Komm ins Offene, Freund

 In FEATURED, Kultur

Die Kunst, die wieder vonnöten wäre, beginnt bei Selbsterkenntnis und endet in Bewegung. Heutzutage wird ja immer zuerst gefragt. Darf ich noch Kinder in die Welt setzen, darf ich noch ein Mann, eine Frau sein, muss ich mich einschränken, darf ich über meine körperlichen Verhältnisse leben, darf ich noch reisen, lieben, schwimmen, anders sein, gleich sein und so weiter und so weiter. Wenn man Fragen stellt, glaubt man, sie nicht selber beantworten zu können. Deshalb gibt es Experten, die genau dies tun. Doch dies zeugt von einer fast schon degenerierten Eigenwahrnehmung. Thomas Eblen denkt im Geiste des Hölderlin-Zitats „Komm ins Offene, Freund“ auf originelle Art und Weise über Kunst und Künstler nach und zeigt dadurch die Leerstellen dieser Zeit. Thomas Eblen

 

Nur der Einzelne kann über sein Leben etwas sagen, vorausgesetzt, er nimmt sich genügend und intensiv wahr. Erkennt, wer er wirklich ist. So gefestigt, kann er der Welt begegnen. Künstler sollten in diesem Sinne gefestigte Menschen sein und wenn sie es wirklich sind, lassen sie sich nicht korrumpieren, sondern tun, was sie tun müssen.

Wie Luther sagte: Ich stehe hier und kann nicht anders. Sich so zu verhalten, erfüllt einen mit Stolz — aber auch mit Angst, da es die ganze Existenz gefährden kann. Deshalb sind sie echte Künstler, „randständig“, wie es so schön heißt. Ich weiß, das ist romantisch gedacht, aber ich sage: Lasst uns mutig sein, vielleicht auch nur, um mir selber Mut zu machen. Deshalb nenne ich mich einen Künstler.

Ist das ein Künstler?

Letztens hörte ich ein Gespräch im Hörfunk. Dort wurde über das Künstlertum geredet. Die Moderatorin zerging fast vor Mitgefühl über die schweren Lebensverhältnisse des Künstlers. Ihr gegenüber ein Künstler, der wohlsituiert den Mainstreamkram mitmacht. Zum tausendsten Mal Christian Morgenstern in Lesungen abgenudelt, will nicht schon wieder eine Transe spielen und so weiter. Natürlich kennt er das Künstlerleben, hat wahrscheinlich auch schwierige Zeiten durchlebt. Doch ist er wirklich ein Künstler?

Künstler wollen das, was es noch nicht gibt

Viele würden verwundert schauen und sagen, ja natürlich ist er ein Künstler. Ich würde sagen, er ist ein Entertainer, und das ist nicht abwertend gemeint. Künstler dagegen leben auf einer Isolierstation, weil das, was sie hervorbringen, immer gegen die vorherrschende mediale Kultur ist wie überhaupt gegen die schon existierende Kunst, den Bildungskanon. Künstler wollen immer das, was es noch nicht gibt. Deshalb müssen sie sich mit den großen Künstlern auseinandersetzen, nicht in dem Sinn, dass sie wiederholen, sondern durch die Auseinandersetzung etwas finden.

Die Menschen wollen immer das hören oder sehen, was schon in ihnen angelegt ist. Sie wollen nicht Abwegiges, nicht Anderes wahrnehmen. Deshalb beruhigen sie sich mit dem Gewohnten und glauben Kunst wahrzunehmen, aber sie nehmen Kultur wahr: das, was sich durchgesetzt hat.

Kunst aus Naivität des eigenen Anfangs

Natürlich wird in der Aufmerksamkeitsökonomie, in den Medien auch Kunst oder Neues geschaffen. Dies geht meist von Kollektiven aus. Man könnte die Vision des Great Reset in diesem Sinne als „neu“ betrachten, als etwas, das es noch nie gab. Oder auch einzelne Menschen, die durch Ratingshows — also aus der Aufmerksamkeitsökonomie — als „Künstler“ hervorgebracht werden, können eine Idee in die Öffentlichkeit tragen. Aber das entsteht aus der Position des Systems, der Macht und dem Willen zur Macht heraus, wohingegen der Einzelne, der sich aussetzt, um seine eigene Kunst zu zeigen, aus der Schwäche kommt, ja aus der Naivität eines eigenen Anfangs. Ist das nicht betörend?

Kunst wie auch Wissenschaft entstehen aus dem Individuum, so zumindest in der europäischen Tradition. Sie schafft in ihren Sphären neue Formen, neuen Sinn, neue Bilder. Natürlich ist sie von den Verhältnissen beeinflusst, hält diese — vielleicht — nicht aus, aber reagiert nicht mit Protest, sondern mit anderen Welten.

Die Grenze von Unterhaltung und Kunst ist fließend und muss mit der eigenen Wahrnehmung abgeglichen werden. Aber es ist meiner Meinung nach wichtig, den Kunstbegriff neu zu bestimmen, und das geht nur, indem man ihn zunächst isoliert. Später muss er freilich, wenn er eine gewisse Stärke hat, sich den gesellschaftlichen Einflüssen stellen. Ein Diskurs muss entstehen und irgendwann geht das daraus Entstandene, Neue, Andere entweder in die Kultur über oder wird abgelehnt.

Neugier auf das Andere

Die Kunst in diesem Sinn, im täglichen Austausch der Argumente, ist fast gar nicht präsent, auch nicht in den alternativen Medien. In der Wahrnehmung des Menschen gilt es, seine Meinung, sein Weltbild, sein Weltgefühl zu verteidigen und deshalb schaut man auf den Feind, das Gegenüber. Der Konflikt ist omnipräsent. Doch nur jenseits des Konfliktes entsteht Neues.

Könnte eine neue Romantik entstehen, eine neue Renaissance gar? Wäre möglich. Doch sie muss vorbereitet sein, das heißt, das Feld muss bereitet werden. Dazu waren einmal die Philosophen da, manchmal auch die Intellektuellen, man schaue nur in die Frühzeit der Romantik oder der Renaissance und natürlich auf die Künstler, Handwerker und alle, die neugierig auf das Andere waren. All das inspiriert dann die Politik, im besten Fall. Bazon Brock, der Kunstphilosoph, redet von der Autorität durch Autorschaft. Der Einzelne, der sich zu Wort meldet, sei es in der Wissenschaft oder der Kunst, der das Etablierte, Verfestigte wieder aufbricht, um Neuem Platz zu machen, ist das Fundament jeder Vielfalt. Das ist Demokratie. Wer Angst hat vor Neuem, darf sich in der Diktatur oder noch schlimmer: im Totalitarismus wohlfühlen.

Die Fülle in sich entdecken

Man muss sich finden und nicht suchen. Räume müssen wieder geweitet werden. Die Menschen, wenn sie endlich einmal, ohne die wohlmeinenden Berater, in sich selber umhören, als beträten sie eine noch unentdeckte Insel, würden staunen. Wie würden die Augen funkeln, das Herz springen, die guten Gefühle überlaufen, denn sie erkennten, welch Fülle in ihnen wirken könnte.

Nur in der Aufmerksamkeit finden wir, ohne zu suchen.

All die Beeinflussung von außen führt ins Chaos. Durch die innere Wahrnehmung, die innere Beobachtung, entsteht Ordnung. Das ist nicht Esoterik, sondern Wirklichkeit. Man muss nur den Mut dazu aufbringen.

Erkenne dich selbst!

Es fehlt an Neugier

Aber wie sich finden, ohne zu suchen? Braucht es das Schicksal dazu, den Zufall? Gewiss. Doch der Weg kann, wie schon gesagt, geebnet werden, gerade von Menschen, die das herrschende Narrativ hinterfragen. Aber nicht nur, indem sie in den Disput gehen. Das ist zwar notwendig, um ein einigermaßen erträgliches Gleichgewicht zu erreichen. Doch viel wichtiger ist es, anderes wahrzunehmen und zu verknüpfen, ohne gleich „etwas zu wollen“. Vielmehr gilt es, etwas einfach geschehen zu lassen.

Wichtig scheint mir außerdem, bei der Suche sich nicht nur auf die Vergangenheit zu berufen, auf all die große Kunst, die es da gab. Das ist oft verlorene Liebesmühe, Nostalgie. Denn sie hat uns ja schon geprägt. Man muss sie — über diese Prägung hinaus — nicht immer wieder neu aus der Mottenkiste der Geschichte holen, um sich gut zu fühlen.

Gerade da fehlt es an Neugier, an Wahrnehmung, an Aufmerksamkeit für das Neue, weil man zu sehr im Alten verhaftet ist.

Neue oder andere Welten lassen sich nicht herbeischreiben, schon gar nicht über Wissenschaft. Die Aufmerksamkeit und die Neugier ist der Antrieb. Oder sagen wir lieber: der Humus für das Neue. Nicht in dem Sinn, dass es völlig autark wäre: Alles Neue schöpft sich, bisher zumindest, aus dem Alten und dem „noch nicht“.

Könnten wir allerdings innerlich die Vergangenheit wirklich in uns auslöschen, da sie sich ja aus der Zukunft speist und unsere Gegenwart prägt, käme dies einer Revolution gleich, die so weit weg ist wie die nächste Galaxie. Aber sich endlich einmal von all dem Wust befreien? Wäre das nicht die wirkliche Freiheit und könnte einen Neuanfang bedeuten. Fragen über Fragen.

Die Menschen dürfen versprechen, sie ragen in die Zukunft hinein und werden von der Vergangenheit genötigt und inspiriert. Die Gegenwart ist der Halt.

Hin zur Bewegung

Künstler sind verletzte Wesen. Sie tragen eine Wunde in sich, die sie nur dadurch schließen können, indem sie eine eigene Welt, einen eigenen Kosmos schaffen, der konfliktfrei ist und sie nicht verletzt. Das ist für mich der Ursprung aller Kunst. Natürlich müssen sie sich dann den Menschen stellen, das ist ja das Paradoxe oder eben die Ambivalenz. Oder eben das Gleichgewicht, das entstehen kann. Natürlich werden sie aufs Neue verletzt, aber solche Wunden sind erträglich, weil sie das eigene Schaffen als Urgrund in sich tragen.

Also! Ich bin ein Künstler, weil ich genau das will, und ich habe eine mir eigene Welt geschaffen, in Musik, Sprache und Bild. Redet nicht andauernd von Achtsamkeit, diesem Einbalsamieren des Selbst, sondern werdet aufmerksam, schaut auf Menschen, die anderes tun, die anders schreiben, die anders malen, die anders musizieren, die anders denken, die anders konstruieren. Sich am Bildungskanon abzuarbeiten, ist wie das Schürfen in einem Bergwerk, das keine Diamanten mehr in sich trägt. Öffnet euch dem Neuen. Das allseitig Lebendige, das der Philosoph Jochen Kirchhoff besingt, darf nicht Theorie bleiben und in esoterischen Kreisen für Beruhigung sorgen, im Gegenteil: Das Lebendige schläfert nicht ein, sondern schafft — was denn? Bewegung.

 

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