene, die meine Aufmerksamkeit fesselte. An der Rückseite eines dieser hässlichen Wartehäuschen am Busbahnhof ist ein öffentliches Telefon angebracht. Ein kleiner Junge hatte den Hörer aus der Halterung gerissen und begann, sich an der Telefonschnur festzuklammern und hin und herzuschaukeln. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis die Schnur aus der Verankerung gerissen sein würde. Ich überlegte kurz, ob ich etwas sagen und einschreiten sollte, ließ es dann aber. Warum eigentlich? Aus leidvollen Erfahrungen mit Erziehungsberechtigten, die dann ihr Eigentum am Kind reklamierten und mich aufforderten, „mich da gefälligst rauszuhalten“.
Als ich noch dabei war, mit dem Interventionsimpuls zu kämpfen, trat die Mutter des Jungen um die Ecke des Wartehäuschens. Und was tat sie? Nichts! Sie wischte auf ihrem Smartphone herum und sah dem Treiben ihres Früchtchens blasiert zu. Jetzt begriff ich: Das Kind hatte möglicherweise den ganzen Aufwand nur betrieben, um die Aufmerksamkeit der Mutter für einen Moment vom Smartphone abzulenken und auf sich zu ziehen. Es wollte wahrgenommen werden, einmal spannender sein, als das Geschehen auf dem Display.
Was wird das Kind als nächstes tun, wenn diese Aktion nicht ausreicht? Muss es erst krachen und Blut fließen, bis die Mutter sich ihm zuwendet? Wenn alle kindlichen Versuche, Aufmerksamkeit zu erzeugen, ins Leere gehen, wird das Kind immer weiter gehen und ständig neue Grenzen überschreiten. Irgendwann sind es die Körpergrenzen anderer Menschen. Schon Augustinus sagte, die Unschuld des Kindes beruhe auf seiner körperlichen Schwäche, nicht auf dem, was es wolle. Nur seine mangelnden Körperkräfte hindern es daran, großen Schaden anzurichten. Aber, wartet nur ab, bis seine Kräfte ausreichend sind und das erwachsen gewordene Kind wirklich zerstören kann! Wenn die Suche eines Kindes nach Angst mindernden und Halt gebenden Begrenzungen nicht irgendwann erfolgreich ist, ist eine destruktive Entwicklung sehr wahrscheinlich. Manche Gewalttaten von Erwachsenen bis hin zu Amokläufen können als „Aufmerksamkeits-Terror“ verstanden und gedeutet werden. Nach dem Motto: Negative Aufmerksamkeit ist besser, als gar keine!
Früher haben Erwachsene, die Zeugen einer solchen Szene wurden, eingegriffen und auch dem Kind fremder Leute gegenüber darauf bestanden, dass gewisse Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Die Eltern haben den Fremden in der Regel zugestimmt und ihnen das Recht zu einer angemessenen Intervention eingeräumt. Heute reagiert niemand mehr auf nichts. Was ist das für ein Signal an Kinder und Jugendliche, wenn Erwachsene ihren Regelverletzungen interesselos zuschauen? Was bei den Kindern ankommt, ist, dass die Erwachsenen ihre eigenen Regeln nicht ernst nehmen und dass man tun kann, was man will und worauf man Lust hat.
Wir haben nicht nur ein „Integrationsproblem“ mit Migranten aus fremden Ländern und Kulturen, wir schaffen es nicht einmal, unseren eigenen Nachwuchs zu „integrieren“ und zum Einhalten von Regeln anzuhalten. Jede Generation von Neugeborenen stellt mit ihrer zunächst prinzipienlosen Lustsuche den jeweils gefundenen Kompromiss zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und Trieb- und Glücksansprüchen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder in Frage und muss dazu aufgefordert werden, diese Kultur durch das Vollziehen derselben Verdrängungsleistungen zu erhalten. Das ist eine Herkulesaufgabe, und es bedarf der vereinten Anstrengungen aller an der Erziehung Beteiligten, die nachwachsenden Generationen in die Kultur einzuführen und ihre Lustsuche und ihre Aggressionen in sozial verträgliche Bahnen zu lenken.
Die gegenwärtig vielfach praktizierte Nicht-Erziehung wird gravierende Folgen haben und den sozialen Zusammenhalt dauerhaft gefährden. Eine Gesellschaft, die aus Smartphone-Wischern, nihilistischen Konsumenten und narzisstischen Selbstdarstellern (wie den Frisuren- und Tattoo-Models unserer Nationalmannschaft) besteht, wird zerfallen und nicht imstande sein, die vielbeschworenen „westlichen Werte“ zu verteidigen. Sie kennt sie gar nicht und kann sie deswegen auch nicht vermitteln – weder den eigenen Kindern, noch zuwandernden Fremden. Hauptsache, es ist genug Bier im Haus und der Tank vom SUV ist voll!
In solche Gedanken versunken ging ich weiter. Zu Hause angekommen sah ich, dass die Franzosen dann noch ein Tor schossen und eine Runde weiterkamen.
Dieser Artikel erschien zuerst als Kolumne im „Gießener Anzeiger“
Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der »Edition Georg Büchner-Club« erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Der dritte Band erscheint im September 2018 am selben Ort und heißt „Zwischen Anarchismus und Populismus“.