Generation Corona
Lockdowns und Kontaktbeschränkungen trafen die Jüngeren besonders hart. Über die Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche. Über zwei Jahre lang hat die Covid-19-Pandemie das Leben der Minderjährigen hierzulande mit wenigen Unterbrechungen beherrscht, und zwar von morgens bis abends ebenso wie nachts, weil viele Kinder und Jugendliche nicht (gut) ein- oder durchschlafen konnten. Zu den Existenzsorgen armutsgefährdeter Familien gesellte sich bei ihnen nun die für sensible Zeitgenoss(inn)en besonders unangenehme Infektionsangst. Außerdem beeinträchtigten Arbeitsplatzverluste, Phasen der Kurzarbeit sowie Quarantäne- und Isolationsmaßnahmen das Familienklima. Christoph Butterwegge, Gewerkschaftsforum
Vornehmlich für kleine Kinder, die nichts über Virusinfektionen und Infektionskrankheiten wissen konnten, war das neuartige Coronavirus ein ebenso rätselhaftes wie unheimliches Phänomen, welches sie in Angst und Schrecken versetzte. Noch härter traf es Kinder mit Behinderungen, Einschränkungen und Assistenzbedarf, weil sie etwa in der Förderschule nun häufig ganz auf sich allein gestellt waren. Kinderpsychiatrien und Psychotherapeut(inn)en schlugen Alarm, weil die Verhaltensauffälligkeiten bei Minderjährigen signifikant zunahmen. Vermehrt beobachtet wurden Konzentrationsschwierigkeiten, extreme Stimmungsschwankungen, Angststörungen, depressive Verstimmungen, unkontrollierte Gefühlsausbrüche, Entwicklungsverzögerungen und Aggressionen verschiedener Art.
Alles geschlossen
Für junge Menschen im Transferleistungsbezug fiel ab Mitte März und erneut ab Mitte Dezember 2020 von heute auf morgen das seit dem 1. August 2019 im Rahmen des »Bildungs- und Teilhabepakets« (BuT) kostenfrei zur Verfügung gestellte Mittagessen weg. Aufgrund einer Ausnahmeregelung im Sozialschutz-Paket II von CDU, CSU und SPD konnte es zwar seit Ende Mai 2020 statt in Kitas, Schulen und Jugendclubs auch zu den Familien nach Hause geliefert oder von diesen abgeholt werden, was aber selten geschah, weil es Umsetzungsschwierigkeiten organisatorischer Art gab. Nur ein Bruchteil der BuT-anspruchsberechtigen Kinder erhielten beispielsweise Lunchpakete, Essenslieferungen oder Gutscheine für Lebensmittelgeschäfte, um entfallende Mahlzeiten zu kompensieren. Voraussetzung dafür war, dass vor Ort engagierte Caterer, Einrichtungs- bzw. Schulträger und Kommunalverwaltungen zusammenarbeiteten.
Jungen und Mädchen ging die geregelte Alltagsstruktur in der pandemischen Ausnahmesituation noch viel eher verloren als Erwachsenen, die sich aufgrund ihrer größeren Lebenserfahrung und Anpassungsfähigkeit leichter an einen total veränderten Tagesablauf gewöhnen konnten. Teilweise wurde durch die rigiden Schutzvorschriften und vielfältigen Beschränkungen des Privatlebens während der Pandemie geradezu verunmöglicht, was Kindheit bzw. Juvenilität heute ausmacht.
Die pandemiebedingten Einschränkungen des Privatlebens und der persönlichen Bewegungsfreiheit durch staatliche Infektionsschutzmaßnahmen trafen Jugendliche und Heranwachsende besonders hart, weil diese in aller Regel kontakt-, kommunikations- und reisefreudiger sowie erlebnishungriger sind als Erwachsene. Minderjährige halten sich daher seltener zuhause auf, treffen normalerweise mehr Freunde, Freundinnen und Bekannte, flanieren, feiern und flirten gern mal, nutzen aber auch häufiger und intensiver öffentliche Räume, die hierzulande während des wiederholten Lockdowns weitgehend geschlossen blieben. Dies galt für Jugendzentren und -clubs, Bars, Bistros, Cafés, Diskotheken, Kneipen, Restaurants, Fitnessstudios und Kinos genauso wie für Spielplätze und Sportstätten. Während der Profifußball zumindest ohne Zuschauer/innen bald wieder aufgenommen werden konnte, wurde der Amateur- und Breitensport von den zuständigen Behörden für lange Zeit unterbunden.
Je länger die Einschränkungen des Alltags dauerten, um so mehr nahm die Lebensqualität von Minderjährigen in Deutschland ab. Unter dem wiederholten Lockdown litt die Quantität, aber auch die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen. Trotz vermehrter Nachbarschaftshilfe breiteten sich Kontaktarmut, Einsamkeit und soziale Isolation aus, weil die Netzwerke von Freund(inn)en, Bekannten und Kolleg(inn)en rissen. Minderjährige, die wegen der Kontaktbeschränkungen ihre Freunde, Freundinnen und Klassenkamerad(inn)en nicht mehr treffen konnten, sich aber wegen der im ersten Lockdown aus Hygienegründen gesperrten Spielplätze und Sportanlagen selbst dort nicht mehr aufhalten konnten, klagten besonders dann unter größerer Vereinsamung, wenn sie Einzelkinder waren oder keine ungefähr gleich alten Geschwister hatten. Während des zweiten, länger andauernden Lockdowns hatten diese Minderjährigen stark unter Erlebnisarmut, Bewegungsmangel und Langeweile zu leiden.
Bleierne Zeit
Dass die Pandemie betroffenen Kindern psychisch mindestens ebenso stark zusetzte wie ihren Familien, zeigten bereits Untersuchungen aus dem Lockdown im Frühjahr 2020. Durch die Monotonie der Pandemie bedingt, erschienen Kindern und Jugendlichen die Jahre 2020 und 2021 als bleierne Zeit, in der sie wenig oder keine Entwicklungsfortschritte machen konnten. Die rund zwei Jahre dauernde Ausnahmesituation bedeutete für junge Menschen eine besondere Herausforderung. Denn für sie waren über 24 Monate (in diesem Fall der Besorgnis, der Unsicherheit und der Beschränkungen ihres Handlungsspielraums) eine sehr viel längere Zeitspanne als für Erwachsene. Gerade in der Adoleszenz wirken aufgezwungene Vereinzelung, Vereinsamung und soziale Isolation, die für junge Menschen mit dem wiederholten Lockdown bisweilen verbunden waren, deprimierend und demoralisierend, weil diese Lebensphase für die Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen und die Frage, wie selbstbewusst sie als Erwachsene auftreten können, von entscheidender Bedeutung ist.
Schul- und Kitaschließungen während des wiederholten Lockdowns haben sich zwar spürbar auf das Familienklima sowie das Wohlbefinden sämtlicher Kinder und Jugendlichen ausgewirkt, aber in unterschiedlicher Weise. Materiell privilegierte Eltern bewerteten die zusätzlich in und mit der Familie verbrachte Zeit als durchaus positiv, zumal bei ihnen meist ein geräumiges Kinderzimmer und ein großer Garten vorhanden waren.
Als weitaus problematischer schätzten Expert(inn)en die Lage in armen und armutsgefährdeten Familien ein, deren Wohnverhältnisse überwiegend beengt sind. Das gilt etwa für Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften, deren Mitglieder in einer größeren Stadt leben. Die gereizte Stimmung mancher Familienmitglieder, die zuhause »eingesperrt« waren, entlud sich in Partnerschaftskonflikten und häuslicher Gewalt. Kinder fühlten sich der Pandemie hilflos ausgeliefert, ohnmächtig und handlungsunfähig. Hatten sie schon vorher unter familiären Problemen gelitten, plagten sie nun vermehrt Zukunftssorgen. Psychosozial am meisten belastet waren jene Kinder und Jugendlichen, die ohnehin unter großem Stress standen und Ess-, Schlaf- oder Zwangsstörungen hatten. Sie wurden teilweise noch ängstlicher, schweigsamer und lustloser. Viele gerieten völlig aus dem seelischen Gleichgewicht, was sich mit dem Ende der Pandemie nicht automatisch erledigt haben dürfte.
An den für die Betroffenen ungewohnten Einschränkungen der Pandemie zerbrach so manche Kinderfreundschaft, weil sich Kleinkinder plötzlich in unterschiedlichen Gruppensettings ihrer Betreuungseinrichtung wiederfanden und nicht mehr wie gewohnt aufeinandertrafen. Manchmal trat durch diese Kontaktunterbrechung auch ein sozialer Entfremdungseffekt zwischen ihren Familien ein, und zwar insbesondere dann, wenn sie unterschiedlichen Bevölkerungsschichten angehörten und deshalb kaum inhaltliche Berührungspunkte und wenige Kontaktmöglichkeiten außerhalb des gewohnten Begegnungsraums in Schule oder Kita existierten.
Kinder brauchen nicht bloß andere Kinder, wie es immer heißt, sondern auch gemeinsame Treffpunkte, um miteinander feiern, chillen, spielen, reden, lernen, herumtollen, musizieren, tanzen und/oder Sport treiben zu können. Als sie aufgrund des mehrmaligen Lockdowns nicht wie gewohnt zur Schule, in die Kindertagesstätte oder den Hort gehen konnten, aber auch Jugendzentren geschlossen waren, fehlte Minderjährigen das für ihre Persönlichkeitsentwicklung neben der Familie wahrscheinlich Allerwichtigste. Denn die Schule ist viel mehr als eine Bildungsinstitution, nämlich ebenso wie die Kita, der Hort oder der Jugendclub auch ein Ort des sozialen Kontakts, der Freundschaften und des Austausches mit Gleichaltrigen.
»Generation kein Praktikum«
Die nichtakademische, ohnehin von Prekarisierung bedrohte Jugend litt während der Covid-19-Pandemie unter einem signifikanten Rückgang des Lehrstellenangebots in krisengeschüttelten Branchen und Betrieben. Offenbar folgte der »Generation Praktikum«, die zur Jahrtausendwende mit unbezahlten oder minderbezahlten Tätigkeiten abgespeist wurde, statt sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu erhalten, im Zeichen der Coronakrise eine »Generation kein Praktikum«, der 2020/21 weder genug Ausbildungs- noch genug Praktikumsplätze zur Verfügung standen. Deshalb machte bald die Warnung vor einer »verlorenen Generation« die Runde.
Seit der Vereinigung von BRD und DDR begannen in keinem Jahr so wenig junge Menschen eine Berufsausbildung wie 2020, denn die Zahl der neu geschlossenen Ausbildungsverträge sank um fast zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Zwar waren im Januar 2021 nur knapp ein Zehntel mehr 15- bis 24jährige als (jugend)arbeitslos registriert als im selben Monat des Vorjahres, zu vermuten ist allerdings, dass sich viele Heranwachsende nicht bei den Jobcentern gemeldet oder aus der Not eine Tugend gemacht und ihre Schullaufbahn verlängert bzw. sich einen Studienplatz gesucht hatten. Denkt man an die künftigen Berufsaussichten der jungen Leute, erhöhte sich die Ungleichheit zwischen der akademischen und der nichtakademischen Jugend dadurch weiter.
Obwohl der Bund ein Programm »Ausbildungsplätze sichern« auflegte, das es der Agentur für Arbeit ermöglichte, jenen Unternehmen, die weniger als 250 (später: 500) Beschäftigte hatten und trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten verstärkt ausbildeten, eine »Azubi-Prämie« in Höhe von maximal 3.000 Euro bzw. ab 1. Juni 2021 sogar 6.000 Euro pro Lehrstelle zu zahlen, fiel es Schulabgänger(inne)n während der Pandemie schwerer als früheren Jahrgängen, einen für sie passenden Ausbildungsplatz zu finden. 67.800 junge Menschen gingen im Jahr 2021 leer aus. Wo die Einkommen sowieso niedriger sein werden als bei akademisch Gebildeten und hochqualifizierten Fachkräften, wurde der Start ins Berufsleben dadurch zusätzlich erschwert, verzögert oder verhindert.
Studentisches Elend
Auch die akademische Jugend wurde sozial und ökonomisch stärker gespalten. Da nur zwölf Prozent der 2,8 Millionen Studierenden vor der Pandemie staatliche Unterstützung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög) erhielten und mehr als zwei Drittel von ihnen einen Nebenjob hatten, gehörten sie größtenteils zu den Krisenopfern. Studierende, die von ihren Eltern nicht unterstützt werden (können) und/oder mit ihrem Bafög-Satz nicht auskamen, verloren wegen des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020, daraus resultierender Geschäftsaufgaben und Betriebsschließungen häufig ihren Nebenjob (z. B. in der Gastronomie), der ihren Lebensunterhalt bis dahin mit gesichert hatte. Da sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld I oder II erhalten konnten, waren akuter Geldmangel und manchmal der Abbruch des Studiums die Folge, es sei denn, dass es ihnen gelang, einen Aushilfsjob im (Lebensmittel-)Einzelhandel oder bei einem Lieferdienst zu bekommen.
Wohnten notleidende Studierende nicht ohnehin dort, kehrten manche von ihnen während der Pandemie aus Kostengründen ins Elternhaus zurück. Die beliebte und preiswerte Wohnform der studentischen WG wies eine höhere Ansteckungsgefahr auf, weil man seinen Kommiliton(inn)en und deren Besucher(inne)n in der Gemeinschaftsküche schlecht aus dem den Weg gehen kann. Ihre zumeist relativ kleinen Zimmer, die Studierenden sonst hauptsächlich als Schlaf- und Ruheraum dienen, wurden angesichts der besonders lange geschlossenen Hochschulen zum permanenten Arbeitsplatz umfunktioniert. Auch war der Gang zur Lebensmitteltafel eine mögliche Alternative zur ebenfalls dichtgemachten Mensa, wo viele Studierende vorher preiswert gegessen hatten.
Wurden die Studierenden zuerst auf zinslose Kredite der Kreditanstalt für Wiederaufbau verwiesen, so konnten sie später die Überbrückungshilfe aus einem Notfallfonds des Bundes in Höhe von maximal 500 Euro erhalten. Dies war aber nur dann der Fall, wenn sie weniger als diesen Betrag auf ihrem Konto hatten. Viele der Anträge wurden abgelehnt, meistenteils mit der Begründung, dass zwar eine finanzielle Notlage bestehe, diese aber schon vor der Pandemie existiert habe.
Biographische Zäsur
Man unterschätzt meistenteils die Bedeutung des einer Alterskohorte wie den »68ern« gemeinsamen Erfahrungsschatzes für das Leben, die Einstellung und das Weltbild der betreffenden Personen. So dürfte das einschneidende Schicksal der pandemischen Ausnahmesituation, des wiederholten Lockdowns und der vielfältigen Einschränkungen des »normalen« Lebens gerade Kinder, Jugendliche und Heranwachsende stark prägen. Insofern kann man von einer »Generation Corona« sprechen, weil das Virus ihr Aufwachsen erheblich beeinträchtigt und die Pandemie als biographische Zäsur gewirkt, sie mehr als Erwachsene vorübergehend aus der Bahn geworfen und sich ihnen der Kontaktmangel als kollektive Schlüsselerfahrung möglicherweise für Jahrzehnte ins Gedächtnis gebrannt hat.
Ob die für alle Gesellschaftsmitglieder schwierige »Coronazeit« darüber hinaus ins kollektive Gedächtnis auch der übrigen Alterskohorten und damit der Bevölkerung insgesamt eingeht, dürfte im wesentlichen davon abhängen, ob die Pandemie im historischen Rückblick als nicht bloß einschneidendes, sondern Wirtschaft, Staat und Gesellschaft auch tiefgreifend veränderndes Ereignis wahrgenommen wird.
Zu befürchten war, dass Ausgangsbeschränkungen, die Verringerung sozialer Kontakte, die Einführung sozialer Abstandsformationen, die Maskenpflicht, die Verbreitung digitaler Formate und die Kontrolle informeller sozialer Netzwerke die Identitätsentwicklung von Kindern und Jugendlichen erheblich behinderten. Schließlich enthielt ihnen die »neue Coronawelt« eine Vielzahl wichtiger Erfahrungen vor, ohne die eine optimale Entfaltung ihrer Persönlichkeit kaum gelingt, weil sie für ihre Subjektwerdung auf interpersonelle Beziehungen fundamental angewiesen sind. Erst später dürfte sich zeigen, welche Folgeschäden der wiederholte Lockdown für die Entwicklung von Minderjährigen hat.
Gleichwohl widerspricht der Marburger Erziehungswissenschaftler Benno Hafeneger der These von einer verlorenen Coronageneration, und zwar mit der Begründung, dass es die Jugend als homogene Gruppe gar nicht gebe, sondern höchstens »Jugenden« im Plural, wobei er altersbezogene, soziale und kulturelle Differenzierungen zu erkennen glaubt. Dazu zählen seiner Meinung nach die unterschiedlichen sozialen Lebens- und Wohnbedingungen, häuslichen und materiellen Ressourcen sowie die Zeitbudgets von Erwachsenen mit mehr oder weniger schützenden Umgebungen und sicheren Beziehungen.
Dieter Dohmen und Klaus Hurrelmann vertreten die Auffassung, dass der Begriff »Generation Corona« immer dann vorschnell benutzt werde, wenn man irgendeine ungünstige Entwicklung kritisieren wolle. Die beiden Berliner Bildungsforscher fassen das »geflügelte Schlagwort« sehr viel enger und verwenden den Terminus nur, wenn es um grundlegendere und nachhaltige strukturelle Einschränkungen bzw. Verschlechterungen der Zukunftschancen einer größeren Gruppe von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht, die sich ursächlich auf die Gegebenheiten während der Covid-19-Pandemie zurückführen lassen. Dohmen und Hurrelmann weisen auf die Verstärkung der im Bildungssystem ohnehin existierenden sozialen Segregation hin und leiten daraus eine unterschiedlich starke Belastung von Schüler(inne)n aus mehr und solchen aus weniger begüterten Familien ab.
Kinder ohne Schutz …
Je schwächer die Finanzkraft, der soziale Status und die physische bzw. psychische Fitness eines Menschen war, um so stärker traf ihn in der Regel die Coronakrise. Ähnliches gilt für die residentielle oder sozialräumliche Segregation, unter der Kinder und Jugendliche schon vor der Pandemie stärker litten als Erwachsene. Denn in einem Haus mit großem Garten ließ sich der Lockdown natürlich sehr viel leichter ertragen und die Rückkehr zum Regelbetrieb der Schulen und Kindertagesstätten viel entspannter abwarten, als dies einer Familie in zwei, drei Zimmern am Stadtrand oder in einer Mehrbettsammelunterkunft für Flüchtlinge und Wohnungslose möglich war. Vermutlich wurden in den Gärten von Eigenheimen wohlhabender Mittelschichtfamilien nie mehr Kindertrampolins, Klettergerüste, Planschbecken und Sandkästen aufgestellt bzw. eingerichtet als während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020.
Für die Kinder aus sozial benachteiligten oder armutsgefährdeten Familien, denen man zu wenig Aufmerksamkeit schenkte, war die im Lockdown verhängte Kontaktsperre gegenüber Erzieherinnen und Lehrern, ihren nach oder neben den Eltern wichtigsten erwachsenen Bezugspersonen, ein traumatisches Erlebnis, das in Einzelfällen panikartige Reaktionen auslöste. Oftmals fiel solchen Kindern die Decke auf den Kopf, gab es im häuslichen Bereich doch noch seltener als sonst Anregungen und Abwechslungen.
Selbst wenn die Pandemie für immer überwunden sein sollte, hat sie zu einer Krise der Kindheit geführt und Kinder der Krise hinterlassen. Das gilt besonders für die etwa drei Millionen Kinder im Berechtigtenkreis des Bildungs- und Teilhabepakets, denen ihr kostenfreies Mittagessen in der Bildungs- oder Betreuungseinrichtung von heute auf morgen zunächst ersatzlos gestrichen wurde. Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe wurden vielfach eingestellt oder reduziert. Nur sporadisch oder gar nicht mehr erreichbar waren seit Pandemiebeginn die Angebote der offenen Jugend-, Jugendsozial- und Jugendbildungsarbeit.
Kinderrechte und Kinderschutz wurden in der Pandemie entweder vernachlässigt oder sogar ausgehebelt. Was in dieser Ausnahmesituation für Erwachsene vielleicht ein akuter Geld- und Zeitmangel war, erlebten Kinder in einer zu kleinen Wohnung hauptsächlich als Bewegungsmangel. Wenn die Familie auf engstem Raum zusammenlebte, stieg während des wiederholten Lockdowns oder einer Quarantäne- bzw. Isolationsmaßnahme das Risiko für Kinder und Jugendliche, Opfer gewaltsamer Übergriffe und sexuellen Missbrauchs durch ihre (Stief-)Väter zu werden. Da die Betreuungseinrichtungen, Kontaktstellen und Beratungsbüros vielfach geschlossen waren, blieben Vernachlässigung und häusliche Gewalt eher unentdeckt, weshalb von einer höheren Dunkelziffer auszugehen ist.
Angebote der Kinder- und Jugendhilfe wie etwa Hilfen zur Erziehung in den Familien wurden vielfach eingestellt oder reduziert. Nur sporadisch oder gar nicht mehr erreichbar waren seit Pandemiebeginn die Angebote der offenen Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit. Einen höheren Beratungsbedarf hatten bereits während des ersten Lockdowns hauptsächlich in finanzschwachen Familien lebende Kinder und Jugendliche. Mit den (armen) Kindern und Jugendlichen wurde auch die Kinder- und Jugendhilfe als wichtige Anlaufstation von der Pandemie geschwächt und vieler Handlungsmöglichkeiten im Hinblick auf Beratung, Behandlung und Begleitung ihrer Adressat(inn)en beraubt.
… und ohne Rechte
Den öffentlichen Diskurs, der noch kurz zuvor maßgeblich durch die phantasievollen Aktionen der »Fridays for Future«-Bewegung, ihr Engagement für einen wirksamen Klimaschutz und ihre Forderung nach einem Systemwechsel (»System change, not climate change!«) geprägt worden war, vermochten junge Menschen während der Pandemie nicht zuletzt deshalb kaum noch zu beeinflussen, weil ihnen die persönlichen Treffen mit Gleichgesinnten fehlten. Beschlüsse wie die Entscheidung der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident(inn)en, große Bereiche des gesellschaftlichen Lebens für längere Zeit stillzulegen, wurden ohne vorherige Anhörung von Kindern und Jugendlichen gefasst. Dass diese mit am stärksten von den Schließungen und Kontaktbeschränkungen betroffen sein würden, hätten alle politisch Verantwortlichen vorher wissen müssen.
Alle gesundheits-, wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen, die Parlament und Regierung während der Covid-19-Pandemie ergriffen, wurden über die Köpfe von Kindern und Jugendlichen hinweg beschlossen. Obwohl sich die Bundesrepublik durch ihre Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat, Kinder in allen sie betreffenden Fragen anzuhören, wurden sie in die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse zunächst nicht einbezogen.
Erst als Jugendverbände und erwachsene Kritiker/innen öffentlich monierten, dass man die jungen Menschen weder konsultiert noch rechtzeitig darüber informiert hatte, was geschehen sollte, eröffnete Franziska Giffey, damals Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, am 2. Februar 2021 einen digitalen Dialog mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Gut einen Monat später lud Giffey zu einem »Jugend-Hearing« ein, bei dem sie mit Betroffenen und deren Interessenvertretungen, Fachorganisationen der Jugendhilfe und Wissenschaftler(inne)n über das Thema »Corona, Jugend und die Folgen« diskutierte.
Am 19. Mai 2021 trat Giffey wegen anhaltender Plagiatsvorwürfe gegenüber ihrer Dissertation und wegen der offenbar bevorstehenden Aberkennung ihres Doktortitels durch die FU Berlin zurück. Statt sofort die Nachfolge in diesem enorm wichtigen Ressort zu benennen, ließ es die SPD kommissarisch mit von der damaligen Bundesjustizministerin Christine Lambrecht übernehmen. In der pandemischen Ausnahmesituation das für die Familien, Senior(inn)en, Frauen sowie Kinder und Jugendlichen zuständige Ressort länger als ein halbes Jahr unbesetzt zu lassen, bildete ein fatales Signal, wie gering der Stellenwert dieses Personenkreises für die Regierungsparteien war. Bisher deutet wenig darauf hin, dass sich daran mit der Regierungsübernahme durch SPD, Bündnisgrüne und FDP im Dezember 2021 etwas geändert hat.
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Am 18. Mai 2022 erschien Christoph Butterwegges neues Buch „Die polarisierende Pandemie – Deutschland nach Corona“. Weinheim: Beltz juventa, 250 S., 19,95 Euro
(„Die Tagesschau als Kampagnen-Medium der Aufrusüng“, Artikel vom 27.Mai 2022) die Technik nennt sich „B sagen um A zu transportieren“. Auf das was Herr Butterwegge hier schreibt, an vorgeblicher, vordergründiger „Systemkritik“, könnte man diese Technik möglicherweise auch anwenden, dieser Gedanke kam mir gerade. Aber viellleicht tue ich Herrn Butterwegge auch Unrecht, denn ich habe seine Ausführungen nur auszugsweise, nicht vollständig gelesen.-