«Musik ist die Sprache der Welt»

 In Kultur
Beethoven

Beethoven

Welche Rolle spielt Musik in einem kapitalistischen Wirschaftssystem? Dient sie der Bourgeoisie lediglich als Zierde und Überbau für ihre Herrschaftsinteressen? Oder kann sie Impulse der Befreiung geben? Wenn ja, welche Art von Musik ist dafür besonders geeignet – Rock und Punk etwa, die den unterdrückten Klassen eine Stimme gegeben haben, mittlerweile jedoch auch in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen sind? Wie entstand überhaupt in der Menschheitsgeschichte das Bedürfnis nach musikalischem Selbstausdruck? Wie verhält sich Realität zu menschlichem Gefühl, verhalten sich Töne zu Gefühlen? Tief gehende Fragen werden in Jürgen Meiers kulturgeschichtlichem Artikel abgehandelt. Es lohnt, sie zu stellen und für sich eine Antwort zu finden.
(Jürgen Meier)

Sven Regener, Sänger von „Element of Crime“, will, wenn er über Musik spricht, nicht über die verschiedenen Stile der Musik diskutieren. An der Musik schätzt er, „dass sie alle Einflüsse der verschiedenen Einwanderer zusammenbringt. Wie bei einem Eintopf mit 30 Zutaten. Der Rock’n’Roll kommt aus der Bluesmusik und der Soul aus einer Verbindung von Blues und Gospel. Es bringt gar nichts, sich da auf eine reine Lehre zu beziehen. Musik ist die Sprache der Welt.“ Spanien, Westafrika, Frankreich, USA wie Jamaika sind nur einige Wurzeln der kubanischen Musik, die ihrerseits den Jazz, Salza, argentinischen Tango, den afrikanischen Afrobeat und spanischen „Flamenco Nuevo“ mit entwickelte. Auf dem Weg ihrer Befreiung aus den Gewalten der Natur und der Sklaverei durch spanische Kolonialisten, die Afrikaner nach Kuba verschleppten, deren Urbevölkerung sie zum Großteil ausgerottet hatten, also auf dem Weg ihrer jeweiligen Kultivierung, entstand Musik in Kuba wie auch anderswo.

Wenn die Musik die „Weltsprache“ der einen Menschheit ist, so macht ihre Universalität deutlich, dass auf dem Weg zur Kultivierung von Mensch und Natur die Menschen in den verschiedenen Erdteilen dieser einen Welt lediglich in unterschiedlichen Rhythmen, mit unterschiedlichen Instrumenten (Knochenflöten, viele tausend Jahre alt, wurden auf allen Kontinenten gefunden) sich auf dem Weg der Kultivierung befunden haben und sicher noch immer befinden. Kultur und Kultivierung, dies sei noch einmal wiederholt, meint die Entwicklung der natürlichen Sinne und typisch menschlichen Fähigkeiten (Liebe und die Vernunft) der Menschen im Prozess mit der ihnen äußeren Natur. Die Natur ist das Eigentum der Menschen, das er förderlich im Allgemeinen und im Einzelnen zum Zwecke seiner eigenen, stets erweiterten Reproduktion nutzen, statt ausbeuten und vernichten muss, um sich und die ihm äußere Natur zu kultivieren.

Der Pianist und Dirigent Lars Vogt sagte in einem Interview: In der „Musik sind die entscheidenden Dinge nonverbal, weil sie verbal gar nicht zu fassen sind. Natürlich tauscht man sich in Proben und so dann auch aus und dann kommt es auch immer zwischen Musikern auf Offenheit an, auf Verstehen, wo kommt der andere her, warum empfindet er wie er empfindet. Aber die entscheidenden Dinge passieren sowohl in Proben wie natürlich sowieso im Konzert dann nonverbal. Das sind die ganz magischen Dinge, wo es dann plötzlich mal knistert, schwingt, auch mal ein Konflikt entsteht und sich etwas aufheizt oder man gemeinsam Innigkeit empfindet.“ Die Musik ist Ausdruck der Innerlichkeit. Lukacs nennt sie ein „Evokationsmedium“. Sie ist unbestimmt gegenstandslos gegenüber der Außenwelt, weil sie die Widerspiegelung der konkreten Innerlichkeit des Menschen ist, die ihrerseits allerdings die direkte emotionale Widerspieglung der Außenwelt ist.

Wer das „Forellen-Quintett“ von Schubert hört, ohne den Titel seiner Komposition zu kennen, wird nicht an Fische im Wasser denken, sondern wird zunächst ein Gefühl von natürlicher Frische empfinden, das plötzlich getrübt wird. Schubert, der ein Gedicht von Christian Friedrich Daninel Schubart als gedanklichen Ausgangspunkts seines Gefühls machte, schuf ein Quintett von Beständigkeit. Seine Musik ist von unbestimmter Gegenständlichkeit, denn nicht die Forelle, sondern das Gefühl, das die Hoffnung („So fängt er die Forelle/ Mit seiner Angel nicht“) des Menschen in eine intakte Mensch-Natur-Beziehung setzt, wird enttäuscht. Der Mensch tötet kaltschnäuzig. Nicht die Ähnlichkeit mit der Außenwelt ist für die Musik entscheidend, wenn sie von geschichtlicher Beständigkeit sein will, sondern ob das Wesentliche des Gefühls getroffen wird. Widerspiegelung bedeutet im dialektisch materialistischen Denken nicht die Erstellung einer Kopie, also die Schaffung von Ähnlichkeit, sondern von Wesentlichkeit. Ähnlichkeit ist lediglich eine Reproduktion von Erscheinungen und ist für das Schaffen von echter Kunst zweitrangig.

Anders als die Sprache, die menschliche Beziehungen zu den Gegenständen und Beziehungen, die dem Menschen äußerlich sind, objektiviert, also von ganz persönlichen Gefühlen reinigt und vom Einzelne ins Allgemeine erhebt, ist die „Sprache“ der Musik „nonverbal“. Sie objektiviert nicht, sie schafft keine allgemeinen Begriffe, durch die die Handlungsmaxime der einzelnen Menschen auf ein Ziel hin vereinigt und verständlich werden, sondern sie hebt das Allgemeine und das Einzelne in der Besonderheit des widergespiegelten Gefühls auf. Das Allgemeine wird in der Musik restlos aufgehoben, darum ist die Erklärung eines Musikstücks, also die nachträgliche gedanklich und sprachlich formulierte Verallgemeinerung, oft sehr konstruiert und bezieht sich häufig mehr auf die Aussagen des Komponisten als auf das Musikstück. Musik ist gegenstandslose Widerspiegelung gegenständlich erlebter Innerlichkeit. Sie ist die „Innigkeit“ die der Mensch ganz individuell verspürt, wenn er sich mit der gegenständlichen Welt und deren Beziehungen in Verbindung setzt. Musik ist die Widerspiegelung dieser emotionalen Widerspiegelung, also eine gedoppelte Widerspiegelung der Wirklichkeit. Lukacs nennt sie deshalb die „Mimesis der Mimesis“.

Die Quelle der Musik ist, wie in anderen Genres der Kunst, der Alltag des Menschen. Hier ist der Mensch ganz gegenständlich mit vielen Widersprüchen des Lebens konfrontiert. In diesen Konflikten und Fragen, die der Alltag dem Menschen stellt, entsteht das Gefühl von Angst, Liebe, Hass, Freude, Fürsorge, Zukunft. Da wir Menschen, gleichgültig ob Mitglied in einem Nomadenstamm oder in einer hochtechnisierten imperialistischen Gesellschaft, auf gleiche Weise, wenn auch unter unterschiedlichen Beziehungen zur Natur und zum anderen Menschen die emotionale Innerlichkeit mittels der Musik spiegeln, um uns durch die Entäußerung des jeweiligen Gefühls mit anderen in „gemeinsamer Innigkeit“ humanisieren zu können, verdeutlicht die Musik auf besondere Weise, dass es nur eine Menschheit gibt und dementsprechend nur die eine Kulturgeschichte der Menschheit geben kann.

Die Kultivierung des menschlichen inneren Reichtums begann, ob in Asien, Europa, Amerika, Australien oder Afrika durch den Rhythmus, der zunächst im Arbeitsprozess mit der Natur benötigt wurde und noch nicht als eigenes Kunstgenre Musik bezeichnet werden kann. Der Mensch erkannte, dass er die Arbeit leichter erledigen konnte, wenn er in einem Rhythmus von Gleichmäßigkeit den Samen aussäte oder das Gras mähte. Mit wachsendem Prozess der Kultivierung der Natur durch den Menschen entwickelte sich so sukzessive die Musik, in enger Verbindung mit dem Tanz, zu einem eigenen homogenen Medium der Kunst, in dem die Bewegungsfähigkeit und -gleichheit des Menschen, der die Götter für die Jagd, den Krieg oder die Ernte positiv stimmen wollte, zentral im Mittelpunkt stand. Im Tanz, getragen und verschmolzen mit der Musik, verbinden sich die nach außen dringenden Gefühle mit der menschlichen Gegenständlichkeit, die sich ganz im Rhythmus der Musik fließen und bewegen lässt. Die Musik, ein rein zeitliches Medium, in dem sich die Vergangenheit mit der Zukunft in der Gegenwart aufhebt, verband und beherrschte den Tanz und seine Gebärden, der ein raum-, zeitliches Medium ist. Der Tanz ist die Widerspiegelung und gegenständliche Transformation der Innerlichkeit des Menschen im Raum. Körperbewegungen vergegenständlichen in einer Symbiose mit der Musik die konkrete Innerlichkeit des Menschen. Wo Menschen, meist sind es Männer, nicht tanzen wollen oder behaupten nicht tanzen zu können, verbirgt sich dahinter eine Angst sich als Einzelner vor Anderen lächerlich zu machen. Denn der Tanz, womit die direkte Verschmelzung mit der Musik gemeint ist und nicht die antrainierte Walzerschrittfolge, zeigt anderen Menschen die eigene partikulare Emotionalität, die allerdings dazu führen kann, dass aufgebaute autoritäre sprachliche Distanz zu diesen Menschen gefährdet ist.

Die Kultivierung der Natur im Arbeitsprozess, der mit Hilfe eines Rhythmus erleichtert wurde, führte schließlich zur Kultivierung der menschlichen Emotionalität, die sich durch die Musik nach außen öffnen konnte und in dem sie sich nach außen öffnete, konnte die Emotionalität von anderen nicht nur verstanden, sondern auch nach empfunden und in solidarische Einheit transformiert werden. Gemeinsamkeit konnte, trotz der Ungegenständlichkeit der Musik, im Tanz gegenständlich zum Ausdruck gebracht werden. Deshalb tanzen die rebellischen und nach Orientierung suchenden Jugendlichen gern nach Rhythmen die ihrer konkreten Innerlichkeit von Wut, Enttäuschung und Sehnsucht entsprechen. Dem Gefühl der Musik entsprechend kleiden sie sich gegen die herrschenden Normen und zeigen sich illusionslos gegenüber den Werbe- und Bildungsversprechungen der herrschenden Klasse. Weshalb sie von den Eliten dieser Klasse als „Subkultur“ bezeichnet werden, um so behaupten zu können, die Rebellen des Rock oder Punks seien Vertreter einer „Unterkultur“, während die herrschende Klasse die „Überkultur“ der Übermenschen vergegenständliche.

• Natürlich hören die Eliten der Bourgeoisie auch Schubert, aber ihr Gefühl stimmt nicht mehr mit dem überein, was Schuberts Gefühl zum Ausdruck bringen wollte. Sie hängen lediglich an den Werten und der Musik (Klassik) der frühen Bourgeoisie fest, um diese für ihre kulturlosen Manipulationen und aggressiven Konkurrenzkämpfe als Alibi nutzen zu können. Es gelingt ihnen durch Interpretationen der Musik, deren Verallgemeinerung sich auf ihre politischen Prämissen beziehen. Musik wird Mittel zum Zweck. Beim „Wiener Opernball“ spielt die Musik nur eine untergeordnete Rolle. Es geht um Netzwerke der „Übermenschen“. Die einfache Eintrittskarte kostet 250 Euro, ein reservierter Tisch für sechs Personen schlägt mit 1080 Euro zu Buche, eine Rangloge kostet 18.500. Da bleibt man unter sich. Weil die rebellische Jugend die Umwertung der frühbürgerlichen Kultur- und Kunstwerte durch die imperialistische Bourgeoisie spontan spürt, lehnt sie häufig leider auch die Musik der Klassik ab, die für ihren Missbrauch nicht verantwortlich gemacht werden kann.

• Rock oder Punk waren Ausdruck einer emotionalen Rebellion gegen Gesellschaften, deren Menschen ohne Gefühl Gefühle der Klassik als Status konsumieren, dabei aber im Konformismus eines profanen Nützlichkeitsdenkens ihrer marktorientierten „Überkultur“ menschlich ersticken. Während die Rebellen der „Subkultur“ auf anarchische Weise und ohne sich dessen bewusst zu sein, Kultur erzwingen wollen, treten die Vertreter der „Überkultur“ als Verteidiger der Kultur auf. Auf den politischen Bühnen, in Talkshows und den Zeitungen küren sie sich zu Rettern der Kultur. Sie tun aber das Gegenteil. Statt Humanisierung von Mensch und Natur, agieren sie mit staatlicher Austeritätspolitik, Militäreinsätzen und -exporten, Privatisierungen öffentlichen Eigentums, Zerschlagung der Tarifautonomie, Abschaffung demokratischer Recht. Sie benutzen alles, was ihrem Pragmatismus und Gewinnstreben nutzt. So auch die Musik, das „Evokationsmedium“. Wissenschaftler vom Max Planck Institut in Leipzig forschten darüber, wie sich Musik zur besseren Arbeitsleistung nutzen lässt, und stellten fest, dass Menschen härter arbeiten, wenn sie ihre Lieblingsmusik hören, denn, so die Elite der spätbürgerlichen Wissenschaft, Menschen atmen, während sie ihre Lieblingsmusik hören, intensiver Sauerstoff ein und verbrauchen weniger Energie, weil sie ihren Arbeitsrhythmus dem der Musik anpassen.

• Doch in den Kämpfen des französischen Volkes, die als „Die Aufrechten der Nacht“ in Massenstreiks und Straßendemonstrationen gegen die harten sozialen Einschnitte der Regierung zu hunderttausenden auf die Straße gingen, wurde erkannt, dass in der Musik der Klassik das ewig wirkende Gefühl von Menschheit und zukünftiger Menschlichkeit zum Ausdruck gebracht wird. Statt Verbesserung des Arbeitsrhythmus verbesserte klassische Musik den Streik- und Demonstrationsrhythmus des französischen Volkes. Spontan gingen hunderte von Musikern, die sich zu einem „Orchester der Aufrechten“ zusammengefunden hatten, auf die Straße, um die gewaltigen Demonstrationszüge gegen die „Arbeitsrechtsreformen“ der Regierung zu unterstützen. Unter freiem Himmel spielten sie, enthusiastisch mit Jubelrufen und Applaus der Demonstranten begleitet, Antonín Leopold Dvořáks Sinfonie Nr. 9. Der Dirigent, der seine Ansagen durch ein Megafon sprechen musste, rief in die Menge: „Das Orchester spielt die Sinfonie ‚Aus der neuen Welt‘ für eine NEUE WELT!“ Die sogenannte „E-Musik“ wurde, dank ihrer Widerspiegelung menschlichen Selbstbewusstseins, zum deutlich verbindenden Medium eines gattungsmäßigen Bedürfnisses nach „Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit“. Um musikalisch das angestrebt Neue einer menschlichen Welt auch zum Ausdruck bringen zu können ist, anders als in anderen Genre der Kunst, das Einhalten von „Regeln“ der Musiktheorie und das Beherrschen des Instruments besonders wichtig. Jede und jeder der über Hundert Musiker spielte die Sinfonie Nr. 9 vom Blatt, das sie sich, da die Dunkelheit einbrach, mit Stirnlampen zu erhellen wussten. In anderen Kunstgenres, die nicht stets und unmittelbar physikalisch nach außen wirken, ist der Dilettantismus, der in der Musik sofort spürbar ist, beharrlicher und konstanter am Werk.

Die Widerspiegelung der menschlichen Gefühle durch die Musik bedeutet natürlich nicht, dass Musik, eben weil sie auf Gefühle baut, die in einer Wirklichkeit von Klassengegensätzen entstehen, keinen partikularen, rassistischen und imperialistischen Zielen dienen könnte. Die Gefühle und Empfindungen, die von der Außenwelt ausgelöst werden, sind subjektiver Art und in der Regel nicht geeignet die Wirklichkeit, deren Widerspiegelungen sie sind, objektiv in ihrer wahren Beschaffenheit zur Erkenntnis zu bringen. „Einerseits gehört dieses Selbständigwerden der Innerlichkeit, der Gefühlswelt zu den typischen Wachstumserscheinungen der Kultur, andererseits zeigt aber dieselbe Entwicklung bei einem starken Überwiegen dieser Tendenz nicht geringe Gefahren gerade für das innere Leben der Menschen.“

Gefühle können manipuliert und in ihr Gegenteil gedreht werden. Das Gefühl der Befreiung von Angst durch Solidarität mit anderen Menschen kann sich in einem tätigen „Wir“ (Arier, Deutschen, Amerikaner, Europäer, Weißen) unmenschlich gegen andere „Wir“ (Juden, Muslime, Afrikaner) austoben. „Die ‚dehumanisierende‘ Gesellschaft integriert bzw. zwingt die Individualität der Menschen in eine Gemeinschaft, deren Ziele der Entfaltung des menschlichen Gattungswesens zuwiderlaufen und welche gerade deshalb ihre Mitglieder zu ‚deformierten‘ Einheiten (Einzelnen) macht.“ Solche Gemeinschaften organisierten sich in der „Hitler-Jugend“, „Kraft durch Freude“, „Pegida“ etc. Deshalb muss sich das Gefühl von Befreiung mit Kenntnis über die Wirklichkeit und Ursachen der Unterdrückung von Menschen und Völkern verbinden, um nicht im Gleichschritt gegen fremde Völker zu ersticken.

Die Bundeswehr verfügt über 18 Musikkorps, deren Aufgabe es ist, die Umwertung der Gefühle von Menschlichkeit und Menschheit zu bewirken, um auf diese Weise eine Wirklichkeit rechtfertigen zu können, die alles andere ist als gattungsmäßige Orientierung. In Kabul dirigierte Oberstleutnant Bernd S. sein Luftwaffenmusikkorps 2 aus Karlsruhe, das gemeinsam mit dem afghanische Musikkorps am Tag der Deutschen Einheit im ISAF-Hauptquartier Ludwig van Beethovens „Yorkscher Marsch“ (Ehrenmarsch der „Nationalen Volksarmee“ der DDR) spielte. Beethoven hatte diesen Marsch 1808 in F-Dur als „Marsch für die böhmische Landwehr“ komponiert und dem Erzherzog Joseph von Österreich gewidmet. Der Marsch wurde 1813 ein Marsch für die Befreiungskriege der deutschen Staaten gegen Napoleon. Beethoven, der sich zunächst für Napoleon engagiert hatte, weil er hoffte Napoleon würde die aristokratische Tyrannei Europas beseitigen und eine Demokratie gründen, widmete ihm zunächst seine „Eroica“ Sinfonie, die den Titel „Bonaparte“ tragen sollte. Als sich Napoleon am 2. Dezember 1804 zum Kaiser krönen ließ, war Beethoven enttäuscht und verärgert. Er änderte den Titel der Sinfonie und unterstützte mit seinem York-Marsch die Truppen der deutschen Staaten gegen Napoleon, die sich im Gleichschritt mit einander verbinden sollten.

Die Bundeswehr führt heute keine Befreiungskriege in Afghanistan, vielmehr tritt sie im Bündnis mit der NATO das Völkerrecht mit Füßen. Doch das Gefühl, das der York-Marsch in völkerrechtswidrigen Kriegen vermitteln soll, ist das des Gleichschritts für eine Befreiung, die keine ist. Beethovens Gefühl wird auf den Kopf gestellt. Es wird Mittel zum Zweck der Manipulation von Menschen, die glauben sollen, wer Beethoven spiele, der könne nicht lügen. Mit der Beethoven-Oper „Fidelio“ kann dieser Zweck nicht so recht gelingen. Deshalb wurde sie von den deutschen Faschisten als „undeutsch“ verboten, spiegelt sie doch das Gefühl unterdrückter Menschen nach Befreiung von Diktatoren und deren Erniedrigungen wider. Beethovens Musik verstehen daher alle Menschen dieser Erde, die sich und das Leben in den Gesellschaften dieser Erde kultivieren wollen. Wer das zu verhindern sucht, der verbietet und sanktioniert sie. In der chinesischen „Kulturrevolution“ von 1966 war Beethoven verboten, er galt als bourgois. „So steht Musik insgesamt an den Grenzen der Menschheit, aber an jenen, wo die Menschheit, mit neuer Sprache und der Ruf-Aura um getroffene Intensität, erlangte Wir-Welt, sich erst bildet. Und gerade die Ordnung im musikalischen Ausdruck meint ein Haus, ja einen Kristall, aber aus künftiger Freiheit, einen Stern, aber als neue Erde.“ Beethoven schuf solche Kristalle für eine künftige Freiheit der Menschen.

Als 1949 der Bürgerkrieg in China zu Ende ging, wurde im Radio eine Aufführung der 9. Symphonie übertragen. Auf dem Tian’anmen Platz wurde Beethoven 1989 bei den Studentenprotesten wichtiger emotionaler Begleiter. Premierminister Li Peng forderte die Demonstranten über Lautsprecher zur Aufgabe des Protestes auf. Studenten aber installierten mit Autobatterien eine provisorische Audioanlage. Als am 19. Mai das Kriegsrecht verhängt wurde und zahlreiche Studenten in den Hungerstreik traten, erklang aus den Lautsprechern die „Ode an die Freude“. „Für uns war die Neunte ein Symbol für Solidarität und Brüderlichkeit. Als wir mit dieser Musik und unseren Stimmen die Parolen der Regierung übertönten, gab sie mir ein Gefühl des Sieges“, erinnerte sich der Student Feng später. „Die Zeile ‚Alle Menschen werden Brüder‘ hat uns verändert und uns daran erinnert, dass wir um unsere Würde als Menschen kämpfen müssen.“

So wie es die großen Gefühle gibt, die das „Evokationsmedium“ Musik mit Komponisten der Klassik und großem Orchester in tätige Verbindung mit anderen gleich fühlenden Menschen auf der ganzen Welt herstellen kann, so gibt es auch die partikularen Gefühle die musikalisch werden können und sich zu diesem Zweck mit Sprache verbinden. Sehnsucht nach „Glücksgefühlen“ werden in diesen Songs widergespiegelt und erlangen nicht selten Anerkennung auf der ganzen Welt, weil jeder Mensch auf sein Glück durch einen anderen Menschen hofft. Ein Wunsch der immer seltener erfüllt wird. Aber ein Trostpflaster in einer Welt ist, die in Kriegen und Rassenhass zu entmenschlichen droht. Es sind dennoch wichtige Trostpflaster, die durchaus heilen können, indem sie das partikulare Sehnsuchtsgefühl nach Glück in einen Schritt hin zum sinnvollen Leben öffnen können.

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