Jekyll and Hyde 2.0

 In FEATURED, Medien, Politik (Inland)

Jekyll und Hyde in einem Schwarzweißfilm, 1931

Wir kennen das Phänomen: Im Internet – geschützt durch Anonymität – nehmen Diskutanten oft eine Art Zweitidentität an. Speziell kommen die gröberen Persönlichkeitsanteile zum Vorschein, was una an einen Roman von Robert Louis Stevenson denken lässt. Neu ist in der Ära Trump, dass auch Politiker, die sonst ja nach außen hin eher Feingefühl simulieren, meinen, im Netz die Sau rauslassen zu müssen. (Jürgen Wertheimer)

 

Zum Auftakt des 12. Governance Forums in Genf (2017) äußerte sich der UN-Sonderberichterstatter für den Zustand der Meinungs- und Informationsfreiheit besorgt. Die Begründung David Kayes für seine Besorgnis ist in Anbetracht der diskursiven Realitäten im Netz und auf Facebook  allerdings einigermaßen verblüffend – denn ausgerechnet der geplante EU Code of Conduct gegen Hate Speech steht im Zentrum seiner Kritik.  Diese Entwürfe, so der Beauftragte,  würden weit über das Ziel hinausschießen und eine von Regierungen forcierte Zensur durch private Unternehmer befördern.

Unabhängig von den ökonomischen  Verflechtungen, die hier nicht diskutiert werden,  könnte  Europa an sprachlicher Selbstunterwerfung erkranken . Doch soweit,  Mr. Kaye, sind wir noch lange nicht.

Derzeit sind wir weit eher in Gefahr an sprachlicher und gedanklicher Selbstgerechtigkeit zu erkranken – zumindest zu verwahrlosen. Und hierbei spielen Facebook und Twitter in der Tat eine bemerkenswerte und fatale Rolle. Seit Trumps Vorbild fühlen sich viele kleinere  und größere Machthaber dazu ermutigt, einer Art rhetorischer Schizophrenie anheim zu fallen und das Netz als eine Art Darkroom Ihrer wahre Befindlichkeit zu sehen.

Was im politischen Alltag meist halbwegs gefiltert und andeutend formuliert wird, bricht sich auf facebook Bahn. Jüngstes Beispiel, der Ausfall des Tübinger OB B.P. Auf die süffissante Bemerkung der Leserin einer Lokalzeitung, die sich über die nachgerade hysterischen Reaktionen vieler Mitbürger, wann immer es um die Untaten von Asyslbewerbern geht, mokierte, postete er umgehend:

„Sehr angemessene Reaktion. Hab Dich nicht so, wenn Dich ein Araber fickt . Gibt Schlimmeres. Echt jetzt, Frau D.“

Wir wollen hier nicht die mehr als fragwürdige Wortwahl und den rassistischen Oberton dieser Aussage bewerten. Wichtiger scheint mir Palmers Begründung auf eine journalistische Nachfrage, ob er diese Art der „Überspitzung“ für die Rolle eines OB  als angemessen erachte. Da habe sich, argumentiert er, nicht ein OB mit einer Bürgerin unterhalten; vielmehr handle es sich um einem Streit zwischen „zwei Privatpersonen auf Facebook“. Das Facebook als rechtsfreier Raum, als eine Art auf Dauer gestellter Karneval der Gesinnungen, in dem jeder, um in der Diktion des Staatsvertreters zu bleiben, ungeschminkt die Sau nach Belieben und ohne Rücksicht auf Verluste rauslassen kann?

Genau dem will die geschmähte EU-Verordnung einen Riegel vorschieben – und wenn man selbst amtierenden Kommunalpolitikern mit bundesweitem Geltungsanspruch dies offenbar erklären muss, scheint die Einführung dieses Codes dringlicher denn je.

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