Proteste in Umm al Fahm

 In FEATURED, Politik (Ausland)

Von den israelischen Behörden im Stich gelassen, sind palästinensische Bürger Israels mit internen Spaltungen konfrontiert. Bei den bevorstehenden israelischen Wahlen steht Gewalt als wichtigster Punkt auf der Tagesordnung der palästinensisch-israelischen Bürger, insbesondere die Polizeigewalt. Demonstranten in Umm al-Fahm fordern von der Polizei Rechenschaft für die Anwendung exzessiver Gewalt gegen friedliche Protestierer. Unterdessen hat das politische Chaos in Israel zur Spaltung der arabisch-jüdischen Vereinten Liste geführt. Es weist aber auch auf Risse in der rassistischen Politik der israelischen Regierungen hin, die in der Vergangenheit nicht-jüdische Politiker von Regierungspositionen ausschlossen. Quelle: BIP

In den letzten Wochen vor den Wahlen in Israel, die für den 23. März angesetzt sind, finden unter der palästinensischen Bevölkerung in Israel weit verbreitet Proteste statt – also kurz vor der Wahl zu einem entscheidenden Zeitpunkt.

Bei den letzten Wahlen im März 2020 wurde die Vereinte Liste, ein Zusammenschluss von vier Parteien, die palästinensische und jüdische Bürger in Israel vertreten, zur drittgrößten Fraktion in der Knesset (siehe BIP-Aktuell #112). Als die beiden größten Parteien eine Einheitsregierung bildeten, sollte die Vereinte Liste die Opposition anführen, was ihren Mitgliedern in der Knesset einen noch nie dagewesenen Zugang zu wichtigen Informationen, z.B. in den monatlichen Briefings durch den Geheimdienst Mossad, und eine noch nie dagewesene Legitimität verschafft hätte. Durch die Spaltung der Blau-Weiß-Partei kurz vor dem Beitritt zur Einheitsregierung wurde die Partei „Jesch Atid“ mit gerade genug Sitzen jedoch zur größten Oppositionspartei und verhinderte dadurch, dass die Vereinte Liste die Opposition anführt.

Israelische Politiker der zionistischen Parteien, allen voran Premierminister Netanjahu, haben in der Vergangenheit gegen die Vereinte Liste polemisiert und versucht, sie zu delegitimieren. Vor der anstehenden Wahl hat Netanjahu jedoch eine drastische Änderung seiner Rhetorik vorgenommen: Sich selbst scherzhaft „Abu-Yair“ nennend, startete Netanjahu eine Kampagne auf Arabisch, um palästinensisch-israelische Wähler anzulocken. Sein durchsichtiges Ziel: Er weiß, dass er die Stimmen dieser Wähler benötigt, weil er nur dann Premierminister bleiben und als solcher die Gerichte manipulieren und sich vor einer Verurteilung in den ihm zur Last gelegten Korruptionsfällen schützen kann.

Mansour Abbas, Führer der Partei Raam, die mit der Islamischen Bewegung des Südens verbunden ist, hat sich von der Vereinten Liste abgespalten. Er schließe nicht aus, sagte er, Netanjahu als Premierminister zu unterstützen und seiner Koalition beizutreten. Abbas bezeichnet sich selbst als einen konservativen Politiker. Diese Spaltung der Gemeinsamen Liste ist zwar ein Schlag für die Einheit und die politische Macht der palästinensischen Bürger Israels, aber sie bricht auch den Boykott gegen sie auf. Die israelischen Medien betrachten die palästinensischen Israelis nicht mehr als homogene Gruppe. Eine Folge davon ist, dass Politiker der Rechten (wie Netanjahu) und der Mitte (wie Yair Lapid), möglicherweise auch nur aus wahltaktischen Gründen, aufgehört haben, die „arabischen Parteien“ grundsätzlich von einer Regierungsbeteiligung auszuschließen.

Etwa 1,9 Millionen der israelischen Bürger sind Palästinenser, die zwar die israelische Staatsbürgerschaft und einen israelischen Pass besitzen, aber nach dem Nationalstaatsgesetz aus dem Jahr 2018 keine nationalen Rechte haben. Die Abspaltung dieser israelischen Palästinenser vom Rest der palästinensischen Bevölkerung ist laut UNO ein Grundpfeiler des israelischen Apartheidsystems.

Die palästinensischen Bürger in Israel waren von 1948 bis 1966 einer Militärherrschaft unterworfen. Der israelische Historiker Hillel Cohen zeigt in seinem Buch „Good Arabs“ die verschiedenen Mechanismen auf, mit denen die israelischen Regierungen diese Bevölkerung kontrollierten und unterdrückten: mit Einschüchterung, Bestrafung und Überwachung. Palästinensische Bürger hingegen, die mit den israelischen Behörden kollaborierten, erhielten Waffen und die Genehmigung zum Waffenbesitz. Diese jahrzehntelange Praxis führte zu einer Verbreitung von Schusswaffen unter Palästinensern in Israel. Es entstanden mehrere Gruppen des organisierten Verbrechens, und schließlich kam es zu Morden an Familienmitgliedern, vor allem an Frauen – zu Unrecht als „Ehrenmorde“ bezeichnet.

Palästinensische Knessetmitglieder haben gefordert, dass die Waffen eingesammelt werden, aber diese Bitte wurde von den israelischen Regierungen jahrelang ignoriert. Der Waffenbesitz wurde von der israelischen Regierung benutzt, um palästinensische Bürger generell als Kriminelle oder Terroristen zu stigmatisieren. So verwendeten israelische Polizeikräfte im Oktober 2000, als die zweite Intifada ausbrach, scharfe Munition, um während der Proteste dreizehn unbewaffnete palästinensische Bürger zu töten. Der derzeitige Polizeiminister Amir Ohana hat die Polizei eingesetzt, um Demonstranten gegen Netanjahu anzugreifen und angeordnet, Gefangenen in israelischen Gefängnissen, insbesondere palästinensischen Gefangenen, den Zugang zu Covid19-Impfstoffen zu verweigern. Der oberste Gerichtshof hat ihn jedoch gezwungen, sie impfen zu lassen. Vor ihm sagte der Polizeiminister Gilad Erdan im Jahr 2019, dass „die arabische Gesellschaft von Natur aus gewalttätig ist, das sind kulturelle Codes. Konflikte, die wir mit einem Rechtsstreit lösen – sie ziehen Messer und setzen Waffen ein.“ Er leitete als Minister für strategische Angelegenheiten von israelischer Seite den Kampf gegen BDS (siehe BIP-Aktuell #114).

Die palästinensische Bevölkerung ist frustriert und desillusioniert, weil die israelische Polizei ihnen Hilfe verweigert. Vielmehr schickt sie nur deshalb paramilitärische Polizeieinheiten in palästinensische Städte und Dörfer, um ihre Macht durchzusetzen und die eigene Sicherheit bei Hauszerstörungen zu gewährleisten. In der palästinensischen Gesellschaft besteht Konsens darüber, dass es niemanden gibt, der ihnen helfen kann, vielmehr ist das Verhalten der israelischen Polizei Teil des Problems, nicht der Lösung. Palästinensische zivilgesellschaftliche Organisationen haben Proteste gegen die Gewalt organisiert.

Bei einem solchen Protest in der Stadt Umm al-Fahm am Freitag, 26. Februar, griff die Polizei die Demonstranten mit Schlagstöcken an, als diese gegen die unmenschliche Behandlung durch die Polizei protestierten. Polizisten in Zivil, die sich unter die Demonstranten gemischt hatten, zerrten einige der Demonstranten weg und verhafteten sie. 35 wurden verletzt, unter ihnen der Bürgermeister von Umm al-Fahm, Dr. Samir Mahammid, der später sagte, dass die Polizei „uns wie Feinde behandelt“ (Hebräisch).

In Umm al-Fahm ist eine neue Bewegung namens „al-Herak al-Fahmawi al-Muwahad“ entstanden (Vereinigte Bewegung der Menschen aus Umm al-Fahm). Sie fordert eine Untersuchung der Polizeigewalt vom 26. Februar und hatte für den darauffolgenden Freitag (5. März) eine noch größere Demonstration mit 20.000 Teilnehmern organisiert. Die Demonstranten verspotteten das Knessetmitglied Mansour Abbas wegen seiner Unterstützung der Netanjahu-Regierung.

Das Redaktionsteam von BIP-Aktuell besteht aus dem Vorstand und dem Geschäftsführer Dr. Shir Hever.
V. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

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