Pass dich an oder du wirst nicht geliebt!

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche

Anpassung ist angesagt (Szenenbild aus “The Matrix”)

Das Symbiosetrauma und seine Ursachen. Von einer Traumatisierung kann man nicht erst sprechen, wenn jemand schockierenden Ausnahmesituationen ausgesetzt war (Vergewaltigung, Überfall, Kriegserlebniss); vielmehr findet Traumatisierung auch in sehr vielen “normalen” Biografien statt. Dann nämlich, wenn wir als kleine Kinder Eltern ausgesetzt sind, die in ihrer eigenen Psyche verunsichert und nur bedingt liebesfähig sind. Da Kinder existenziell abhängig sind, versuchen sie gegenüber ihren Eltern nur diejenigen Eigenschaften hervorzukehren, die mit Liebe belohnt zu werden; der unliebsamer Anteil wird abgespalten. Als Erwachsene haben sie sich an ein Leben mit dem Selbstverrat gewöhnt – ein Phänomen, das auch destruktive Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik hat. (Birgit Assel )

 Als ich 2007 die von Prof. Dr. Franz Ruppert entwickelte Methode der Traumaaufstellung kennenlernte (Ruppert 2005, 2007, 2010), erkannte ich, wie viele Menschen ich in meiner therapeutischen Praxis bereits begleitet hatte, ohne zu wissen, welche Auswirkungen traumatische Ereignisse im psychischen Bereich haben können.

In der Folge beschäftigte ich mich intensiv mit Traumata und deren Wirkmechanismen. Mit der großen Unterstützung von Franz Ruppert und durch meine Erfahrungen mit Klienten in meinen Kursen, lernte ich die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen auf unseren Körper, unsere Psyche und unsere Gehirnstrukturen immer besser zu verstehen.

Die Komplexität traumabedingter Einflüsse konnte ich nur nach und nach erfassen und verstand auch immer mehr, welche Auswirkungen Traumata auf unser gesellschaftliches Leben haben. Wie Traumata Beziehungen beeinflussen, wie sie unsere Sicht auf die Welt bestimmen und wie es zu körperlichen und psychischen Erkrankungen kommt.

In meinem letzten Artikel in Zeitschrift „Praxis für Systemaufstellungen“ (Assel 2009) fasste ich die zu dieser Zeit neuesten Erkenntnisse der Traumaaufstellung zusammen. Anhand von Praxisbeispielen zeigte ich auf, dass ein Existenztrauma, ein Verlusttrauma, ein Bindungstrauma und ein Bindungssystemtrauma sich unterschiedlich in unserer Psyche auswirken und wie wichtig es ist, dies in der therapeutischen Praxis zu erkennen und zu berücksichtigen. Bereits in „Verwirrte Seelen“ hat Franz Ruppert diese vier Arten von Traumata unterschieden. (Ruppert, 2002 S. 130)

Franz Ruppert entdeckte aufgrund seiner vielen praktischen Arbeiten und seinem unermüdlichen Forschergeist 2009 ein Phänomen, für das er den Begriff „Symbiosetrauma“ verwendet. Er gebrauchte den Begriff „Symbiosetrauma“ das erste Mal im September 2009 bei einem Seminar in Holland.

Zwar hörte ich den Begriff, doch so ganz konnte ich ihn noch nicht verstehen: Symbiotische Verstrickungen – ja, Bindungstrauma – ja, auch das Bindungssystemtrauma hatte ich verstanden. Doch was ist ein Symbiosetrauma? Woran kann ich es erkennen? Wie zeigt es sich in einer Aufstellung? Was unterscheidet eine Symbiose von einer Verstrickung? 

 Was ist eine Symbiose

Der Begriff “Symbiose” kommt ursprünglich aus dem Griechischen und heißt “Zusammenleben”. Als Fachbegriff fand er zuerst in der Biologie Verwendung in dem Sinne, dass verschiedene Lebewesen sich gegenseitig in ihren Lebensnotwendigkeiten unterstützen. „Symbiose“ wird hier somit definiert als Zusammenleben zum gegenseitigen Vorteil. Betrachtet man die Natur aber im Allgemeinen, so kann man feststellen, dass alle lebenden Organismen größtenteils in symbiotischen Systemen zusammenleben: Pilze und Pflanzen, Pflanzen und Menschen, Menschen und Tiere. Leben bedeutet demnach immer auch mehr oder weniger abhängig zu sein von einem anderen Leben. d.h. Leben ermöglicht anderes Leben, so dass es sich gegenseitig entwickeln und wachsen kann. (vgl. Ruppert 2010 S. 23 f).

Symbiose als psychologisches Konzept wurde dann von Autoren wie Erich Fromm eher negativ belegt, oder man konzentrierte sich z.B. in der Entwicklungspsychologie hauptsächlich auf die frühkindliche Entwicklung (vgl. Ruppert 2010 S. 34 f). Jedoch unser ganzes Leben lang haben wir den Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit und das ist nicht per se pathologisch. Das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Familie, einer Gruppe, einem Volk gehört zu unseren Grundbedürfnissen. Ausgestoßen zu werden, die Zugehörigkeit zu verlieren, löst große Ängste aus. Es ist eine Urangst, weil jeder Mensch einmal völlig abhängig war und als Säugling keine Überlebenschance hatte, wenn er nicht wenigstens minimal körperlich und seelisch versorgt wurde. Als Kinder brauchen wir Halt gebende und loslassende Eltern, damit wir schließlich einmal eigene Wertvorstellungen entwickeln und unseren eigenen Interessen folgen können.

Wie entsteht ein Symbiosetrauma

Da die erste Bezugsperson die Mutter ist, wird im Folgenden die Mutter-Kind-Beziehung hinsichtlich eines Symbiosetrauma dargestellt, was jedoch nicht ausschließen soll, dass in Vater-Kind-Beziehungen ebenfalls Symbiosetraumata auftreten können.

Wir haben alle eine Zeit erlebt, auch wenn wir sie nicht mehr bewusst erinnern, in der unser Überleben davon abhing, dass unsere Grundbedürfnisse nach Nahrung und emotionaler Zuwendung befriedigt wurden. Das begann schon mit unserer Entwicklung im Mutterleib. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt war das Überleben unserer Mutter die Grundvoraussetzung auch unserer Existenz.

Die Wissenschaftsjournalistin Katharina Zimmer, die sich vor allem mit Werken zur Entwicklungspsychologie einen Namen gemacht hat, schreibt in ihrem Buch „Erste Gefühle“, dass es in dieser Zeit noch kein klares Ich-Bewusstsein für uns gab. Wir hatten im Wesentlichen ein eigenes Körperbewusstsein, konnten also Schmerz, Nähe, Angst, Bedrohung fühlen, doch diese Gefühle fanden noch keine Zuordnung zu uns als Individuum (vgl. Zimmer, 1998, S.13)

Die Erforschung vorgeburtlicher Entwicklung hat inzwischen gezeigt, dass es bereits Wahrnehmungen ab der siebten Woche der Entwicklung gibt. Alles ist noch mikroskopisch klein, jedoch kann der Fötus sich schon, ohne dass die Mutter es bemerkt, kräftig mit dem ganzen Körper bewegen. Als erstes entwickeln sich der Tast- und Gleichgewichtssinn. Es sind die Sinne, die wir für Bewegungen und Körperempfinden brauchen. Wir können also davon ausgehen, dass unsere ersten Empfindungen körperlichen Wahrnehmungen entsprechen. (Zimmer, 1998 S. 16 f)

Auf diesem Entwicklungsstadium sind wir reine Gefühlswesen: Alles, was in dieser Zeit unserer Mutter passiert, passiert auch uns. Ihre Gefühle erleben wir wie unsere Gefühle, von ihrer körperlichen Verfassung hängt auch unsere ab. So können Stress und erste psychische Spaltungen (s. Spaltungsmodell Abbildung 1 nach F. Ruppert) in unserer vorgeburtlichen Zeit bereits zu unserem ersten Erleben gehören. Nach der Geburt sind wir körperlich getrennt von unserer Mutter und können nur durch unser Schreien und unser Weinen ausdrücken, was uns fehlt und was wir brauchen: Nahrung, Wärme, gehalten und getragen werden.

Mütter, die selbst keinen Halt, keine Geborgenheit und Liebe von ihren Eltern bekommen haben, weil diese z. B. kriegstraumatisiert sind, können jedoch die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder nicht wirklich befriedigen. Aufgrund ihrer eigenen psychischen Spaltungen werden sie von den Forderungen und vor allem dem Schreien ihres Säuglings in Stress versetzt. Als Säuglinge erleben wir dann diesen Stress als unseren eigenen Stress. Werden unsere symbiotischen Bedürfnisse auf Dauer nicht befriedigt, geraten wir in Todesangst, was dann im Extremfall nur durch eine Abspaltung dieser Angst psychisch zu bewältigen ist, damit wir diese Situation überleben.

Es beginnt dann ein Teufelskreis im Verhältnis zwischen einer traumatisierten Mutter und ihrem symbiotisch unterversorgten Kind, der immer weitere Spaltungen nach sich zieht und die Überlebensstrategien des Kindes auf den Plan ruft. Dazu gehört z.B., dass wir uns an unsere traumatisierten Eltern extrem anpassen müssen, damit sie sich um uns kümmern: Die traumatisierten Eltern entscheiden, was für uns richtig oder falsch ist, welche Gefühle erlaubt oder verboten sind, was wir sagen dürfen und was wir nicht sagen dürfen, was wir zu glauben haben und was wir nicht zu glauben haben, weil es ihrem seelischen Überleben am besten dient und nicht, weil damit unsere eigene Entwicklung am besten gefördert wird.

Der Psychoanalytiker Arno Gruen entwickelte eine Theorie der menschlichen Destruktivität. Er geht davon aus, dass Kinder, die nicht um ihrer Selbstwillen geliebt werden, ihr eigentliches Selbst verraten müssen und sich zu angepassten, sich unterordnenden Menschen entwickeln. Da wir abhängig sind von unseren Eltern, übernehmen wir deren Wertesystem. Er schreibt: „Ich werde so, wie du mich haben willst, damit du für mich sorgst.“ (Gruen 2009, S. 15 f). Wir werden nicht so angenommen, wie wir sind, alles Eigene darf nicht gefühlt werden, weil es uns in Konflikt mit unseren traumatisierten Eltern bringt. Ein Kind kann den Schmerz, nicht um seiner selbst willen geliebt zu werden, nicht ertragen und muss ihn daher abspalten. Für unser weiteres Leben bedeutet das: Entweder wir passen uns weiter an oder streben eine Machtposition an, wo sich dann andere uns anpassen müssen. Die Überlebensmechanismen unserer Eltern werden auf diesem Wege zu unseren eigenen Überlebensmechanismen.

Mütter, die sich aufgrund eigener erlebten Traumata spalten mussten, sind für ihre Kinder emotional nicht erreichbar. Um sich doch irgendwie binden zu können, binden sich die Überlebensanteile des Kindes in ihrer Bedürftigkeit nach einem emotionalen Kontakt an die traumatisierten Anteile seiner Mutter. Hierüber kann es ihr emotional nahe sein, und ihre Traumagefühle werden zu seinen eigenen: ihre Traurigkeit, Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit und Angst werden vom Kind unbewusst übernommen und können in Triggersituationen zu einer Überflutung von fremden Traumagefühlen führen.

Da die übernommenen Traumainhalte jedoch keine Zuordnung in der eigenen Biographie finden, ist das Erleben dieser Fremdgefühle für die Betroffenen umso verwirrender.

Bei einem Symbiosetrauma sind unsere eigenen Gefühle also abgespalten, wir leben stattdessen in Fremdgefühlen und sind daher fremdbestimmt.

Ein Symbiosetrauma führt somit unweigerlich in symbiotische Verstrickungen hinein, die sich durch unser ganzes Leben ziehen und sich auf alle weiteren Beziehungen auswirken, in denen es um einen emotionalen Austausch geht. Destruktiv gelebte Symbiosen sind die Folgen eines Symbiosetraumas. Da wir immer in einer Form von Beziehung leben, gibt es nach Franz Ruppert zwei Grundformen von Beziehungen: „konstruktive“ und „destruktive symbiotische Beziehungen“ (Ruppert 2010, S. 54 ff.).

Die Merkmale destruktiv symbiotischer Beziehungen

In einer destruktiven Symbiose gibt es Täter und Opfer, die in einem Abhängigkeitsverhältnis miteinander leben. Angst und Macht bestimmen die Beziehungen zueinander. Autonomie und Selbstbestimmung werden als Bedrohung empfunden. In einer destruktiven Symbiose gibt es Verlierer und Gewinner, es gibt kein Gefühl für Recht und Unrecht, Verleugnung und Lüge werden als Wahrheit „verkauft“, Ausbeutung für Liebe. Liebe wird verdreht und wird zur emotionalen Erpressung benutzt: „Entweder du bist so, wie ich dich haben will, oder ich liebe dich nicht mehr!“

Überangepasstheit und Selbstverleugnung auf der einen Seite, falsche Autoritäten und Machtmissbrauch auf der anderen Seite, werden als Normalität empfunden. Die ständige Angst, die Zugehörigkeit zu verlieren, zeichnet die destruktive Symbiose aus: Der Macht Ausübende bangt um seinen Machtverlust, begleitet von der unbewussten Angst, mit seiner wahren Unzulänglichkeit konfrontiert zu werden.

Der Angepasste bangt darum, sanktioniert und verstoßen zu werden und in seiner Wertlosigkeit bestätigt zu werden. Beide Parteien plagen im Grunde genommen die gleichen Ängste vom dem Nicht-mehr-dazu-Gehören und dem Gefühl der Bedeutungslosigkeit. So wird von beiden Seiten an den „Rollen“ festgehalten – um den Preis des Opferns des wahren Selbst und der eigenen Identität. In einer destruktiven Symbiose gibt es nur wenig Raum für Autonomie, stattdessen destruktive Abhängigkeiten, keine klaren Abgrenzungen zwischen Ich und Du und ausbeuterische bzw. parasitäre Tendenzen.

In einer destruktiven Symbiose sind Menschen auch geistig verwirrt, die Täter genauso wie die Opfer. Daher können Opfer dort, wo sie sich in einer Machtposition fühlen, zu Tätern werden. In einer destruktiven Symbiose muss ich mich selbst und meine wahren Gefühle verleugnen, um mein Überleben zu sichern: Gesunde Impulse, wie Bedürfnisse nach Autonomie, echten Gefühlen, Wahrheit und geistige Klarheit gefährden das Fortbestehen solcher Systeme.

Pseudoautonmie und Pseudoliebe

Wenn wir so gut wie keinen Kontakt zu unseren eigenen Gefühlen haben, weil sie einst lebensbedrohlich für uns waren, wird die eigene Autonomie wie eine Bedrohung empfunden, für uns selbst und auch für andere. Daher leben wir nur eine Art von Pseudoautonomie, die im Wesentlichen aus einem inneren Rückzug besteht, bei einem gleichzeitigen Sich-abhängig-Machen von falschen Autoritäten. Da wir uns selbst nicht lieben können, weil wir nie wirklich um unserer selbst willen geliebt wurden, wird auch unsere „Liebe“ zu einer Pseudoliebe. Stattdessen werden Abhängigkeit, Schmerz und Mitleid für Liebe gehalten. Menschen, die sich selbst im Grunde ablehnen oder gar hassen, werden, um sich davon ablenken zu können, ihren Hass nach Außen projizieren. Sie brauchen Feindbilder, die sie bekämpfen können.

Die inneren Gefühlskonflikte tragen sich durch den Einzelnen und im Miteinander in unsere globalen Gesellschaftsformen. Die vielen Kriege, die Ausbeutung ganzer Länder, die Unterdrückung von Menschen in Diktaturen, die „Global Player“, die die „Märkte“ und die politischen Bedingungen bestimmen, die Investmentbanker, die das ihnen anvertraute Geld verzocken usw., können als Auswirkungen von vielen Symbiosetraumata betrachtet werden, die dann in destruktiv symbiotischen Beziehungen der traumatisierten Menschen miteinander ausgelebt werden.

Auch wenn das, was ich hier geschrieben habe, noch nicht alle Facetten eines Symbiosetraumas umfasst, so fange ich doch langsam an zu begreifen, warum es vielen von uns so schwer fällt, sich selbst zu lieben. Da helfen auch keine positiven Affirmationen oder irgendwelche herbei gezauberten Ressourcen. Das sind Illusionen. Wir müssen uns dem Schmerz stellen, dass wir nicht den Halt, die Geborgenheit und die Liebe bekamen, die wir für unsere gesunde Entwicklung gebraucht hätten. Wenn wir bereit sind, diesen Schmerz zu fühlen, für uns selbst Verantwortung zu übernehmen, Empathie und Mitgefühl für uns selbst und für andere Menschen zu entwickeln, den Unterschied zu erkennen von Selbstmitleid und Mitgefühl, bei uns und auch bei anderen, dann besteht die Chance, dass wir uns nicht mehr selbst verleugnen müssen, ehrlich und authentisch in unseren Wahrnehmungen sind. Wir machen nicht mehr andere für unser Schicksal verantwortlich, sondern entwickeln ein Gefühl dafür, wo wir möglicherweise selbst schuldig geworden sind und übernehmen die Verantwortung dafür.

Was zeichnet eine konstruktive Symbiose im Gegensatz zu einer destruktiven Symbiose aus?

Wie sehen nun demgegenüber konstruktiv symbiotische Beziehungen aus? In einer konstruktiven Symbiose besteht nicht die Gefahr, die Zughörigkeit zu verlieren, wir können unsere eigenen Gefühle leben und ausdrücken, wir können uns streiten und Konflikte austragen, wir sind authentisch, müssen keine Maske tragen, sondern werden angenommen, wie wir sind, mit all unseren Stärken und auch Schwächen. In einer konstruktiven Symbiose sind Fehler keine Katastrophe, sondern es wird offen und ehrlich damit umgegangen. Zwischenmenschliche Konflikte wirken nicht zerstörerisch, sondern sind entwicklungsfördernd. Wir kennen unsere Bedürfnisse, können sie leben, mit Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer. Es gibt kein „Besser-sein“ oder „Schlechter-sein“, sondern ein gleichwertiges „Anders-sein“. In einer konstruktiven Symbiose gilt das Prinzip einer Win-Win Situation.

Wie entwickelt sich eine konstruktive Symbiose?

Im Idealfall hatten wir ein Elternhaus, in dem diese Beziehungsqualitäten gelebt und weitergegeben wurden. D.h. in den ersten Monaten unseres Lebens wurden von unserer Mutter unsere Bedürfnisse erfüllt: Sie erkannte an unserem Weinen, ob wir Hunger haben, ob wir gewickelt werden mussten, ob wir Schmerzen haben usw., und befriedigte diese Bedürfnisse unmittelbar. In unserer weiteren Entwicklung wurden wir in unserem Autonomiebedürfnis gefördert und unterstützt, das anfängliche „Einssein“ mit der Mutter konnte sich Schritt für Schritt in ein „Du“ und ein „Ich“ umwandeln. Wir konnten ein Selbstbewusstsein entwickeln: Gefühle wie Traurigkeit, Wut, Angst, Freude und Liebe durften ungehindert zum Ausdruck kommen, wurden wahrgenommen und entsprechend beantwortet. Wir hatten den Schutz, den wir brauchten, und die Selbstständigkeit, die unserer Entwicklung entsprach, unabhängig von Normen und Vergleichen.

Das heißt, die Voraussetzung für eine konstruktive Symbiose ist, dass ein Kind in seinen eigenen Entwicklungsschritten unterstützt, gefördert und geliebt wird. Es ist nicht wichtig, ob es schon mit zwei Jahren vollständige Sätze sprechen kann, ab wann es keine Windeln mehr braucht oder wann es anfängt, zu laufen. Es darf sich in seinem eigenen Tempo entwickeln, unabhängig von standardisierten, festgelegten Regeln.

In einer konstruktiven Symbiose können Kinder ihren gesunden Autonomiebestrebungen nachgehen und sich selbst ausprobieren. Sie werden weder überfordert noch unterfordert. Überfordert werden Kinder, wenn sie sich z.B. schon sehr früh um jüngere Geschwister kümmern müssen, weil die Mutter eine Entlastung braucht. Unterfordert werden Kinder z.B., wenn die Eltern ihnen nichts zutrauen und ständig in Angst sind, dem Kind könne etwas passieren.

Als Jugendliche brauchen wir eigene Freiräume, in die sich die Erwachsenen nicht einmischen. Der Freundeskreis oder die sogenannte Peergroup wird wichtiger als die Familie. Es können sich eigene Wertvorstellungen entwickeln, die sich von denen der Eltern unterscheiden. Ebenso entwickeln sich die eigene Sexualität und das Interesse am anderen Geschlecht. Wir können entscheiden, welche Menschen uns gut tun und von welchen wir uns lieber fernhalten.

Aus einer konstruktiven Symbiose zwischen Kind und Eltern entwickelt sich ein gesundes Autonomiebedürfnis. Mit einem gesunden Autonomiebedürfnis können wir als Erwachsene eine konstruktive Symbiose leben.

Mit einer gesunden Autonomie entwickeln sich konstruktive Symbiosen

Wir leben nicht nur als Säuglinge in einer Symbiose, nach der Begriffsdefinition von Franz Ruppert, sondern auch als erwachsene Menschen brauchen wir symbiotische Beziehungen, in denen wir uns gegenseitig unterstützen und fördern, ohne ineinander aufzugehen oder einander zu vereinnahmen. Dies gilt für alle Beziehungen, ob nun in einer Liebesbeziehung, in einer Freundschaft oder in einer Arbeitsbeziehung.

Wir brauchen unsere eigenen Interessensgebiete, unsere eigenen Gedanken und Wertvorstellungen, die sich von denen anderer unterscheiden können. Für eine konstruktive Symbiose bedarf es eines klaren Ichs, des Wahrnehmens der eigenen Grenzen und Achtung und Wahrung der Grenzen anderer. Menschen, die sich z. B. für ihren Arbeitgeber, für ihren Verein, für ihre Familie aufopfern, völlig darin aufgehen, sind keine wirkliche Hilfe für die anderen, sondern eher „Sklaven“ ihrer eigenen Abhängigkeitsängste (Ruppert, 2010 S. 50)

 

Literatur:

Assel, B. (2009). Von der Familienaufstellung zur Traumaaufstellung: Praxis der Systeamaufstellung,1, S. 35 – 42.

Ruppert, F. (2002). Verwirrte Seelen. Der verborgene Sinn von Psychosen. Grundlagen einer systemischen Psychotraumatologie. München: Kösel Verlag

Ruppert, F. (2005). Trauma, Bindung und Familienstellen. Seelische Verletzungen verstehen und heilen. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Ruppert, F. (2007). Seelische Spaltung und innere Heilung. Traumatische Erfahrungen integrieren. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Ruppert, F. (2010) Symbiose und Autonomie. Symbiosetrauma und Liebe jenseits von Verstrickungen. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Wilson Schaef, A. & Fassel, D. (1998). Suchtsystem Arbeitsplatz. Neue Wege in Berufsalltag und Management. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Gruen, A. (2009). Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Zimmer, K. (1998). Erste Gefühle. Das frühe Band zwischen Kind und Eltern. München: Kösel-Verlag.

 

Birgit Assel ist Diplom-Sozialpädagogin und Traumatherapeutin. Seit 1998 ist sie in eigener Praxis tätig, seit 12 Jahren mit dem Schwerpunkt „Traumatherapie“ in Zusammenarbeit mit Franz Ruppert, seit 9 Jahren Anbieterin von Weiterbildungen, Aufbaukursen und Supervisionen.

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