Grünes Kriegsprogramm

 In FEATURED, Friedenspolitik

„Sicherheitspolitik/Außenpolitik ist immer Interessenpolitik zur Wahrung und Unterstützung wesentlicher politischer Ziele der herrschenden Politik. Dies ist im kapitalistischen Deutschland nun einmal die politische und wenn notwendig auch militärische Absicherung der langfristig weltweiten Profitinteressen. Das Grundsatzdokument der Grünen ist damit auch ein die aktuellen politischen Herrschaftsstrukturen der globalen Ungerechtigkeit und Ausbeutung verfestigendes Dokument und legitimiert letztendlich die Absicherung kapitalistischer Profitinteressen durch Krieg.“ Offener Brief an die Mitglieder und Freunde der Grünen zu den friedenspolitischen Positionen im neuen Grundsatzdokument der Partei. Von Reiner Braun und Werner Ruf

Im November 2020 verabschiedeten die Grünen auf einem Onlineparteitag ein neues Grundsatzprogramm. Der Dachverband der Friedensbewegung, die »Kooperation für den Frieden«, nahm in einem offenen Brief an die Vorsitzenden der Partei, Annalena Baerbock und Robert Habeck, sowie an die Mitglieder der Grünen unter dem Titel »Ist euch ›Frieden‹ noch wichtig?« am 23. November 2020 dazu Stellung (siehe koop-frieden.de). Das Schreiben unterzeichneten Jens-Peter Steffen (Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg –IPPNW), Wiltrud Rösch-Metzler (Pax Christi) und Philipp Ingenleuf (Netzwerk Friedenskooperative) für den Rat der »Kooperation für den Frieden«, der mehr als 50 Organisationen und Initiativen angehören. Sie bezeichnen darin das Grünen-Programm, das den Titel »›… zu achten und zu schützen …‹ Veränderung schafft Halt« trägt, als »friedenspolitische Katastrophe«.

In einem elfseitigen Schreiben vom 5. Dezember 2020 wies Winfried Nachtwei, seit 1980 in der Friedensbewegung aktiv und als Sicherheits-und Abrüstungsexperte von 1994 bis 2009 Abgeordneter der Grünen im Bundestag, diese Kritik zurück. Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Werner Ruf sowie der Sprecher der »Kooperation für den Frieden« Reiner Braun fanden »diesen Brief herausfordernd und kriegsoffen«. Er habe sie deswegen zu einer »etwas grundsätzlicheren Antwort« veranlasst.

Der offene Brief im Wortlaut:

Lieber Winfried, gemeinsam haben wir in den 80er Jahren gegen die neuen US-Erstschlagswaffen unddie Kriegsgefahr in Europa für eine Welt ohne Atomwaffen (in Ost und West) demonstriert. Ohne dich sind wir 1999 auf die Straße gegangen, um gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen Jugoslawien, unterstützt von der SPD/Grünen-Bundesregierung, zu protestieren. Wir mussten erleben, dass mit verwegenen Verdrehungen der Verteidigung der Menschenrechte der erste deutsche Kriegseinsatz nach 1945 besonders durch den Grünen-Außenminister Joseph Fischer, zu legitimieren versucht wurde. Die pazifistische Partei Die Grünen wandelte sich zur Kriegspartei.

Eine alte historische Tatsache wurde 1999 – in einer tiefen und kontroversen gesellschaftlichen und friedenspolitischen Debatte – untermauert. Wenn es um Krieg und Frieden geht, geht es bei den Befürwortern von Kriegseinsätzen immer um »Frieden und Menschenrechte« oder »Verteidigung der Menschenrechte durch Krieg«, also immer um gesellschaftlich positiv besetzte Werte. Niemand spricht mehr davon, dass »wir in den Krieg ziehen«. Nein, wir verteidigen den Frieden und die Menschenrechte, oder wir »tragen Verantwortung«.

Es kommt also darauf an, genau hinzuschauen und zu analysieren, was wirklich gemeint ist. Lügen spielen bei der Begründung von Kriegen schon immer eine zentrale Rolle, Verdrehungen und Verkürzungen sind an der Tagesordnung. Interessen, besonders ökonomische und geostrategische, gibt es nie, immer geht es um eherne Ziele, seit 1999 geht es eigentlich immer um Menschenrechte, die durch Krieg verteidigt oder wiederhergestellt werden müssen. Krieg aber ist per se menschenrechtsfeindlich. Die Vertreter der »humanitären Intervention« maßen sich die moralische (!) Autorität an, das Leben von Menschen zu vernichten. Getötete und verstümmelte Unschuldige werden zu »Kollateralschäden« verdinglicht. Deswegen sind bei der Formulierung von Grundsatzdokumenten zu Krieg und Frieden auch inhaltliche Schärfe, Klarheit und Genauigkeit dringend notwendig. Krieg sowie Frieden als historisch errungenes Menschheitsziel sind auch völkerrechtlich verbindlich in der UN-Charta Artikel 2.4 und im Grundgesetz fixiert. Hintertürchen, offene Formulierungen, Unschärfe, Zwei-und Doppeldeutigkeiten in den Formulierungen öffnen den Weg zum Krieg, zu Aggression und Intervention und dienen letztendlich als Legitimation für den Kriegseinsatz. In der Menschheitsgeschichte finden sich hierzu Hunderte Belege (siehe Deutsch-Französischer Krieg 1871, Erster Weltkrieg, die Irak-Invasionen 1990 und 2003, Afghanistan-Krieg 2001, Libyen-Intervention 2011, die Liste ist endlos).

Angesichts der Erfahrungen mit zwei Weltkriegen und dem damit verbundenen Leid und einer deutschen Bevölkerung, die Kriege mit großer Mehrheit ablehnt, kann ein Kriegseinsatz nur »legitimiert« werden mit dem Ringen um etwas »absolut Gutes«. Dazu werden die »Menschenrechte« heute permanent missbraucht. Und: Dahinter wird – meist unausgesprochen – eine Kategorisierung von Gut und Böse entfaltet, wobei gleichsam natürlich »wir«, die Guten, als moralische Autorität sie, die Bösen, daran hindern (müssen), Böses zu tun. Von vornherein wird dann ausgeblendet, dass gewaltförmige Auseinandersetzungen oft ihren Ursprung in der ungerechten Weltwirtschaftsordnung, in (meist) von den wirtschaftlich überlegenen Mächten des Westens verursachten Formen von Ausbeutung und Verelendung haben (siehe Johan Galtungs Begriff »strukturelle Gewalt«). Die wahren Verursacher solcher Gewaltverhältnisse präsentieren sich nun als (wenn auch gewalttätige) Retter der Menschenrechte! Darum wird nicht von Krieg gesprochen, dieser wird verkleidet als »humanitäre Intervention«. Dies ist unsere grundsätzliche Kritik an dem Papier: Das Grundsatzdokument ist »kriegsoffen«. Es versucht, Kriege zu legitimieren und zu rechtfertigen, und damit ist es im letzten Ende – es muss so deutlich gesagt werden – ein Kriegsprogramm.

Damit diese Scheinlegitimation – wozu besonders der Menschenrechtsdiskurs missbraucht wird – ermöglicht wird, muss der historisch wesentliche, ja zentrale Grund für Kriege – politische, geostrategische, ökonomische und handelspolitische Interessen, in diesem Falle auch Deutschlands – verschwiegen und nicht thematisiert werden. Politik eines Landes hat nichts mit Moral, aber viel mit Interessen zu tun. Deutlicher als im folgenden Zitat von Egon Bahr kann es kaum formuliert werden: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.« (Egon Bahr vor Schülern in Heidelberg. Rhein-Neckar-Zeitung, 4. Dezember 2013)

Sicherheitspolitik/Außenpolitik ist immer Interessenpolitik zur Wahrung und Unterstützung wesentlicher politischer Ziele der herrschenden Politik. Dies ist im kapitalistischen Deutschland nun einmal die politische und wenn notwendig auch militärische Absicherung der langfristig weltweiten Profitinteressen (deutlich formuliert bereits in den »Verteidigungspolitischen Richtlinien« von 1992). Das Grundsatzdokument der Grünen ist damit auch ein die aktuellen politischen Herrschaftsstrukturen der globalen Ungerechtigkeit und Ausbeutung verfestigendes Dokument und legitimiert letztendlich die Absicherung kapitalistischer Profitinteressen durch Krieg (abermals siehe Galtung: »strukturelle Gewalt«). Mit globaler Gerechtigkeit oder gar Humanität oder Verantwortung hat dies nichts zu tun – auch wenn diese Begriffe fast beschwörend immer wieder im Papier der Grünen auftauchen.

Wenn wir uns die derzeit 13 laufenden Einsätze der Bundeswehr (27 wurden inzwischen abgeschlossen) auf drei Kontinenten ansehen, in deren Rahmen rund 4.000 Soldatinnen und Soldaten unterwegs sind, so erfüllen diese oft mehrere Ziele zugleich. Sie reichen von friedenssichernden UN-Missionen wie etwa der Überwachung des Waffenstillstands in der Westsahara bis zu Kriegseinsätzen im Rahmen der NATO in Afghanistan oder der Sicherung der Staatlichkeit des Kosovo, eines Staates, der nicht einmal von allen Mitgliedern der EU anerkannt wird und in der Folge der staatlichen »Neuordnung« des Balkans während des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien 1999 entstanden ist.

Es ist Deutschland gelungen, dass die einzelnen Militäreinsätze kaum mehr nach ihren Mandaten (UNO, NATO, EU) unterschieden werden. Dadurch tritt auch die Frage in den Hintergrund, ob diese Interventionen völkerrechtskonform sind. Die NATO und die EU legitimieren sich in zunehmendem Maße selbst. Damit wächst auch der Spielraum Deutschlands für die Mandatsdefinition und das Verankern eigener Interessen in den Mandaten. Bestes Beispiel ist etwa die Anti-IS-Koalition im Irak, hinter der keines der Militärbündnisse (NATO oder EU) steht. So ist es kein Zufall, dass diese Mission, an der sich Deutschland mit rund 500 Soldatinnen und Soldaten beteiligt, ihren Sitz in der Hauptstadt der kurdischen Provinz Erbil hat. Dies stärkt die irakisch-kurdische Autonomiebewegung, trägt tendentiell zur weiteren Zerstörung des gegenwärtigen Irak bei und sichert den wachsenden Einfluss Deutschlands im Nahen Osten. Von besonderer und richtungweisender Bedeutung ist der EUTM-Einsatz (»Europäische Ausbildungsmission«, jW) in Mali: »Deutschland betrachtet Mali als wichtigen Schwerpunkt seines militärischen Engagements auf dem afrikanischen Kontinent.« (Bundesministerium der Verteidigung) Dieser Satz beinhaltet klar, dass der Mali-Einsatz als Türöffner für die weitere (auch militärische) Präsenz Deutschlands auf dem Kontinent gedacht ist.

Dass die Auslandseinsätze der Bundeswehr gerade nicht zur Behebung humanitärer Notlagen gedacht sind, zeigen die unzähligen Notsituationen, in denen Deutschland nicht tätig wird – so etwa, wenn Bangladesch die geflüchteten Rohingya auf vorgelagerte Inseln transferiert, die bei zu erwartenden Monsunstürmen überflutet werden können. Wenn die von EU-Staaten finanzierte »libysche Küstenwache«, die meist Teil von Schlepperorganisationen ist, Flüchtlinge, denen sie zuvor seeuntüchtige Boote verkauft hat, auf dem Meer wieder einfängt, um sie sodann auf Sklavenmärkten zu verkaufen. Oder was geschieht mit Flüchtlingen an der von der Türkei erbauten Mauer an der türkisch-iranischen Grenze? Was geschieht mit den Hunderttausenden Geflüchteten, die in der Türkei festgehalten werden und zur Erpressung der EU genutzt werden, die sich damit erpressen lässt? Dass auch in diesen Fällen nichtmilitärische Maßnahmen meist hilfreicher wären, steht auf einem anderen Blatt.

Die Frage nach den Ursachen für Elend und Flucht bleibt vorden – selektiven – Bildern von Elend und Flucht ausgeblendet. Die Symptome werden instrumentalisiert, die Ursachen, die auf die Strukturanpassungsprogamme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank sowie der Freihandelsabkommen der EU verweisen, werden nicht genannt. Insgesamt zeigen daher die Militäreinsätze, dass ihr primäres Ziel nicht eine wie auch immer geartete »Hilfe« ist, sondern der Versuch, als »Global Player« Weltgeschichte mitzugestalten. Grüne Politik wird so zum humanistisch gefärbten Deckmantel für die Durchsetzung imperialistischer Interessen.

Wer Interessen nicht formuliert, muss sich die Frage gefallen lassen: Warum nicht? Sind es Unkenntnis oder bewusste Täuschung und Irreführung? Spätestens seit der siebenjährigen Amtsperiode des Grünen-Außenministers Fischer ist Unkenntnis ausgeschlossen.Der zentrale Punkt der Grünen ist die »Verteidigung der Menschenrechte«. Mit dieser wird die gesamte Sicherheits-und Friedenspolitik legitimiert, das Gewaltverbot in der UN-Charta und im Grundgesetz werden ausgehebelt.

Menschenrechte sind für jeden Friedensengagierten zentrales Gut, Friedensengagement ist also immer Verteidigung der Menschenrechte. Die größte, umfassendste und stärkste Verletzung der Menschenrechte ist Krieg. Dieser setzt das grundlegendste Menschenrecht, das Menschenrecht auf Leben, außer Kraft. Krieg negiert es jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde, solange »Waffen sprechen« (Konstantin Wecker) und permanent in allen bewaffneten Konflikten. Wer für die in den UN-Dokumenten formulierten bürgerlichen und sozialen Menschenrechte eintritt, sie einfordert, muss als erstes für Frieden eintreten. Frieden ist die Voraussetzung für die Erfüllung jedes Menschenrechts. Ohne Frieden keine Menschenrechte. Deshalb ist die Absage an Krieg und der Protest gegen jede kriegerische Handlung aktive Menschenrechtspolitik und Menschenrechtsengagement. Wem stünde es zu, um der Verwirklichung von Menschenrechten, Menschen ihr Recht auf Leben abzusprechen und es gar zu vernichten?

Wer dieses gegeneinanderstellt oder sogar »Kriege für Menschenrechte« führen und unterstützen will, macht sich auch als Menschenrechtsbefürworter unglaubwürdig. Die Menschenrechte – und wir beziehen uns wieder auf die UN-Charta und das Grundgesetz – müssen gerade gegen die Menschenrechtsnihilisten aus der Politik verteidigt werden, die nichts für die Menschenrechte unternehmen, sie nur als ideologische Kampfbegriffe missbrauchen, um von ihren unsozialen, ökonomisch und ökologisch desaströsen Handlungen abzulenken und ihre militärischen Aggressionen (»Krieg gegen den Terror«) zu legitimieren. Der Menschenrechtsdiskurs ist national und international eine Auseinandersetzung um die »kulturelle und geistige Hegemonie« (Antonio Gramsci) und um die Entlarvung des teilweise verbrecherischen Missbrauchs dieses Begriffs.

Für uns ist eindeutig: Menschenrechte ohne Frieden sind undenkbar. Friedenspolitik ist Menschenrechtsaktivismus. Es sei doch die Frage gestattet: Welches Menschenrecht in welchem Land ist gesichert oder erreicht worden durch den fast 20jährigen sogenannten Krieg gegen den Terror? Leid und Zerstörung, Folter und Tod, Diktaturen, ökologische Desaster und ökonomische Zerrüttung sind überall in der Welt die Folgen – in Afghanistan, im Irak, in Libyen, in Syrien, in Somalia, in Mali, in … Wäre es nicht auch eines Grünen-Grundsatzprogramms würdig, daraus einmal grundsätzliche Lehren zu ziehen? Und wem diese Überlegungen nicht genügen, der möge doch die Bilanz der »humanitären Interventionen« genau ansehen: Die dafür angeführten Ursachen wurden nicht nur nicht beseitigt, sondern gemeint waren in der Regel ganz andere Ziele.

Diese Logik des Grundsatzprogramms führt in der Konsequenz dazu, dass auch konkrete politische Forderungen nur halbherzig, relativierend formuliert werden z.B. im Falle der nuklearen Teilhabe oder der Abrüstung. Ein zentraler Grundsatz früherer grüner Friedenspolitik hieß »bei uns anfangen«, was aktuell bedeutet: bei dem militärisch stärksten, der NATO anzufangen. Dieser Grundsatz wird nicht mehr formuliert. Damit wird politischer Handlungs-und Gestaltungsspielraum zugunsten von militaristischer Politik aufgegeben. Es bleibt als Fazit: dieses Grundsatzdokument ist kein Friedens- und Abrüstungsprogramm für das 21. Jahrhundert. Wenn dieser Brief dazu beiträgt, eine intensivere gesellschaftliche Debatte über Krieg und Frieden anzuregen, hat er seinen Zweck erfüllt. Wir freuen uns auf diese Diskussionen.

Mit friedlichen GrüßenReiner Braun und Werner Ruf

http://nachtwei.de/index.php?module=articles&func=display&aid=1670

 

Reiner Braun ist Geschäftsführer des »Internationalen Friedensbüros« (IPB) und stellvertretender Vorsitzender der Naturwissenschaftlerinitiative »Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit«.

Werner Ruf ist Professor fürPolitikwissenschaft im Ruhestand der Universität Kassel.

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