Kindheit zwischen Hitler und Huck Finn

 In Buchtipp, FEATURED, Holdger Platta

Soeben erschienen: Der Lyriker Holdger Platta blickt auf die Fünfziger Jahre zurück. In diesem Gedichte-Zyklus, entstanden während der Jahre 1983 bis 2021, wird zurückgeblickt auf die Zeiten nach dem Zweiten Weltkrieg, bis hinein ins Ende der Fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Eine Kindheit wird beschworen zwischen zerborstenen Bunkern, mitten im Duisburger Wald, und dem Beschweigen der Vergangenheit, zwischen den Glückseligkeiten der kindlichen Neugier und der Angst vor einer fremdenfeindlichen Umwelt, zwischen Adolf Hitler und Huckleberry Finn.

Mit der Wahrnehmungsfähigkeit eines Jungen und dem Wissen eines Erwachsenen ziehen uns diese Gedichte hinein in eine Vergangenheit, die nur scheinbar vergangen ist und nur scheinbar keine Vorjahre kennt, voller Unruhe, Getuschel und Unsicherheiten – und voller Freuden, die ahnungslos sind.

Gedichte, in denen erzählt wird: aus dem Leben eines Kindes. Eines Jungen, der sich immer wieder in seiner Kindheit verirrt und trotzdem irgendwie mitbekommt, was vorher geschehen ist. Und in diesen Unsicherheiten des Jungen randaliert und schweigt die Welt der Endvierziger, Anfangfünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. In dieser Wirrnis der kindlichen Wahrnehmungen werden genau jene Region wieder präsent und genau jenes Schweigen, in denen dieses Kind die Augen aufmachte, Nebel verspürte und zu hören begann: Mülheim an der Ruhr, Raffelberg und Speldorf. Das Haus mit den Schwalben davor und der Streuobstwiese dahinter. Das Foto vom Tannenberg-Denkmal beim ostpreußischen Alten an der Wand und der Holzschuhtanz. Die großen Jungs, die Kohlen von den Eisenbahnwaggons schmeißen.

An einem herrlichen Augusttag wird auf einer Ostsee-Insel mit behaglicher Bimmelbahn ein Berber von Skinheads ermordet – ein Penner oder Landstreicher, wie man bis heute kaltschnäuzig sagt. Und in einer Tannenstraße, Jahre zuvor, schweigen unter alten Bäumen, im warmen Sonnenschein, die Villen der Schlotbarone vor sich hin. Als ob man sich nicht auf Erden befände, sondern im Paradies. Und in diesem Kind immer wieder diese Angst.

Gedichte, berstend vor Ambivalenz.

 

Holdger Platta, geboren 1944, wuchs, nach der Flucht aus Niederschlesien im Frühjahr 1945, in äußerster Armut im Ruhrgebiet auf. 1951 Einschulung in Speldorf (Mülheim an der Ruhr). 1958 Umzug nach Hannover, 1965 Abitur. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte in Göttingen Beginn der freiberuflichen Tätigkeit als Wissenschaftsautor und -journalist für Buchverlage, Zeitschriften und Rundfunkanstalten. Zeitgleich Beginn der literarischen Tätigkeit – in erster Linie das Verfassen von Gedichten. Veröffentlichungen in Anthologien, im Rundfunk sowie in Literaturzeitschriften ( u. a. Akzente). Gedichtbücher: Das Blaue vom Himmel (Selbstverlag Göttingen 1983), Grünanlagen (Edition Herodot Göttingen 1985), Der Garten ein Nachbar hinter dem Zaun (Van der Wal Verlag Leiden/Niederlande 1993), Mitlesebuch 37 (Aphaia Verlag Berlin 2000).

 

Holdger Platta: Ruhmesblätter mit Linsengericht. Erzählgedichte. Reihe Lyrik Bd. 177 im Pop Verlag Ludwidsburg, 84 S., ISBN: 978-3-86356-366-0, €[D] 12,80.

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