Hamburger Aufstände

 In FEATURED, Politik (Inland)

Revolten in Hamburg sind keine Erfindung des Jahres 2017. Schon vor 97 Jahre “krachte” es in der Elb-Metropole gewaltig. Die Krawalle vom Juli dieses Jahres muten vergleichsweise harmlos an. Trotzdem vermochten sie die faktische Ergebnislosigkeit des teuren Machthaber-Meetings mit dem Rauch diverser Brandsätze zu vernebeln. Der Staat trainierte seinen Repressionsmuskel und will nun endlich Härte gegen die “zu lange unterschätzte” linke Gewalt zeigen. Freilich waren auch die Motive der Krawallmacher fragwürdig, das Ergebnis ihrer “Bemühungen” erwies sich als mäßig. Autor Helmut Dahmer aus Wien hat einen Alternativvorschlag: Nelkenrevolution statt Kleinkrieg in den Straßen.Es war einmal, vor 94 Jahren. Die (mit der linken USPD vereinigte) KPD hatte – unter Führung von Heinrich Brandler (und August Thalheimer) – im Sommer 1923 die letzte denkbare Gelegenheit verstreichen lassen, im Kontext von Ruhrbesetzung und galoppierender Inflation an die (niedergeschlagene) Revolution vom November 1918 anzuknüpfen, also die parlamentarische Republik durch eine Wirtschaftsdemokratie zu unterbauen und damit zu stabilisieren. Als sich abzeichnete, dass die Gewerkschaften für Generalstreik und Revolution nicht zu haben waren, stoppte die Parteiführung ihre Aufstands-Vorberei­tungen. Nur in Hamburg kam es am 24. Oktober 1923 zu einer (von Hugo Urbahns[1] und Hans Kippenberger geplanten, von Ernst Thälmann mitverantworteten) Revolte, die, als isolierte, zum Scheitern verurteilt war. Um an Gewehre zu kommen, stürmten 300 – von damals 14.000 organisierten Hamburger Kommunisten – 24 Polizeireviere. Nur in Barmbek konnten sie sich einen Tag lang halten, weil sie von der Bevölkerung unterstützt wurden. Vor einem massiven Gegenangriff brachten sie sich rechtzeitig in Sicherheit. Die Hamburger Revolte kostete 100 Menschen das Leben… Die in den folgenden Jahren zunehmend von Moskau ferngesteuerte KPD hat sich von diesem Abenteuer bis zu ihrer kampflosen Niederlage im Frühjahr 1933 nie mehr erholt.

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Tragische Ereignisse wie der Hamburger Aufstand haben ein seltsames Nachleben. Ungeklärt und unbewältigt, scheinen sie sich mitunter gar zu wiederholen, dann freilich nicht mehr als Tragödie, sondern als Satyrspiel oder als Groteske. Als eine solche werden die Umstände in Erinnerung bleiben, unter denen der „G20-Gipfel“ Anfang Juli 2017 mitten in der zweitgrößten deutschen Stadt stattfand, wenn dieser „Gipfel“ selbst längst vergessen ist. Das Zusammentreffen der legitimierten und nicht-legitimierten politischen Repräsentanten der ökonomisch stärksten, miteinander rivalisierenden kapitalistischen Nationalwirtschaften wurde auf Wunsch der deutschen Regierungschefin Merkel – die im September wiedergewählt werden will – in die traditionell „linke“ Hafenstadt Hamburg verlegt. Bei den jährlichen Gala-Veranstaltungen der politischen Charaktermasken (Trump, Putin, Erdogan usw.), die sich (samt ihrer 6.000köpfigen Entourage) geradesogut auf einer Insel, einem Schlacht- oder Kreuzfahrtschiff, oder auch einfach im New Yorker UNO-Hauptquartier zusammensetzen könnten, kommt natürlich politisch nichts heraus. Aber der unendlich gutgläubigen Mehrheit der Welt-Fernsehgemeinde wird alle Jahre wieder vorgegaukelt, die G20 seien so etwas wie eine fliegende Weltregierung, willens und in der Lage, die akuten Probleme unserer Gesellschaft anzugehen: den Reichtum der Nationen umzuverteilen, das ökologische Desaster zu stoppen und die verheerenden Kriege zu beenden. Die amtierenden Staats-Männer und -Frauen konnten sich – abgesehen von zu nichts verpflichtenden Proklamationen – lediglich darauf verständigen, „den“ Terrorismus zu bekämpfen, wobei sie weniger an den IS als an ihre ganz besonderen, nationalen „Terroristen“ dachten… Um zu der hohltönenden, von „Sherpas“ (Merkel) bei Nacht mühsam zusammengeschusterten Schlusserklärung zu kommen, wurden mit leichter Hand (mindestens) 130 Millionen Euro Steuergelder in den Elbsand gesetzt.

Dem kriegsgewohnten Fernsehpublikum sollte aber auch martialisch etwas geboten werden, und so wurden nicht weniger als 20.000 Polizisten zur Sicherung und Belagerung der Stadt aufgeboten – ein Novum in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Hinzu kam ein anderes, vielleicht noch bedenklicheres Novum: Eines der Nachbarländer, Österreich, wurde um „brüderliche Hilfe“ gebeten. Und so reiste, im Nachrichtengetümmel fast unbeachtet, die Spezialeinheit „Cobra“ aus Wiener Neustadt an, die dann auch wirklich, schwer bewaffnet, ein paar verdächtige Schaulustige vom Dach eines eingerüsteten Hauses herunterholte, die von dort Steine heruntergeworfen haben sollten.

Alles war seit Wochen und Monaten für einen sensationellen Ausnahmezustand vorbereitet worden: „Schwarze Listen“ wurden erstellt, um missliebige Journalisten und Fotografen vom Gipfel fernzuhalten; Gefangenen-Sammellager wurden errichtet, Schnellrichter standen bereit. Und während Polizeitrupps, die immer wie Komparsen aus einem Ritter- oder Science-Fiction-Film aussehen, mit vermummten Randalierern (die zur „Guerilla“ stilisiert werden) Räuber und Gendarm spielten, ertönte in der Elbharmonie Beethovens Neunte, deren Jubelchor („An die Freude“) nach allem, was damit schon überdröhnt worden ist, nicht nur der neue Türkenvater Erdogan, sondern überhaupt niemand mehr hören will…

Die Exekutivorgane proben bei solchen Gelegenheiten den „Ernstfall“ und setzen alles daran, die Minderheit einzuschüchtern[2], die in der heutigen kapitalistischen Wirtschaft und ihrem Organ, dem „starken Staat“, nicht das Schlußstück der gesellschaftlichen Entwicklung sieht. Auch diese Minderheit, die zersplitterte antikapitalistische Linke, hatte sich seit langem auf das Hamburger „Event“ vorbereitet. Sie wollte den „Gipfel“ nutzen, um gegen den verhängnisvollen „Kurs“ der 20 Power-Staaten zu protestieren und wünschbare Alternativen zu proklamieren. Das ist mit der größten der Hamburger Demonstrationen, der vom Sonnabend (dem 8. Juli), die weder von Trittbrettfahrern des Schwarzen Blocks für ihre Scharmützel mit der Polizei und für ihren Kampf gegen Windmühlen (Autos, Fensterscheiben, Geschäfte…) genutzt, noch von der Polizei gestoppt werden konnte, auch gelungen. Im Übrigen aber gelang es (vorher und nachher) den paar Hundert (oder Tausend?) Leuten vom „Schwarzen Block“ im handgreiflichen Zusammenwirken mit den sie jagenden (übermüdeten, verängstigten, verhetzten und gereizten) Polizeikräften einen Rauchschleier – oder Zwischenvorhang – zu weben, der dem Publikum die Leere dieses Hamburger Gipfels verbarg, es also hinderte, zu sehen, dass die vermeintlichen Kaiser und Könige, die da in den Messehallen zusammenkamen, nackt sind, uns weder etwas zu sagen haben, noch uns helfen können.

Jeder Aufruhr, jede Bewegung, sei sie religiös, sei sie politisch orientiert, hat ihren „lunatic fringe“, zieht simple Gemüter ebenso in ihren Bann wie gefährliche Narren (Schläger, Pyromanen, Plünderer, Fanatiker). An den Revolutionen und Gegenrevolutionen des vorigen Jahrhunderts waren stets auch, wie man damals sagte, „Lumpenproletarier“ beteiligt, die in den politischen Wirren vor allem eine Chance sahen, endlich einmal ihr Mütchen zu kühlen oder sich straflos zu bereichern. In der anti-zaristischen Bewegung im Russland des 19. Jahrhunderts gab es Attentäter, die der Illusion anhingen, wenn man erst einmal den Zaren oder einige seiner Minister und Polizeichefs umbrächte, werde das Volk sich erheben und das zaristische Herrschaftssystem stürzen. Am Rand der muslimischen (Welt-)Gemeinschaft gibt es gegenwärtig Gruppen, die der westlichen Moderne den Krieg erklärt haben und wähnen, durch Eroberungszüge in gescheiterten Staaten und durch Attentate in den Ländern der „Ungläubigen“ die alte Herrlichkeit, Mohammeds Gottesstaat in Medina, weltweit wiederherstellen zu können. Hierzulande spielt der „Schwarze Block“ der Vermummten, der seit den Tagen von 1968 die Demonstrationen der Linken in Deutschland begleitet und diskreditiert, stets wieder Haschen mit der Polizei, demoliert Autos und Fensterscheiben, verwundet Polizisten und wähnt, mit solchen riskanten Spektakeln irgendwie die Sache des Antikapitalismus zu befördern. Da nach der 150jährigen Niederlagengeschichte der Arbeiterbewegung die versteinerten Verhältnisse sich noch immer nicht zum Tanzen bringen lassen, versuchen sie es mit einer eigenen Musik: mit dem Klirren des Glases, dem Knistern der Flammen und den Schmerzensschreien von Verletzten. Ihre Phantasie reicht weder dazu aus, sich die ungeheure Diskrepanz zwischen ihren theatralischen Aktiönchen und der Macht, die das Bestehende schützt, zu vergegenwärtigen, noch auch nur dazu, sich vorzustellen, was ein Pflasterstein, eine Stahlstange, eine Bohle, eine Flasche oder Brandflasche anrichten kann.[3] Den sogenannten „Autonomen“ geht es um den Kick, wenigstens für ein paar Stunden das lähmende Ohnmachtsgefühl abzuschütteln, eine Masse zu bilden und um sich zu schlagen. Zu den Vermummten gesellen sich Leute, die nichts zu verlieren und wenig zu fürchten haben, darunter auch rechte Schläger und andere Agents provocateurs: Verfassungsschutzagenten und Kriminalbeamte in Räuberzivil, denen es nicht nur darum geht, „Rädelsführer“ und Missetäter dingfest zu machen, sondern darum, die Masse erst einmal richtig aufzumischen. Dass antikapitalistische Aktionen wirkungslos sind, in den Medien nicht einmal registriert werden, wenn sie nicht von spektakulären Eigentumsdelikten begleitet werden, von Scherben und Bränden, wenn nicht wenigstens ganze Polizeiregimenter gegen die Demon­stranten aufmarschieren, hat bisher viele, die nicht im „Block“ mitlaufen, dazu verführt, dessen Spektakel zu tolerieren. Das sollte nach dem G20-Gipfel anders werden.

Wie aber könnten „Linke“ gegen Events wie die Eröffnung der neuen EZB-Bank in Frankfurt (2015) oder den diesjährigen Gipfel in Hamburg anders protestieren, als brüllend gegen Wasserwerfer und Schlagstöcke anzurennen, wie könnten sie solche Hochämter der Power Elite nutzen, um Sympathisanten zu gewinnen? Dazu zwei Vorschläge:

  • Im Vorfeld eines nächsten „Gipfels“ sollten die Organisatoren des Protests die Bundeskanzlerin und den diensthabenden Bürgermeister auffordern, dafür Sorge zu tragen, dass die Verhandlungen, die ohnehin simultan gedolmetscht werden, über Lautsprecher und über wenigstens einen Rundfunk- oder Fernsehsender live übertragen Schließlich hat der politisch interessierte Teil der Bevölkerung (des „Souveräns“) das Recht, zu erfahren, was bei einem solchen Treffen (das auf seine Kosten geht) besprochen und was beschwiegen wird, und wie die aktuellen Probleme unserer Welt dort verhandelt oder ignoriert werden.
  • Die Demonstranten von morgen sollten nicht Krieg („Mossul“, 2017), sondern „Nelkenrevolution“ („Lissabon“, 1974) spielen. Dazu wurde in Hamburg – mit der Losung „Statt G20, lieber tanz’ ich!“ – schon ein Anfang gemacht. Dann aber nahm mal wieder der „Schwarze Block“ die Sache in die Hand. Warum nicht das nächste Mal, ganz ohne Mummenschanz, Latten, Zwillen und Steine den bizarr gerüsteten Polizeiketten singend und tanzend entgegengehen, den martialischen Aufmarsch Zehntausender Staatsschützer ins Leere laufen lassen, die Schlagstockhelden mit Blumen bekränzen, mit ihnen fraternisieren oder sie auch einfach auslachen…?[4] Zum Auftakt könnten wir „Grândola, vila morena“ singen…

[1] Urbahns schloss seine Verteidigungsrede vor Gericht (im Januar 1925) mit dem Ruf: „Lieber im Feuer der Revolution verbrennen, als auf dem Misthaufen der Demokratie verfaulen!“

[2] „Kurz vor Beginn des Gipfels schwört der Polizeidirektor [Dudde] seine Leute auf eine harte Linie ein. >Ein Wasserwerfer hat keinen Rückwärtsgang<, sagt er auf einer Besprechung. >Melden Sie nicht, wenn eine Straße blockiert ist, sondern wenn sie wieder frei ist.< Spätestens jetzt ist den anwesenden Beamten klar: Es gibt keine Deeskalationsstrategie. Dudde wird die Konfrontation mit den Demonstranten suchen. […] >Dudde wollte den Schwarzen Block provozieren, damit es Grund zum Einschreiten gibt<, sagt ein Beamter.“ Baumgärtner, Maik, u. a. (2017): „Abgebrannt.“ Der Spiegel, 15. 7. 2017, S. 14 und S. 15. – Bei jeder Konfrontation dieser Art gibt es polizeiliche „Übergriffe“, die, selbst wenn sie gut dokumentiert sind, von den Verantwortlichen auf Gedeih und Verderb geleugnet werden: „Was die Polizei tut und lässt, scheint über jeden Zweifel erhaben, auch wenn auf Videos zu sehen ist, wie eine unbewaffnete, auf einem Einsatzwagen stehende Frau mit Wasserwerfern traktiert wird oder am Boden liegende Personen noch geprügelt und getreten werden. Weiß Bürgermeister Scholz nichts von den 35 Ermittlungsverfahren, die meisten davon wegen >Körperverletzung im Amt<? […] Selbst die frisierte Verletztenbilanz [zunächst war von 400 verletzten Polizisten die Rede] scheint keine Nachfrage wert.“ Reents, Edo (2017): „Besetzt: Polizeiruf 110.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 7. 2017, S. 9.

[3] In Hamburg zählte man etwa 200 (zumeist leicht) verwundete Polizisten; wie viele Demonstranten verletzt wurden, ist unklar.

[4] Da inzwischen bekannt ist, dass viele der nach Hamburg abkommandierten Polizisten an „Dehydrierung“ litten, wäre es weit sinnvoller gewesen, ihnen 100 Kästen Mineralwasser zu offerieren, statt sie mit Flaschen zu bewerfen…

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