Ist es in Ordnung, dass jemand regiert? 1/2

 In Politik (Ausland), Politik (Inland), Roland Rottenfußer
Alfons der Viertelvorzwölfte

Alfons der Viertelvorzwölfte

Anarchische Gedanken über das Verhältnis von Staat und Individuum. (Roland Rottenfußer)

„Ich habe einen neuen Untertanen!“ König Alfons der Viertelvorzwölfte ist sichtlich gerührt. Der Regent des kleinen Inselstaates Lummerland herrschte nämlich bisher nur über genau drei Personen: Frau Waas, Herrn Ärmel und Lukas den Lokomotivführer. Nun sind es vier, ein Grund zur Freude. Niemand aber fragt das kleine schwarze Baby, das man später Jim Knopf nennen wird, ob es überhaupt Lust darauf hat, ein Untertan zu sein.

Diese skurrile Geschichte, die der Fantasy-Autor Michael Ende erdacht hat, macht eines ganz deutlich: Wir werden von unserem ersten Atemzug an regiert, ob wir das wollen oder nicht. Aber ist dies nicht eigentlich selbstverständlich? Brauchen wir nicht Gesetze, Regeln, Anweisungen wie die Luft zum Atmen? Hierüber gehen die Ansichten auseinander. Dass Herrschende Gehorsam und Unterordnung gut finden, ist verständlich; dass aber auch die meisten Beherrschten es in Ordnung finden, dass jemand regiert, ist vielleicht der phänomenaler Erfolg einer jahrhundertealten Propaganda.

Der Liedermacher Konstantin Wecker deutet den autoritären Charakter als Ergebnis von Sozialisation. Das Lied „Es ist schon in Ordnung“ schildert die fiktive Biografie eines kleinen Jungen. „Ob das die Eltern sind und ihr ‚Ordnung muss sein’, du möchtest wachsen, doch sie kriegen dich klein. Dann träumst du von Wiesen und von Dingen, die weich sind, währenddessen erzählen sie dir, dass die Menschen nicht gleich sind und dass das wichtig ist, dass man pariert: denn da ist immer wer, der bestimmt und regiert.“ Wirklich tragisch an diesem Lied ist aber die Schlusswendung. Als Ergebnis seiner Erziehung kommt es schließlich so weit, dass der Junge die Herrschaft von innen heraus bejaht. „Und es dauert nicht lange, dann ist es passiert: ‚Es ist schon in Ordnung, dass jemand regiert.“ Jeder Widerstand ist gebrochen. Der Junge wird einmal selbst eine Autorität sein und sein Kind im selben Geist erziehen.

Konstantin Weckers Lied ist ein beeindruckendes Zeugnis der anarchistischen Geisteshaltung. Anarchie ist der blinde Fleck in der heutigen politischen Landschaft, eine unterdrückte, meist ausgeblendete Strömung der jüngeren Geschichte. Ökologiebewegung, Frauenbewegung, Antiglobalisierungsbewegung und Gewerkschaftsbewegung haben irgendwo einen Platz in unseren Köpfen (und in den Parlamenten). Anarchismus dagegen bleibt in der „Schmuddelecke“. Man kennt sie vom Hörensagen, zieht sie aber für sich selbst nicht ernsthaft in Betracht – wie etwa Rechtsradikalismus, Satanismus und Ufo-Glaube. Heutige „Freiheitskämpfe“ gibt es fast nur noch im Vorgriff oder unter Berufung auf alternative Formen der Unfreiheit. Rebellion gegen die Entscheidungen von Politikern, so sie überhaupt stattfindet, beruft sich z.B. meist auf das Grundgesetz. Ein Innenminister hat gegen den Verfassungsgrundsatz des Demonstrationsrechts verstoßen, ein Arbeitsminister gegen das Sozialstaatprinzip, usw.

Wer sich als politischer Rebell aber nur auf vorhandene Gesetze beruft, stärkt sie damit indirekt den Legalismus – die Annahme, dass Gesetze unabhängig von ihrer Qualität befolgt werden müssen. Er verliert sich im Paragrafendschungel und gibt zu, dass er notfalls jeden Unsinn mitmachen würde, solange er nur in einem Gesetz steht. Peter Kropotkin (1842-1921), einer der Vordenker des Anarchismus, setzte deshalb auf die Kraft freiwilliger Vereinbarungen, die während der frühen Perioden der Menschheitsgeschichte unser Geschick bestimmten. Diesen besäßen naturgemäß eine gewisse Vernunft und soziale Ausgewogenheit. Gesetze dagegen seien ein verhältnismäßig junges Phänomen, bestimmt durch den Willen, die Masse zu beherrschen und sich deren Arbeitserträge anzueignen. Nicht Ungehorsam (wie der Fall von Adam und Eva suggeriert) ist der Sündenfall, sondern die Machtausübung. „Fast ein jeder verlangt leidenschaftlich danach, über wenigstens einen einzigen seiner Brüder zu herrschen. Darin liegt das Unheil“, sagt Jesus in Tschingis Aitmatows Roman „Der Richtplatz“.

Gewiss sind gute Gesetze allemal besser als schlechte. Durch die Fixierung auf das geschriebene Recht, verlieren wir jedoch den Zugang zu unserem spontanen Freiheitsimpuls. „Laws are made for people, and a law can never scorn the right of a man to be free”, sang die irische Folkgruppe “The Dubliners”. Kein Gesetz darf das Recht eines Menschen verachten, frei zu sein. Dem modernen Demokratiebürger fehlt es offenbar an dieser Art von Stolz, der „Obrigkeit“ an Respekt vor dem fundamentalen Wert der Freiheit. So als hätte uns das 20. Jahrhundert nicht schmerzlich gelehrt, wie unverzichtbar Freiheit ist, um überhaupt ein Dasein fristen zu können, das den Namen Leben verdient. Etwas von dem Geist des Anarchie-Urgesteins Michail Bakunin könnte uns da nichts schaden: „Ich glaube nicht an Verfassungen noch an Gesetze. Die beste Verfassung kann mich nicht befriedigen. Wir brauchen etwas anderes: den Sturm und das Leben, eine neue Welt, in der das Fehlen von Gesetzen die Freiheit erschaffen wird.“

Wozu und mit welcher Begründung gibt es überhaupt die Macht des Menschen über den Menschen? Wie kommt es zur scheinbar selbstverständlichen Herrschaft der Wenigen über die Vielen? Solche Fragen werden heute überhaupt nicht mehr gestellt. Unterstützt wird diese autoritätsgläubige Mentalität durch eine Mehrheit der Bürger, die allem Anschein nach nicht frei sein will. Die ihren Staat Hilfe suchend um Schutz vor Bedrohungen anflehen, die gar nicht so bedrohlich erscheinen würden, hätte sie die Staatsmacht nicht aufgebauscht. „Wir in einer autoritären Gesellschaft aufgewachsenen Menschen haben nur eine Chance, unsere autoritäre Charakterstruktur aufzubrechen, wenn wir es lernen, uns in dieser Gesellschaft zu bewegen als Menschen, denen diese Gesellschaft gehört, denen sie nur verweigert wird durch die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse“, schrieb Rudi Dutschke, Vordenker der 68er-Studentenbewegung.

Auch für Herrschaft, Gesetz und Ordnung gibt es zahlreiche, teilweise nachvollziehbare Argumente. Ein Argument allerdings sticht definitiv nicht: die Annahme, es sei „schon immer so gewesen“. Die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth bezeichnet beschreibt die archaische Gesellschaft nicht als „Herrschaft“ von Müttern, sondern als Abwesenheit von Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die erzählt von einer Art Basisdemokratie aus Clan- und Dorfräten, vergleichbar dem modernen Rätesystem. „Es ist klar, dass sich in einer solchen Gesellschaft weder Hierarchien und Klassen noch ein Machtgefälle zwischen den Geschlechtern oder den Generationen bilden können. Auf der politischen Ebene definiere ich Matriarchate daher als egalitäre Konsensgesellschaften. Patriarchate sind demgegenüber grundsätzlich Herrschaftsgesellschaften, sogar noch in ihrer Spielart als formale Demokratien.“ Die derzeitige „repräsentative Demokratie“ besagt dagegen eher: „Ich nehme deine Stimme und mache dann mit ihr, was ich will“.

Mit diesen Forschungsergebnissen, die durch Ausgrabungen u.a. im türkischen Catal Hüyük, gut belegt sind, wird ein faszinierende historische Perspektive eröffnet: Selbst wenn die Phase der Herrschaft noch so lange gedauert haben mag – was einen Anfang hatte, kann auch ein Ende haben. Ist Herrschaftslosigkeit ein weibliches Phänomen? Jedenfalls wurden alle wirklich fatalen Formen der Staatsautorität von Männern erdacht. Der Blick zurück in die Geschichte macht eines deutlich: Was dem Jungen in Konstantin Weckers Lied im Kleinen passiert ist, wiederholt sind in der Weltgeschichte im Großen: die traurige Geschichte eines nach Lust und Freiheit verlangenden Wesens, dem so lange erzählt wurde, dass es richtig sei, zu gehorchen, bis es daran sogar selber glaubte. Wer sich der Programmierung bewusst geworden ist, hat jedoch auch die Chance zur „Deprogrammierung“, der Auflösung der im Unterbewusstsein eingeprägten, fremdbestimmten Muster.

Mit dem Zusammenhang von autoritärem Charakter, muskulärer Verspannung und Neurosen befasste sich als erster der verkannte Psychotherapeut Wilhelm Reich (1897-1957). Sein Werk ist für den Zusammenhang von Politik und ganzheitlicher Gesundheit grundlegend. Reich gründete die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“. Er studierte die Probleme von Menschen aus dem Arbeitermilieu und erforschte, welche Auswirkungen Libidostau und gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf den Gesundheitszustand hatten. Aufgrund dieser Erfahrungen kritisierte er Freuds Schriften als „Kulturanpassungslehre“ und beklagte „die Angst der Psychoanalytiker vor den sozialen Konsequenzen der Psychoanalyse“. Er forderte umfassende Maßnahmen zur „Neurosenprophylaxe“, die auch gesellschaftliche Reformen im Sinne von Marx umfassten.

„Freiheit definieren ist identisch mit Definition der sexuellen Gesundheit“, schrieb Reich. „Es gibt eine sexualphysiologische Verankerung der sozialen Unfreiheit im menschlichen Organismus.“ Letzte Konsequenz seines politischen Engagements war 1931 die Gründung eines „Reichsverbands für Proletarische Sexualpolitik“ als Unterorganisation der KPD. Später überwarf sich der Psychotherapeut allerdings mit den politisch und sexuell zunehmend repressiv agierenden Parteiführern. Wilhelm Reich hatte schon lange eine eigenwillige Interpretation des Marxismus favorisiert: „Die Diktatur des Proletariats ist die Autorität, die hergestellt werden muss zur Abschaffung der Autorität“, worin ihm die in den Stalinismus abgleitende Sowjetmacht natürlich nicht folgen wollte.

Anarchisten haben der Theorie, eine „Diktatur des Proletariats“ sei ein notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Freiheit, stets und mit Recht misstraut. Dennoch nähert sich Wilhelm Reich der anarchistischen Argumentationsweise sehr stark an. Freiheit und Gesundheit sind eins. Mit dieser These wäre den Verteidigern der Freiheit eine starke Waffe in der geistigen Auseinandersetzung mit den Vertretern eines autoritären Gesellschaftsmodells in die Hand gegeben. Leider wurde Reich viel diffamiert, seine Erkenntnisse standen weder bei den Faschisten noch bei Kapitalismus hoch im Kurs. Schon gar nicht bei „proletarischen“ Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Die Spaltung von Anarchismus und Sozialismus in zwei getrennte Lager hat aber auch eine tragische Note, da es sich eigentlich um einen „Bruderkrieg“ handelt.

Anarchismus und Sozialismus wurden lange Zeit als Einheit verstanden, weil die Befreiung von Ausbeutung mit der Befreiung von Herrschaft Hand in Hand gehen. Der Staat wurde im Sinne von Proudhons berühmtem Satz „Eigentum ist Diebstahl“ als Schutztruppe zur Sicherstellung der „Diebesbeute“ (des Eigentums) verstanden. Wenn man sich Stalins Gulag-System und Honneckers Stasi-Staat vor Augen führt, kann man sich überhaupt nicht mehr vorstellen, wie nah sich beide Richtungen in ihren Ursprüngen waren. Der Kern des Konflikts wurde bereits von deren „Urvätern“ Pierre Joseph Proudhon und Karl Marx ausgetragen. In der „Ersten Internationale“, gegründet 1864, waren die Ideen des frühen Anarchisten nämlich sehr populär. Als Marx Proudhon dann vehement für seine Sache vereinnahmen wollte, antwortete dieser mit einem legendär gewordenen Brief: „Machen wir uns nicht zu Führern einer neuen Intoleranz. Posieren wir nicht als Apostel einer neuen Religion, und sei es auch die Religion der Logik und der Vernunft. (…) Lassen Sie uns, wenn Sie wollen, gemeinsam die Gesetze der Gesellschaft suchen, die Wege, auf denen sie verwirklicht werden und den Prozess, nach dem es uns gelingt, sie zu entdecken. Hüten wir uns jedoch um Himmels Willen, den Leuten nach der Zertrümmerung aller vorgefassten Dogmen eine neue Doktrin einzuimpfen.“

Die weitere Geschichte des autoritären Kommunismus sollte Proudhon Recht geben. Überall in Geschichte finden wir den Verrat an der Freiheit durch „Revolutionäre“, die sich im Verlauf eines Prozesses als autoritär und faschistoid entpuppten. Robespierre und Lenin gehörten zu den Schlimmten. Das „Ancien Régime“ wurde gekippt, doch im Taumel der Siegesfeiern fiel wohl nur wenigen besonders Sensiblen auf: „Freiheit ist die einzige die fehlt“ (aus einem Lied von Marius-Müller Westernhagen). Gerade deshalb ist es so enorm wichtig, bei allen „rebellischen“ Entwicklungen, die wir derzeit erleben, die Freiheit zu hüten wie einen Augapfel. Und auf die „Anwesenheit des Ziels in den Mittel“ zu achten – ein Grundprinzip des Anarchismus. „Fraternité“ kann nämlich nicht mit der Guillotine erzwungen werden. Die Idee, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in den der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes Wesen ist“ lässt sich nicht in Arbeitslagern in die Köpfe prügeln. Freiheit ist „immer die Freiheit des Andersdenkenden“, sagte Rosa Luxemburg. Sie bedeutet die „Ausdehnung des Feldes des Möglichen“, schrieb der Dichter Jean-Paul Sartre. Wann immer wir das Gefühl haben, dass unser Aktionsradius, das Terrain des Erlaubten schrumpft, anstatt zu expandieren, ist es nicht mehr Freiheit. Dann haben wir das Recht und die Pflicht zu rebellieren.

Genau deshalb legt Horst Stowasser, ein bekannter moderner Anarchist, Wert auf die Unterscheidung: „Revolution ist nicht, wenn es knallt, sondern wenn es sich wendet.“ Selbst wenn noch so viele Barrikaden gebaut, Bastillen gestürmt und Könige ermordet werden, ist das kein wirksamer Schutz gegen den „Animal Farm-Effekt“. In George Orwells Fabel „Farm der Tiere“ rebellieren Nutztiere gegen die Menschen. Innerhalb kürzester Zeit benimmt sich das revolutionäre Führungskader, die Schweine, jedoch so despotisch und parasitär, dass kein Unterschied zur Menschenherrschaft mehr festzustellen ist. Eine Revolution, in der sich wirklich etwas „wendet“, würde dagegen sicherstellen, dass die Herrschaft nicht lediglich die Farbe wechselt, sondern dass Herrschaft als solche zurück gedrängt wird.

(Am Montag lesen Sie an dieser Stelle den zweiten Teil des Artikels über Anarchismus)

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