Gorbatschow wird 90

 In FEATURED, Politik

Foto: Michael Schilling, Lizenz Creative Commons 

Erinnern Sie sich noch? Damals kam der Wandel aus dem Zentrum der Macht in einem Land, das man aus westlicher Sicht lange für das Herz der Finsternis hielt. Heute verschwimmen diese Unterschiede. In Europa und den USA ist es sehr finster geworden. Es bräuchte Glasnost für die ganze Welt, sagt der Autor. Und es bräuchte neue Politiker, die sich eher an den Alten wie Michael Gorbatschow orientieren – die nicht auf’s neue den ganzen Aufrüstungswahn befeuern, den Kalten Krieg der Prä-Gorbatschow-Ära aufwärmen und dabei mit dem Leben von Millionen Menschen zündeln. Wolf Schneider, www.connection.de

 

Am 2. März 2021, wurde Michail Gorbatschow 90 Jahre alt. 1995 habe ich ihn zusammen mit seiner Frau Raissa auf dem State of the World Forum in San Francisco getroffen und habe dort von Raissa die Zusage bekommen, sie interviewen zu dürfen.

Das war sechs Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges und fünf Jahre vor dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Zwei der Gründer des Esalen-Instituts hatten diese Konferenz initiiert, sie lief unter dem Vorsitz von Michael Gorbatschow und war beflügelt von großem Optimismus. Wir waren insgesamt etwa tausend Optimisten aus allen Bereichen der Gesellschaft, die hofften, auf diese Weise Einfluss nehmen zu können auf die Zivilisation des 21. Jahrhundert, um sie zu einer friedlicheren zu machen als das zurückliegende 20. Jahrhundert es war.

Wir brauchen eine globale Glasnost

Immerhin nahmen Koryphäen wie Thich Nhat Hanh, John Naisbitt (der Autor des Weltbestsellers Megatrends), Ted Turner (der Gründer von CNN), Deepak Chopra, Jane Goodall und Tony Robbins (u.a. Coach von Bill Clinton) und World Leaders wie Thabo Mbeki (der Vize von Nelson Mandela), George Bush und Margaret Thatcher daran teil. Ich sprach mit Tony Robbins, Fridjof Capra, Stan Grof und Michail Gorbatschow. Ich interviewte Jane Goodall und Kurt Biedenkopf. Das Interview mit Raissa kam aufgrund äußerer Umstände leider nicht zustande.

An alles das erinnerte mich der Geburtstagsgruß von Franz Alt auf sonnenseite.com, wo er schreibt: »Wir können und müssen von Michail Gorbatschow lernen. Heute brauchen wir eine globale Glasnost und eine globale Perestroika. Und keine Atombomben.«

Weise alte Männer

Franz Alt (82 Jahre) macht Bücher zusammen mit Michail Gorbatschow (jetzt 90) und dem Dalai Lama (84), zwei ebenfalls (weisen?) alten Männern, von denen man inzwischen nicht mehr viel hört. Gorbatschow scheint entmutigt – wenn man sich seine Rezeption in Russland ansieht, hat er allen Grund dazu. Der Dalai Lama hat sich 2011 aus seiner politischen Rolle zurückgezogen; ob seine Nachfolger so friedlich bleiben wie er, steht in Frage. Alle drei dieser alten Männer geben nicht auf, obwohl sie allen Grund dazu hätten, ebenso wie Nelson Mandela, der 2013 im Alter von 95 Jahren gestorben ist und dessen Nach-Apartheit-Südafrika nicht so wurde wie in seiner großartigen Vision. Wo sind die Jungen? Und wo sind die Frauen?

Schon damals wollte »der Mainstream« solche Veranstaltungen wie das State of The World Forum (1995 war das erste) nicht zur Kenntnis nehmen. Als ich nach der Rückkehr von dieser Konferenz in Deutschland meinen ausführlichen Bericht, zusammen mit eigenen Fotos von etlichen der Koryphäen, der SZ, ZEIT und dem SPIEGEL anbot, erhielt ich auf mein Angebot nicht einmal eine Antwort. Keine Zusage, keine Ablehnung, nichts. Nur Stillschweigen.

Keines der drei sogenannten seriösen Medien Deutschlands hatte einen Berichterstatter vor Ort. Der Spiegel erwähnte in einer Kurzmeldung das Gespräch zwischen Margaret Thatcher und George Bush senior, das an einem anderen Ort in San Francisco stattfand, nicht in dem Hotel, wo das State of the World Forum tagte. Offenbar war es auch dem SPIEGEL nicht wert, den Menschen zu interviewen, der quasi eigenhändig den Kalten Krieg beendet hatte, oder einen Korrespondenten zu der Konferenz unter seinem Vorsitz zu schicken, welche die Atomwaffen abschaffen und den Ökozid verhindern wollte. Sie hätten auch meinen Bericht haben können, ebenso wie SZ und ZEIT. Und auch der Tagesschau und dem ZDF heute Journal waren andere Themen wichtiger.

»Seriöse« Medien?

Wenn heute über den Mainstream als Bollwerk gegen alternative, auch kluge alternative Bewegungen, gesprochen wird, muss ich oft an die Situation von damals denken. Ja, es gibt »irre« unter den »Alternativen«. Es ist nicht schwer, sich ein paar dieser Irren raus zu picken, wenn sie etwa mit einer Reichsflagge in der Hand die Treppen zum Reichstag hochstürmen. Aber warum pickt man sich nicht die Klugen unter den Alternativen heraus? Diejenigen, die wirklich lebbare Alternativen zu den düstersten der vorherrschenden Zeitströmungen bieten. Es gibt sie, und es wäre auch heute die Aufgabe der Medien, sich denen zu widmen. Vor allem die Medien, die sich so gerne »seriös« nennen lassen, meine ich hier. Seriosität im Sinne von Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, das ist ja nichts Schlechtes. Humorlosigkeit ist mit diesem Begriff hier nicht gemeint.

Frauen an die Macht

Der Frauenanteil unter den Spitzenpolitikern ist seit 1989/95 nur wenig gestiegen. Unter den großen Weltfirmen sogar noch weniger. Laut catalyst.org betrug der Frauenanteil unter den CEOs der großen Firmen 2019 nur 17%. Auch, wie sehr Beziehungen für die Einzelnen eine Rolle spielen, wird durchweg unterschätzt. Das können Beziehungen in Netzwerken sein – Vernetzung muss ja nicht immer Verfilzung bedeuten. Und es können Paarbeziehungen sein, wie die zwischen Michail und Raissa Gorbatschow.

Raissa Gorbatschowa

1996 fragte Franz Alt Gorbatschow in einem ARD-Interview, woher er die Kraft nähme für seine umstrittenen Reformen und nennt seine Antwort: »Lachend deutet er auf seine Frau, die hinter der Kamera stand. ‚Sie ist die Kraft‘, sagte er.«

Das war auch für mich spürbar, als ich die beiden 1995 in San Francisco traf. Gorbatschow war ein Beziehungsmensch. Auch deshalb wollte ich damals Raissa interviewen, nicht ihn. Ich wollte die Frau befragen, die hinter dem Mann stand, der 1989 den Kalten Krieg beendet hatte und dadurch die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte, um zu erfahren, wie sehr die Beziehung der beiden Michail beeinflusst hatte. Keines der drei genannten »seriösen« Medien interessierte sich dafür.

Die Macht von Beziehungen

Diese Beziehungsaffinität oder Bezogenheit war es wohl auch, was Michail Gorbatschow, den damals trotz Glasnost und Perestroika unstürzbar mächtigsten Mann an der Spitze der Weltmacht Sowjetunion, befähigte, zu sehen, wie sehr die beiden mit Atomwaffen bis an die Zähne bewaffneten Weltmächte einander bedingten und jeder die friedliche Gesinnung des Gegners für den eigenen Frieden und Wohlstand brauchte.

Der NATO fehlte diese Gesinnung, damals und in den Jahren danach bis heute. Und so ruft NATO-Generalsekretär Stoltenberg heute die NATO-Länder wieder streng dazu auf, ihre Militäretats zu erhöhen. Unsere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer befürwortet das, wie auch schon ihre Vorgängerin Ursula von der Leyen. Es hilft eben nicht immer, Frauen an die Spitze zu setzen, um Krieg zu vermeiden. Das hat auch Margaret Thatcher schon bewiesen, die 1982 Großbritanniens Falklandkrieg gegen Argentinien führte.

Anzeigen von 3 Kommentaren
  • Peter+Boettel
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    Die derzeitige Konfrontation der EU (unter massiver Anregung durch den deutschen Außenminister) mit ständig neuen Sanktionen wegen eines Kritikers, der zudem mit rassistischen Sprüchen aufgefallen ist, steht in totalem Gegensatz zu der Politik sowohl von Willy Brandt und Egon Bahr wie auch von Michail Gorbatschow.
  • Ulrike Spurgat
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    Gorbatschow ist ein Verräter und wird in großen Teilen des heutigen Rußlands genauso gesehen.

    Gelobt vom Westen, dass mir die Galle hoch kommt…und Rußland lag am Boden.

    Vielleicht schreibe ich noch differenziert dazu….,

    Man kann doch heute sehr deutlich erkennen, dass es nie um die friedliche Koexistenz ging. Es ging immer darum die Sowjetunion zu vernichten !

    Die Russen die immer die Prügel beziehen sind friedlich aus der DDR abgezogen, während die AMIS heute noch hier rum lungern und weitere Kriegseinsätze befördern. Siehe Ramstein !

    Ausgerechnet die USA die größten Kriegsverbrecher und Mörder aller Zeiten stehen für Frieden ? Die NATO ist das kriegerischste Militär Bündnis. 195o gegründet….Der Warschauer Pakt zog erst fünf Jahre später nach…

    Ich lach mich schlapp…Die Bodenschätze an den Reichtum Rußlands daran wollten und wollen sie bis heute. Und Jelzin der besoffen Tanz Bär hat dem Kapital das flächengrößte Land der Erde mit seinen Elf Zeit Zonen zum Fraß vorgeworfen. Pfui Teufel !

    Seine Anti Alkoholkampagne war ein Desaster…. Das war so als ab man den Franzosen den Wein verbieten würde,..

    Wer vom Feind gelobt wird muss sich die Frage gefallen lassen, was er denn wohl falsch gemacht hat.

  • Susanne Alpers
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    Sehr geehrter Herr Schneider,

    in Ihrem lesenswerten Beitrag “Gorbatschow wird 90” beschreiben Sie anschaulich das umfassende Desinteresse der klassischen kommerziellen Medien an einem Interview bzw. näheren Informationen zu Michael Gorbatow und seiner Frau Raissa Gorbatschowa während des State of The World Forums 1995. Sie schreiben: “Keines der drei sogenannten seriösen Medien Deutschlands hatte einen Berichterstatter vor Ort” und dass Sie auf Ihr Angebot einer Veröffentlichung ihres ausführlichen Berichts dazu keinerlei Reaktionen von SZ, ZEIT und dem SPIEGEL erhielten.

    Vielen engagierten Menschen ergeht es vergleichbar, wenn sie auf Prozesse hinweisen und Informationen anbieten, die gerade nicht erwünscht sind. Ihre Rückmeldung hat mich auf meine eigenen Erfahrungen im Herbst 2015 an der syrischen und irakischen Grenze zur Türkei erinnert, als ich im Zeitraum 2014 -16 deutsche Spendengelder an die vertriebenen Shengal-Jesidinnen und ihre Familien in der Südosttürkei überbrachte und ab 2015 unmittelbar und mehrfach Zeugin der dort statt findenden militärischen Konflikte zwischen der PKK und dem türkischen Militär bzw. ihrer verbündeten islamistischen Gruppierungen wurde. Ich habe die Konflikte, in deren Folge Zivilisten vor Ort ihr Leben und viele Familien all ihr Hab und Gut verloren hatten, bezeugt und durch Photos und Gespräche in Nusaybin und Idil dokumentiert. Auch die Stationierung türkischer Sondereinheiten im grossen Camp bei Nusaybin -direkt vor den Augen der geflüchteten Jesiden- habe ich bezeugen können. Es war schwierig und riskant, das Material über die Zerstörungen und Vertreibungen in und um Nusaybin durch die allgegenwärtigen militärischen Kontrollen zu bringen.
    Zurück in Frankfurt (Okt. 2015) habe ich das Material mehreren Medien angeboten, darunter der linken Taz (Berlin, überregional) sowie regional der Frankfurter Rundschau, der Frankfurter Neuen Presse und dem Hessischen Rundfunk, die ich persönlich kontaktiert hatte. Alle Medien lehnten nicht nur die Veröffentlichung meiner Informationen ab, sondern zeigten generell keinerlei Interesse das Thema auf zu greifen – und das während heftiger Konflikte in der Region. Ich war nicht gross verwundert, dass sich keiner auf mein Material gestürzt hatte (ich bin keine Journalistin), aber dass überhaupt nicht oder lediglich in beiläufigen Fünfzeilern auf Seite 7 eine Kurznotiz veröffentlicht wurde, hatte mich erheblich verwundert ebenso wie die Begründung. Es gab nur eine Doppel-Begründung und nicht vier verschiedene, obwohl die vier angefragten Medien sehr unterschiedliche Zielgruppen ansprechen sollten. Die Begründung lautete immer gleich: “wir haben unseren Journalisten in Istanbul, der uns schon informieren wird, sofern Relevantes geschieht” und “wir haben derzeit keine Kazazität für das Thema aufgrund der Flüchtlingskrise”.
    Im November reiste dann Angela Merkel nach Istanbul und präsentierte sich mit Erdogan auf goldenen Sesseln- kurz vor den dort wiederholten Wahlen (bei der ersten regulären Wahl Anfang Juni 2015 hatte die linke HDP 14% der Stimmen erhalten und Erdogans Pläne einer Alleinherrschaft vorerst ausgebremst). Nach dem Besuch von Frau Merkel waren auch die Details zum Flüchtlingsdeal zwischen der Türkei und Europa verbindlich vereinbart worden, nach dem die Türkei gegen Geld die Geflüchteten aus dem Nahen Osten behalten und versorgen sollte. Nach den Wahlen in der Türkei und dem erfolgreichen Flüchtlingsdeal dauerte es nur wenige Wochen und in vielen deutschen Medien wurde -zunehmend ausführlicher- über die Lage im türkischen Südosten berichtet  und das in einem Duktus, als ob die Kämpfe gerade erst ausgebrochen wären. Dabei war die Lage bereits Monate zuvor massiv eskaliert.

    Ich gehe davon aus, dass derartige Diskrepanzen zwischen reellen Vorgängen und dem Ausblenden der klassischen Medien -sei es nun aus politischen und/oder aus kommerziellen Beweggründen- häufig geschehen und wir darauf erst aufmerksam werden, wenn wir selbst unmittelbar involviert sind. Die einseitige Berichterstattung über die Situation mit Corona ist da nur ein weiteres trauriges Beispiel, wie auch die lückenhafte Berichterstattung über die Konflikte in Nagorny-Karabak und aktuell in Tigray (Nord-Äthiopien), die mit neuester importierter Drohnentechnologie ausgetragen werden. Einzig die Intervalle werden kürzer, was mich beunruhigt.

    Ich möchte Ihnen an dieser Stelle danken für Ihr kritisches und interessantes Essay und grüsse Sie ganz herzlich,
    Susanne Alpers

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