Gegen die Verengung des Lebens
Thea Dorn, Schriftstellerin und Moderatorin des „Literarischen Quartetts“, hat ein überaus mutiges und hellsichtiges Buch über die Corona-Krise vorgelegt. Eine Rezension von Wilfried Nelles
Welch ein großartiges Buch! Eine ebenso kluge und philosophische wie lebensgesättigte Abrechnung mit der Corona-Politik, dem darin zum Ausdruck kommenden Zeitgeist, die „dekadente“ Verengung des Lebens in der Spätmoderne auf ein kümmerliches, kulturloses Überleben und eine radikale innere Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Sterblichkeit, geschrieben in einer Sprache, die vor Lebenssaft strotzt.
Ja, ich schwärme. Das, was man heute als Literatur feiert, ödet mich meist an. Hier und da gibt es einige Rosinen darin, aber es kommt selten vor, dass mich ein Buch begeistert. Dieses hier: „Trost“ von Thea Dorn, tut es in fast jeder Zeile. Form, Inhalt und Sprache bilden ein stimmiges Ganzes, und der Mut, mit dem Thea Dorn die öffentliche Hinrichtung als prominente Person des Kulturbetriebs riskiert (sie leitet unter anderem das einst von Marcel Reich-Ranicki ins Leben gerufene „Literarische Quartett“ im ZDF), imponiert mir.
Die Rahmenhandlung ist so simpel wie raffiniert. Die Berliner Journalistin Johanna kommt nicht über den Tod – genauer: die Art des Sterbens – ihrer Mutter hinweg, eine 84-jährige, lebensfrohe und todesverachtende Schauspieleragentin, die mitten in der Pandemie im Frühjahr 2020 nach Italien gefahren ist, sich dort mit Corona angesteckt hat, nach ihrer Rückkehr nach München ins Krankenhaus gekommen und dort einsam und, wie Johanna vermutet, elendig an der Atemmaschine gestorben ist, ohne dass ihre Tochter sie besuchen durfte. In ihrer Not schreibt Johanna Briefe an ihren früheren philosophischen Mentor Max, der zurückgezogen und ohne Internet auf einer griechischen Insel lebt. Raffiniert ist das, weil die Romanfigur Johanna ganz ungeschminkt und roh alles sagen darf, was eine Thea Dorn als Thea Dorn nur in wohlüberlegten und glattgebügelten Sätzen sagen kann, ohne aus dem Kulturbetrieb ausgeschlossen zu werden.
Max ist eine Art Zen-Meister. Seine Antworten auf die anfangs vor Selbstmitleid und Wut auf den Tod, das Leben und alles, was unser modernes Ego stört und erschüttert, nur so triefenden Briefe sind so etwas wie Koans – kurze, zunächst unverständliche Sätze wie „Bist Du bei Trost ?“ auf der Rückseite einer Postkarte, auf deren Vorderseite ein antikes Bildmotiv vage die Richtung andeutet, bei welchem Philosophen sie nach Antworten suchen soll. Obwohl das ihren heiligen Zorn zunächst noch befeuert, bewirkt ihre Hochachtung vor Max, dass Johanna sich auf eine tiefe, ungeschminkte Auseinandersetzung mit Leben und Tod, ihrer eigenen Persönlichkeit und ihrer kulturellen und beruflichen Umgebung einlässt, in der die Einsicht nach und nach den Schleier des spätmodernen Bewusstseins von ihren Augen wischt.
Thea Dorn: Trost. Briefe an Max. München 2021, 16,00 Euro.