Gefängnis-Insassen schreiben (1): «Kunduz»

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire

Gemälde: Van Gogh

HdS-Stammautor Ludwig Schumann gab Schreibkurse für Strafgefangene in Magdeburg. Er stieß nicht nur auf viel Talent, sondern auch auf politisches Bewusstsein. Wir werden in den nächsten Wochen einige Schreibproben aus dem Kurs veröffenlichen und denen eine Stimme geben, die sonst für die “normale” Welt draußen meist stumm bleiben. In dieser kurzen Geschichte erzählt Michael Weiß eine Episode aus dem Afghanistan-Krieg. Die Frage drängt sich auf, ob nicht manchmal ganz andere Leute hinter Gitter sitzen sollten. (Michael Weiß)

 

Wir hatten ein achtwöchiges Trainingsprogramm durchlaufen. Die Maschine nach Kabul stand in Kassel schon zum Start bereit. Wir wurden mit einem Appell verabschiedet. Dann sind wir in die Maschine eingestiegen. Als wir in Kabul ankamen, mussten wir von hier aus einhundert Kilometer zum Feldlager in Kunduz marschieren.

Die ersten Tage dort verliefen sehr ruhig. Neu war für uns, dass wir hier, gleich, ob wir im Dienst waren oder nicht, immer die Handfeuerwaffe am Mann tragen mussten. Selbst beim Schlafen lag sie griffbereit neben uns. Zwei Wochen nach der Ankunft wurden wir zu Kontrollfahrten und für Aufgaben, die Versorgung der Zivilisten betreffend, eingeteilt.

Drei Kameraden und ich wurden zu unserer ersten Kontrollfahrt eingeteilt. Wir stiegen auf das Fahrzeug und hielten angespannt die Augen offen. Hinter jeder Ecke konnte der Feind lauern. So hatten wir es von unseren Ausbildern zu hören bekommen. Außerdem kannten wir die Berichte von Soldaten zur Genüge, die auf Streife in Hinterhalte gelockt worden waren. Vor uns fuhr der Räumdienst. Er sah darauf, dass unser Weg minenfrei war. Wir kamen in einem kleinen Dorf an, stiegen vom Fahrzeug und liefen dort Streife.

Ein Kind, ein Junge von vielleicht acht Jahren, kam auf uns zu. Der Junge hielt ein Maschinengewehr in der Hand. Er hielt es auf uns gerichtet. Er rief: „Allahu akbar!“ Er machte seine Weste auf. Wir sahen den Bombengürtel. Ich hätte schießen müssen. Ich hatte Tränen in den Augen. Ich konnte es nicht. Plötzlich fiel ein Schuss. Der Junge taumelte, brach vor unseren Augen zusammen. Starb. Gott, dachte ich, Kinder sollen spielen, in die Schule gehen, behütet werden. Ein Elite- Soldat, der die Situation im Funk mitgehört hatte, war uns zu Hilfe gekommen. Er zeigte keinerlei Gefühl. Es war sein Handwerk, das er ausgeführt hatte. Afghanistan. Die Kinder mit nur einem Arm, einem Bein, die Menschen, die vor einem liegen, während ihnen die Innereien aus dem Bauch herausquellen, wo sind die Bilder davon im Fernsehen? Auf Streife fahren und nicht wissen, ob man heil wieder zurückkommt. Wie man lernt, als Erster zu schießen, weil man überleben will. Wir haben immer mit dem Schlimmsten gerechnet. Der Tod war ein ständiger Begleiter. Kunduz. Das sind Bilder, wie ich sie nie sehen wollte. Das sind Bilder, die ich nie wieder aus meinem Hirn kriege. „Allahu akbar!“ Er machte seine Weste auf. Ich sah den Bombengürtel. Ich hätte schießen müssen. Ich hatte Tränen in den Augen. Ich konnte nicht schießen. Das ist kein Handwerk für mich.

Der heilige Stolperer
Literatur aus dem Knast
Hrsg.: Ludwig Schumann
1. Auflage 2017
72 Seiten
Hardcover
9,90 EUR
ISBN 978-3-00-057407-8

Über die ISBN-Nummer ist das Buch bundesweit bestellbar, ansonsten ist es über “TalentLos! Schreibwerkstatt JVA Burg, Madel 100, 39288 Burg beziehbar. Kosten: 9,90 EUR plus 3 EUR Versandkosten. Das Geld kommt der Schreibwerkstatt zugute. Davon finanzieren wir das nächste Projekt, das Poesieheft Nr. 3 SEHT, da ist DER MENSCH.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen