Gestern im Paradies

 In FEATURED, Monika Herz

Neben der Knappenkapelle bei Peißenberg sind Brotzeitbänke. Man schaut ins Tal mit herrlichem Bergpanorama

Zu viele schlechte Nachrichten auf HdS? Hier mal etwas wirklich Schönes und Ermutigendes. Es sind oft die kleinen Begebenheiten und Begegnungen, die uns helfen, nicht an der Menschheit zu verzweifeln. Und gerade “die Jungen” sind oft für eine positive Überraschung gut. Monika Herz und Gatte Roland Rottenfußer brauchten nur eine halbe Stunde quasi vor ihrer Haustür spaziergehen, da tat sich ihnen ein kleines Paradies auf. Blumen? Bäume? Bergblick? Sonnenuntergang? Das auch. Vor allem zeigt diese schöne Erfahrung aber (frei nach Sarte): “Das Paradies sind die anderen”. (Monika Herz)

Während in Hamburg der Gipfel tobt, geschieht anderswo das wirkliche, das wunderbare Leben. Nach unserem Abendessen (Sojawürste mit Kartoffel-Gurken-Salat und Senf), der Magen schwer, beschließen wir, einen kleinen Spaziergang rund um den Guggenberg zu machen. Auf dem Weg stellen wir Vermutungen an, warum eigentlich in Bayern nirgendwo Obstbäume auf öffentlichen Plätzen gepflanzt werden. In Ungarn hatten uns bei unseren Abendwanderungen stets übervolle Kirschbäume zum Verweilen eingeladen. Täglich hatten wir so unsere Nachspeise umsonst und draußen bekommen.

Ich erzähle Roland von einer kleinen Diskussion mit dem Hausmeister unserer Wohnanlage. Im Gemeinschafts-Garten sollten ein paar Bäumchen gepflanzt werden. Ich plädierte für Apfelbäume. Und Zwetschgen. Zum Beispiel. „Das könnte zu Streit führen. Wer darf die Äpfel ernten? Es könnte jemand kommen und alles wegessen…“ Dass das nicht geschehen wird, glaubte mir der Hausmeister nicht. Also wurde Flieder gepflanzt. Der ist zwar auch hübsch, aber nur fürs Auge, nicht für den Gaumen. „Warum pflanzt eigentlich die Gemeinde keine Obstbäume an den öffentlichen Wegen?“, so fragte ich in den blauen Himmel hinein. Ist die Angst, jemand könnte Äpfel vom Gemeindebaum essen und ein Anderer könnte ihm die Äpfel nicht gönnen, wirklich so groß? Ist die Angst überhaupt berechtigt?

Kirschbaum

Vorbei an der alten Esche. Auf dem Ruhebänkchen vor dem Baum steht einsam eine Schale mit Johannisbeeren herum. Wir wundern uns. Soll das eine Einladung sein, uns einfach zu bedienen? Wir wagen es nicht. Man nimmt nicht einfach etwas, das einem nicht gehört. Wir haben im eigenen Garten schließlich eigene Johannisbeeren. Das Bild mit der Schale voller Johannisbeeren vor dem kleinen Bänkchen unter der uralten Esche bleibt noch eine Weile in meinem Gedächtnis. Wir bewundern die zahllosen „Mädesüß“ – nächstes Mal werden wir zum Ernten kommen. Mädesüß wächst massenhaft und gibt einen wohlschmeckender Tee. Kräuter darf man sammeln. Die sind ein Geschenk der Natur. Das weiß man seit Kindertagen. Aber eine absichtlich oder unabsichtlich vergessene Schale voller Johannisbeeren? Oder ein (in der Zukunft) von der Gemeinde gepflanzter Apfelbaum? Da weiß man nicht so genau, wessen Eigentum das ist – und ob man sich nicht etwa Streit einhandelt.

Wir gehen weiter, vorbei am Kohlenweiher, hinauf zum Guggenberg. „Schau, wie schön die Welt ist!“ Wir bleiben stehen und schauen. Am Horizont die Berge, davor Unmengen Wälder. Hin und wieder ein Kirchturm, um den sich ein paar Häuser ducken. Man glaubt kaum, dass Bayern dicht besiedelt ist. Darüber der berühmte weiß-blaue Himmel, der Mond ist auch schon aufgegangen. Am Gipfel angekommen werden wir angesprochen. Vier Jugendliche fragen uns freundlich, ob wir ein Bier möchten und halten uns eine Flasche Tegernseer Helles entgegen. Nein, lieber nicht. Oder? Die Jungs locken: „Sie können das Bier gerne mitnehmen. Bitte nehmen Sie es doch!“ Neugierig treten wir näher. „Sie sind schon die Fünften! Alle gehen weiter. Niemand will ein Bier von uns annehmen. Nicht einmal geschenkt. Nicht einmal zum Mitnehmen. Sie müssen sich nicht zu uns setzen, wenn Sie nicht mögen…“, so reden die jungen Männer. „Aber wir haben nicht mal Geld dabei…“, versuchen wir, Widerstand zu leisten. „Nein, kein Geld – einfach bedingungslos als Geschenk…“.

Bevor wir uns dann doch setzen, reichen uns die Jungs ihre Hände, nennen ihre Namen: Tim, Felix, Martin und Alexander. Wir schütteln Hände und sind mitten drin. Eine Bierflasche wird für uns geöffnet, mit dem Feuerzeug. Wir werden nach unserer Lieblingsmusik aus unserer eigenen Jugend gefragt. Auf einer Handyliste darf ich wählen. Ich entscheide mich für

Lou Reed: Take a walk on the wild side. Felix grinst wissend. Als wäre er dabei gewesen, damals.

Wir reden über Gott und die Welt. Über das Leben und den Tod. Tatsächlich. Die Jungs interessieren sich wirklich für uns, unsere Meinungen und unsere Zeit. Über die alten Filme, dass die angeblich besser waren… (zum Beispiel „Butch Cassidy und Sundance Kid”). Immer wieder äußern sie ihr Unverständnis darüber, dass keiner der Passanten auf ihr höfliches Angebot eingegangen ist. Wir vermuten miteinander, dass Erziehung, Gewöhnung und auch Angst eine Rolle spielen könnten. Es gibt eben Dinge, die „tut man nicht“. Die Buben bedanken sich mehrmals dafür, dass wir ihr Bier angenommen haben und dass wir keine Angst vor ihnen haben. Wir erfahren im Lauf der Zeit, dass sie gerade ihren Abschluss an der Realschule gemacht haben, dass sie 16 oder 17 Jahre jung sind, dass sie dankbar sind, weil es ihnen so gut geht. Dass sie Werte haben. Dass sie alle Leute freundlich grüßen, aber selten zurück gegrüßt werden. Wir gehen zum gegenseitigen „Du“ über, schütteln wieder Hände und trinken einen Schluck Bier.

Tiefgründige Fragen machen die Runde: „Mal ganz ehrlich, glaubt ihr eigentlich an Gott?“ oder „Was ist das, ein Gewissen?“ oder „Was ist Liebe?“. Einer der Jungs sagt: „Ich habe jetzt eine Freundin. Ich liebe sie so sehr, dass ich mein Leben und alles, meine Karriere oder was auch immer, für sie geben würde, wenn es ihr hilft. Sogar wenn sie mit einem anderen Mann geht, wäre ich zufrieden, wenn sie mit ihm glücklicher wäre.“ Während er so spricht, macht seine Hand Bewegungen, die vom Herzen hinaus in die Welt deuten. Ich staune. Ich murmle etwas wie: „Möge dir diese Einstellung erhalten bleiben.“

Mädesüß

Martin meint, überhaupt wären ihm „die Anderen“ mindestens genauso wichtig, wie er sich selbst wichtig ist. Vielleicht sogar wichtiger. Die Gelegenheit für mich, diese Haltung als die Haltung eines Bodhisattwa zu preisen. Bodhi heißt „Erleuchtung“ und sattwa heißt „Wesen“. Ein Wesen auf dem Weg zur Erleuchtung nach buddhistischer Anschauung. Martin meint, der Buddhismus habe die besseren Antworten auf die Fragen nach all den „Warums“ als das Christentum. Er wolle sich noch mehr damit beschäftigen. Später einmal. Heute abend sei es einfach schön, hier miteinander zu sitzen, zu reden, die Berge und den Mond und die Wolken anzuschauen.

Es sind noch drei Zigaretten in der Schachtel. Vier Raucher und drei Zigaretten. Das macht nichts. Drei Zigaretten reichen locker für vier Raucher. Die Zigaretten kreisen wie das Bier.

Da geht man mal kurz vor die Tür und findet sich mitten im Paradies wieder. Nicht nur wegen der Landschaft. Und nicht nur wegen unserem Wohlstand. Sondern vor allem wegen dieser jungen Menschen. Was für eine Freude.

Zwischendurch hechelt ein weiterer junger Mann mit einem schweren Rucksack bepackt den Weg herauf. Der Schweiß rinnt ihm über die Stirn. Er bleibt bei uns stehen und keucht eine Weile. Auch ihm wird ein Bier angeboten, er trinkt lieber Wasser und holt eine Flasche aus seinem Rucksack. Zuerst aber wird ihm mehrfach großer Respekt ausgesprochen. 17 Kilo schleppt er im Rucksack. Training. Wir reden ein bisschen. Er ist Gebirgsjäger. Aber wegen dem Sport brauche man nicht zur Bundeswehr gehen, mehr als 90% würden auch dort nur gelangweilt in ihren Stuben sitzen. Der Gebirgsjäger schultert seinen Rucksack und rennt weiter.

Es dämmert. Eine letzte Begegnung. Es ist Sabine mit ihrem Schützling Mohammed. „Setz dich doch zu uns!“ Zuerst lehnt sie ab. „Wir gehen auf die andere Bank.“ Aber Sabine und ich kennen uns gut, also ist ihr Widerstand gleich gebrochen. Wir erfahren, dass Mohammed aus Afghanistan vor dem Krieg geflüchtet ist, seit drei Jahren hier ist und nun eine Lehrstelle genehmigt bekommen hat. Als Maler und Lackierer. Es muss ein langer Weg gewesen sein. Nicht nur von Afghanistan bis Deutschland. Sondern auch bis zur Genehmigung, hier etwas lernen und arbeiten zu dürfen. Aber auch er ist nicht sicher vor der Abschiebung. Sabine ist nicht nur seine Deutsch-Lehrerin. Sie ist viel mehr als das. Freundin, Unterstützerin, „Frau für alles“. Auch ihr sind „die Anderen“ wichtig. Vielleicht sogar wichtiger als sie sich selbst ist.

Was es für Menschen gibt! Was für ein Glück! Was für ein Abend! Was für ein Geschenk! Gestern im Paradies auf dem Guggenberg.
Die Mücken werden allmählich allzu angriffslustig. Wir gehen. Allgemeiner Aufbruch. Händeschütteln. Viel gegenseitiges Dankeschön.

Wir tauschen keine Adressen. So werden die jungen Leute diesen kleinen Artikel auf HdS wohl eher nicht zu Gesicht kriegen.
Ob die Lokalpresse meinen Artikel veröffentlichen wird, bezweifle ich. Aber versuchen könnte ich es. Nach der fünften Ablehnung kommt vielleicht doch eine Zusage…

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