Gute Grenzen – schlechte Grenzen

 In Gesundheit/Psyche, Politik

Ehemalige innerdeutsche Grenze, Thüringen

Zur Bedeutung von Be-, Ent- und Abgrenzungen. In den Analysen, die sich mit dem jeweiligen Zustand der neoliberalen Verwüstungen befassen, tauchen immer wieder die Begriffe “Gier” und Angst” auf. Dabei steht Gier für die Hauptantriebskraft des zerstörerischen Handelns, während Angst (bzw. das Schüren von Angst) den zentralen Punkt der dafür eingesetzten Machtmittel kennzeichnet. Der in dieser Hinsicht wirkungsvollste Hebel besteht aus einem kontinuierlichen Abbau bisheriger Gewissheiten, d.h. in einer systematischen Deregulierung der Arbeitswelt, die zahlreiche – bis ins Privatleben hineinreichende – Entgrenzungen mit sich gebracht hat. Dass diese Art der Entfesselung keineswegs auf die behauptete Befreiung des/der Menschen hinausläuft, erschließt sich auch durch einen Blick auf den förderlichen Charakter einiger noch vorhandener oder noch bekannter Grenzen. (Magda von Garrel)

Einerseits gibt es Grenzen, die den davon betroffenen Menschen wegen ihrer entwicklungshemmenden Wirkung überhaupt nicht gut tun. Dazu können starre (womöglich noch religiös unterfütterte) Verhaltensvorschriften ebenso gehören wie ideologisch begründete Denkverbote.

Und auch die zur Regelung des gemeinschaftlichen Zusammenlebens geschaffenen Gesetze wirken sich häufiger schädlich als nützlich aus. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Gesetzesverstöße – wie es in der Redewendung “Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen!” zum Ausdruck kommt – nicht in allen Schichten der Gesellschaft gleichermaßen geahndet werden oder wenn es zu unnötigen Gesetzesverschärfungen kommt, die schnell eine Kriminalisierung bislang “unbescholtener” Bürger zur Folge haben können. Nur am Rande sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die zuletzt angesprochene “Hyper-Regulierung” parallel zu den anderweitig vorangetriebenen Deregulierungen in die Wege geleitet worden ist.

Auf der anderen Seite können Grenzsetzungen in Form von Ge- und Verboten gerade jungen Menschen dabei helfen, sich in der ihnen anfänglich noch unvertrauten Welt zurechtzufinden. Gleichzeitig vermittelt die Kenntnis der nicht zu überschreitenden roten Linien ein Gefühl von Sicherheit und vielleicht sogar Geborgenheit. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Eltern, die – aus welchen Gründen auch immer – auf das Aufzeigen von Grenzen weitgehend verzichten, ihren Kindern keinen Gefallen tun.

Allerdings können die hier gemeinten Grenzen nur dann ihre positive Wirkung entfalten, wenn sie konsequent eingehalten und nicht zu eng gezogen werden. Sehr abträglich ist außerdem die heutzutage oft zu beobachtende Kombination mit einer beinahe allumfassenden elterlichen Kontrolle.

Dabei können klug gesetzte Grenzen auch noch “positive Reibungseffekte” zur Folge haben, d.h. die den heranwachsenden Menschen gebotene Möglichkeit, durch eine immer bewusstere Auseinandersetzung mit den ihnen gemachten Vorschriften so nach und nach eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Dem gegenüber führen zu enge und/oder zu stark kontrollierte Grenzen eher zu einer frühen Anpassung, die aber auch das Ergebnis der seit einigen Jahrzehnten sehr ähnlich gewordenen Lebensstile von Eltern und Kindern sein kann. Vielleicht liegt hierin sogar der Hauptgrund für das nicht gerade rebellische Verhalten vieler heutiger Jugendlicher.

Doch zurück zu den “guten Grenzen”, die ja nicht nur inhaltlicher, sondern auch zeitlicher Natur sein können. In diesem Zusammenhang möchte ich zunächst einige den Tagesablauf strukturierende Rituale ansprechen. So gibt es (in meiner Heimat) Ostfriesland den schönen Brauch des “11Ührtje”, bei dem es um ein genau zu dieser Tageszeit beginnendes gemeinsames Teetrinken geht. Der in England entwickelte Brauch des “five-o’clock-teas” findet zwar zu einer späteren Stunden statt und fällt auch etwas opulenter aus, dürfte aber trotzdem auf ganz ähnliche Bedürfnisse zurückzuführen sein.

Zeitliche Begrenzungen können auch mehrere Stunden (Siesta) oder auch ganze Tage umfassen, wie es bei dem früher allseits “geheiligten” Sonntag der Fall war. In einem weltbekannten literarischen Beispiel von Saint-Exupéry geht es zwar um einen anderen Wochentag, aber um dasselbe Prinzip, das der Fuchs dem kleinen Prinzen auf dessen Frage nach der Bedeutung fester Bräuche folgendermaßen erklärt: “Es ist das, was einen Tag vom anderen unterscheidet, eine Stunde von den anderen Stunden. Es gibt zum Beispiel einen Brauch bei meinen Jägern. Sie tanzen am Donnerstag mit den Mädchen des Dorfes. Daher ist der Donnerstag der wunderbare Tag. Ich gehe bis zum Weinberg spazieren. Wenn die Jäger irgendwann einmal zum Tanze gingen, wären alle Tage gleich und ich hätte niemals Ferien.”

Und wie sieht es mit dem heute üblich gewordenen “Zeitmanagement” aus? Einen geregelten Feierabend gibt es für viele Menschen schon gar nicht mehr, weil sie Arbeit mit nach Hause nehmen oder gleich dort erledigen müssen. Auch komplett freie Samstage oder gar Wochenenden sind nicht mehr die Regel und die rasant ansteigenden städtischen Mieten haben zur Folge, dass immer mehr Menschen zu Pendlern werden, die einen großen Teil ihrer “Freizeit” auf der Autobahn verbringen müssen. Nicht zu vergessen die vielen prekär Beschäftigten, von denen erwartet wird, dass sie ständig auf Abruf bereit stehen.

Da ist es schon bizarr, dass ausgerechnet unter diesen Bedingungen immer wieder die Einhaltung einer “work-life-balance” angemahnt wird – ganz so, als ob die so Ermahnten mutwillig Schindluder mit ihrer Freizeit treiben würden. Mit anderen Worten haben wir es auch in diesem Fall mit einer unangebrachten Schuldzuweisung bzw. mit einer für den Neoliberalismus typischen Verlagerung der Verantwortung auf die Opfer der in seinem Namen vollzogenen gesellschaftlichen Destabilisierung zu tun.

Auf der anderen Seite müssen wir ehrlicherweise zugeben, dass wir die massiven Eingriffe in unseren Lebensrhythmus mehr oder weniger klaglos hingenommen haben. Tragen wir also doch eine Art von (Mit-)Schuld? Hat unsere Fantasie nicht ausgereicht, um rechtzeitig die Tragweite des schon vor langer Zeit eingeleiteten Umbaus der Gesellschaft zu erkennen? Waren wir einfach nur zu träge oder so verblendet, dass wir den stets mitgelieferten Verheißungen auf ein (noch) besseres Leben nur allzu gern geglaubt haben?

Eine weitere denkbare Variante ergibt sich aus der Überlegung, dass wir den Wert tradierter zeitlicher Grenzen erst viel zu spät erkannt und diese auch deshalb ziemlich leichtfertig aus der Hand gegeben haben. Für diese Vermutung spricht, dass Begrenzungen aller Art lange Zeit als absolut spießig und somit als nicht “verteidigungswürdig” galten. Im Lichte der jetzigen Erfahrungen kann allerdings nur empfohlen werden, diese Position noch einmal sehr gründlich zu überdenken.

Und wie sieht es mit der Verteidigungswürdigkeit der die Menschen voneinander trennenden Abgrenzungen aus? Fest steht, dass sich als Folge solcher Abgrenzungen ganz unterschiedliche Gruppierungen bilden, die nichts miteinander zu tun haben wollen oder im Extremfall sogar eine gegenseitige Ausrottung anstreben.

Nun könnte man sagen, dass die Zugehörigkeit zu einer klar definierten Gruppe ja auch ein Identitätsgefühl mit sich bringt und deshalb so falsch nicht sein kann. Dem ließe sich entgegenhalten, dass es spielenden kleinen Kindern völlig egal ist, welche Nationalität oder Hautfarbe ihre Spielgefährten haben und dass ihnen erst von ihren Eltern beigebracht wird, sich von anderen Kindern aufgrund des Vorhandenseins bestimmter Merkmale bewusst abzuwenden.

Dadurch wird das ursprünglich vorhandene “große Identitätsgefühl” (Zugehörigkeit zur Gruppe der Kinder) in viele “kleinteilige Identitätsgefühle” aufgespalten (Zugehörigkeit zur Gruppe armer oder reicher, weißer oder farbiger, deutscher oder nichtdeutscher Kinder etc.).

Mit dem Älterwerden kommen noch weitere ab- und ausgrenzende Merkmale wie religiöse oder politische Gesinnungen hinzu, sodass wir uns am Ende kaum noch als Angehörige des Menschengeschlechts wahrnehmen, sondern als Repräsentanten bestimmter Teilidentitäten. Und je “festgezurrter” diese Teilidentitäten sind, desto geringer dürfte die Bereitschaft sein, die damit einhergehenden Überzeugungen durch einen Blick über den Tellerrand in Frage zu stellen bzw. stellen zu lassen.

Im Rahmen straffer organisatorischer Strukturen schreiten geistige Einengungen besonders schnell voran. Und dann kommt noch die eingangs erwähnte inzwischen in alle Lebensbereiche transportierte Angst hinzu, die sich – im gar nicht so seltenen – schlechtesten Fall mit der aus misslungenen frühkindlichen Beziehungen resultierenden Angst vermischt und so mächtig ist, dass sie ein eigenständiges Denken und Handeln kaum noch zulässt.

Die Sache wird nicht dadurch einfacher, dass die für die Zwecke der “Gierigen” instrumentalisierten Menschen nicht nur eingeredete, sondern auch ganz reale Ängste haben (z.B. die Angst vor Altersarmut) und überdies tatsächlich zutreffende Demokratie-Defizite (z.B. selektive Medien-Berichterstattung) ansprechen. Sind das vielleicht schon die “verteidigungswürdigen” Anteile der ansonsten menschenverachtenden Ab- und Ausgrenzungen?

Beim Nachdenken über diese Frage fällt schnell auf, dass die immer enger gewordenen “Abgrenzungsareale” ein Übermaß an Unversöhnlichkeit und Hass hervorgebracht haben. Im Vergleich dazu sei auf das in früheren Zeiten vorhandene Klassenbewusstsein verwiesen, das auf einer schlichten Einteilung der Menschen in Besitzende einerseits und Ausgebeutete andererseits beruhte. Damals waren Solidarität und Internationalität für die allein von ihrer Arbeitskraft lebenden Menschen noch ganz selbstverständliche Ziele, sodass diese Art von Abgrenzung tatsächlich sehr positive Auswirkungen gehabt hat.

Diese Zeiten scheinen endgültig vorbei zu sein, aber das enthebt uns nicht der Frage, wie mit der heutigen Situation umzugehen ist. Runtergebrochen auf die derzeit in Deutschland vorzufindende politische Landschaft lässt sich diese Frage umformulieren in: Wie sollte man mit der AfD und ihren Anhängern umgehen?

Meines Erachtens ist eine komplette Ignorierung, die auf eine Zementierung der bestehenden gegenseitigen Abgrenzungen hinausläuft, nicht zielführend, zumal es über die bereits genannten Beispiele hinaus eine ganze Reihe von Punkten gibt, die – zumindest auf den ersten Blick – mehr oder weniger gemeinsam vertreten werden. Das reicht bis hin zu einem plakativ verkündeten Eintreten für das Humboldtsche Bildungsideal (!), das sogar in einem aktuellen AfD-Wahlflyer des Kreisverbandes Teltow-Fläming erwähnt worden ist.

Derartige Anknüpfungspunkte eignen sich als potenzielle “Aufhänger” sachlicher Auseinandersetzungen, in deren Verlauf die Frage nach dem Zusammenpassen mit dem ebenfalls vertretenen Menschenbild gestellt werden kann. Voraussetzung ist allerdings ein auf beiden Seiten vorhandener guter Wille.

Und genau daran hapert es oft, weshalb der Einwand, wonach sich in Anbetracht unserer mittlerweile tief gespaltenen und zersplitterten Gesellschaft ein solcher Versuch schon gar nicht mehr lohnt, nicht leicht zu entkräften ist. Umso ermutigender fand ich den kürzlich bekannt gewordenen “Like-Rekord”, den Obama mit seinem Twittter-Zitat erzielt hat. Damit meine ich die von Nelson Mandela stammenden Worte, die Obama anlässlich der rassistischen und von Trump nur halbherzig verurteilten Ausschreitungen in Charlottesville zitiert hat: “Niemand hasst von Geburt an jemanden aufgrund dessen Hautfarbe, dessen Herkunft oder dessen Religion.”

Bei einer Zustimmungsrate von 2,9 Millionen kann davon ausgegangen werden, dass das Wissen um unsere ursprüngliche Zusammengehörigkeit noch immer bei vielen Menschen vorhanden ist. Von da aus ist es vielleicht gar kein so großer Schritt bis zu der Erkenntnis, dass es zwischen den brutalen Entgrenzungen und den angstbesetzten und zugleich menschenverachtenden Abgrenzungsversuchen einen engen Zusammenhang gibt. Und dann könnte es auch zu einer Wiederentdeckung des schon einmal vorhandenen Wissens kommen: Auch wenn es nicht mehr viele Arbeiter im “klassischen” Sinne gibt, so ist es doch bei der für den Kapitalismus typischen Zweiteilung geblieben. Den allein profitierenden Mächtigen stehen – ungeachtet quantitativer und qualitativer Unterschiede – die in Abhängigkeit lebenden Beherrschten gegenüber.

Bei einer solchen “Rückbesinnung” müssten wir nicht einmal auf den jetzt mit Abgrenzung verbundenen “Identitätseffekt” verzichten, da ein wohliges “Wir-Gefühl” schließlich auch ganz anders (d.h. ohne künstliche Trennung nach menschenverachtenden Kriterien) entwickelt werden kann.

Kinderfreundliche Schulen machen es uns vor: Völlig unabhängig von äußeren Merkmalen empfinden sich Schüler und Lehrer als Gemeinschaft und sind stolz auf ihre jeweilige Schule.

 

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

 

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