Resonanzen: Musik der Romantik und Spiritualität des Klosters im Einklang (2)
Eine Suche nach dem Grenzverkehr zwischen Musik und Spiritualität, zwischen Inspiration und Mystik. 2) Die Grotte des Klaviermönchs. Lubomyr Melnyk spielt ohne Unterlass, in einer ununterbrochenen Reihung von Tönen, wobei er Pianist und Komponist zugleich ist. Dies erinnert an die mönchische Vorstellung vom „Gebet ohne Unterlass“. Ist der in der Ukraine geborene Lubomyr etwa ein „Mönch des Pianos“? Er selbst betrachtet gute Musik jedenfalls als „Dienst an Gott“ – speziell auch im Geist der Romantik, die laut Rüdiger Safranski die „Fortsetzung der Religion mit ästetischen Mitteln“ ist. (Thomas Quartier OSB)
Ein Mann betritt einen überfüllten Saal, Menschen sitzen auf Stühlen, stehen, lehnen an den Wänden. In der Mitte steht ein einfaches, ein wenig betagt wirkendes Klavier. Dies ist kein klassischer Konzertsaal, und der Mann trägt keinen Frack. Eher gleicht die Spelunke einer alternativen Location für kulturelle Events. Der Mann gleicht übrigens eher einem orthodoxen Mönch als einem Bühnenkünstler: lange Haare, langer Bart und eine Kleidung, die an eine Ordenstracht erinnert. Er setzt sich zwischen den Menschen ans Klavier und fängt einfach an zu spielen. Er versinkt, als ob er in eine Grotte tauchen würde. Die Klänge sind wie Wellen, sie wiederholen sich scheinbar endlos. Sie verschmelzen zu einem einzigen Klang. Beinahe fällt es nicht mehr auf, wie virtuos der Künstler spielt. Aus der Grotte hinter dem Klavier dringt ein spiritueller Klang hervor, der durch seinen schwebenden Charakter an die himmlischen Klänge in der jahrhundertelangen Klostertradition erinnert: glissando in extremis.
Der Pianist und Komponist ist der 1948 in der Ukraine geborene Lubomyr Melnyk. Nach einer klassischen Ausbildung am Konservatorium kam er in den siebziger Jahren als Bohemien in Paris mit der sogenannten “minimal music” in Berührung, eine Richtung, bei der durch kontinuierlich wiederholte kleinste Tonsequenzen ein beinahe hypnotischer Effekt erzielt wird. Er entwickelte seinen eigenen Stil als des Komponierens und Klavierspielens. Diesen nannte er “continuous music”, eine Art des Musizierens ”ohne Unterlass”. Melnyk spielt die Noten so schnell, wie es auf keinem anderen Instrument als dem Klavier denkbar wäre. Manchmal sind neunzehn verschiedene Noten pro Sekunde zu hören. Das brachte ihm den inoffiziellen Titel “schnellster Pianist der Welt” ein. Was schwindelerregend klingt, fühlt sich jedoch eher wie eine sanfte Hülle an, eine kühle Grotte des Gleichgewichts und der Ruhe. Wie ist es möglich, dass diese Inspiration inmitten einer scheinbar unruhigen Fingerübung durchschimmert? “Das Klavier ist der einzige Ort, an dem ich wirklich wohne. Dort kann ich ganz ich selbst sein und mich ausdrücken”, so Lubomyr, der auf meine Einladung hin gerne bereit ist einen Dialog mit mir als Mönch zu führen. Wir beide wollen „die Welt romantisieren“, so sind wir uns schnell einig. Der Geist der Romantik spiegelt sich im Mut zum schönen, einheitlichen Klang bei Lubomyr genauso wie in der Einheit der Lebensform beim Mönch.
Zurück zur Grotte: sie dient dem Künstler nicht, dazu, sich zu verstecken, sondern im Gegenteil ganz bei sich selbst zu sein, so wie ein Mönch das in seiner Zelle ist. “Bei sich selbst zu sein”, indem man einen bestimmten abgelegenen Ort aufsucht, ist eine alte monastische Gewohnheit. Gregor der Große sieht diese auch schon bei Benedikt von Nursia, über den er im sechsten Jahrhundert eine Biographie schreibt (Vita Benedicti). “Darum also wollte ich sagen: der heilige Mann wohnte in sich selbst, weil er stets wachsam auf sich achtete, sich immer unter den Augen des Schöpfers sah, sich allzeit prüfte und Auge des Geistes nicht außerhalb seiner selbst umherschweifen ließ“ (VB 3,7). Die Bildsprache des „Wohnens in sich selbst“ ist durchaus eine charmante Umschreibung der Klaviergrotte, so mein Eindruck beim Spiel des Klaviermönchs. Aber sind die spirituellen Schuhe, die dadurch dem Pianisten angezogen werden, nicht doch eine Nummer zu groß? Ist ein solcher Vergleich kein spiritueller Hype um einen Mann, der eigentlich nichts anderes will, als ohne Unterlass Klavier zu spielen und dabei in Ruhe gelassen zu werden? Nein, denn direkt ergibt sich die nächste Parallele. So wie Lubomyr „ohne Unterlass“ spielt, beten Mönche in allen Traditionen „ohne Unterlass“. Vielleicht ist es also doch die Mühe wert, den Dialog zwischen Mönch und Klaviereremit zu führen: ohne Unterlass nach dem einen Klang auf der Suche.
Beginnen wir aus monastischer Sicht beim heiligen Benedikt: auch er tat nichts anderes, als zu sein, wo er seiner inneren Wahrnehmung nach hingehörte. Er zog sich drei Jahre als Einsiedler in eine Grotte im italienischen Subiaco zurück. Seine Ausstrahlung, die im Benediktinerorden bis heute anhält, kam zustande, weil er „mit sich wohnte“ (habitare secum). Und wo wohnt Lubomyr Melnyk? Wie er schon sagte, nirgends anders als beim Klavier. Er misst dem eine existenzielle Bedeutung bei, und wird nicht umsonst von vielen „der Prophet des Klaviers“ genannt. Er spielt nicht einfach gefällig, auch wenn seine Musik sich sehr wohltuend anhört. Nein, er scheut sich nicht, religiöse Töne verlauten zu lassen: “Ich bin davon überzeugt, dass jede gute Musik ein Dienst an Gott ist. Wenn sie schön klingt, dann strahlt sie Schönheit und himmlische Freude aus, die jedem in die Seele dringt. Das ist kein bewusstes Ziel, keine Mission des Komponisten und Pianisten – es ist die Teilhabe an der großen Erfahrung von Kunst und Musik. Die Romantik erfordert das Wagnis, Schönheit zuzulassen“.
Die wunderlichen Klänge, die Lubomyr dem Klavier entlockt regen die spirituelle Phantasie an. Der Pianist nimmt nicht nur optisch monastische Züge an. Das Instrument wird der spirituelle Resonanzraum, aus dem heraus der höchste künstlerische Ausdruck möglich ist. “Siehst Du Dich selber als eine Art Mönch?”, frage ich den Künstler. “Du bist der erste und einzige, der diese Dimension in meinem Leben wahrnimmt: ja, der ‘continuous’ Pianist ist ein Mönch, der durch die Welt reist und die Musik zu den Menschen bringt”, so lautet seine Antwort. Aber lohnt sich die Mühe, sein ganzes Leben darauf zu verwenden – als fahrender Mönch, so ganz ohne Kloster, ohne Zelle und Stabilität? Der spirituelle Weg sollte doch eher nach innen führen und nicht ständig in die Welt hinaus? Ist das Leben des fahrenden Klaviermönchs nicht unglaublich ermüdend? Lubomyr gibt die entscheidende Antwort auf diese Frage, indem er seine Konzerte als “Liturgie” bezeichnet. Was für mich als Mönch das Chorgestühl, ist für ihn das Klavier: “Jedes Mal wenn ich das Klavier berühre, entsteht eine wunderbare Einheit – es ist Liebe und Gottesdienst. Das Klavier liebt mich. Die meisten Leute werden es nicht verstehen, ich liebe es auch”.
“Ist das nicht verrückt?”, denke ich bei unserem Dialog. Eine Liebesbeziehung mit einem Musikinstrument, die auch noch gegenseitig ist? Aber einen Moment, auch in der Liturgie entwickelt man eine Liebesbeziehung, indem man sich ganz und gar dem heiligen Spiel hingibt – eine Beziehung mit Gott, so empfinde ich es als Mönch. Das Klavier hat hier eine quasi-sakramentale Qualität, genau wie die Grotte des Einsiedlers, der Menschen sich voller Andacht nähern, ohne dass sich etwas augenscheinlich Besonderes da im Felsen befinden würde.
Es ist eine durch und durch romantische Realität, dass eine Antwort aus dem heiligen Raum zu vernehmen ist! Das Spiel des Klaviermönchs in seiner Grotte ist durch und durch rituell, liturgisch: “Ein Klavier bringt mich in eine Gebetshaltung, in der all jene großen Dinge entstehen, die ein Spiel ohne Unterlass, eine kontinuierlicher Fluss, bedeutet. Das ist wie eine Reinigung von Leib und Seele”. Der Mönch am Klavier wird von seinem Spiel in höhere Sphären getragen, an einen unbekannten Ort, durch die ununterbrochene Abfolge unzähliger, schnell nacheinander gespielter Noten. Das ist der monastische Rhythmus genau dieses Moments – unbekannt und doch vollkommen präsent. Die CD, die nach unserem Klavier-Kloster-Dialog erklingt, trägt den Titel “Illirion”. Wer nun verzweifelt in seinem Gedächtnis oder im Wörterbuch nach der Bedeutung dieses Griechischen Wortes sucht, sei getrost: das Wort existiert eigentlich nicht. Lubomyr dazu: “Es ist eine Wortschöpfung für etwas Unaussprechliches. Eigentlich deutet es schlicht den einen Moment im Leben an”.
“Ist das nicht spirituell?”, denke ich nach diesen quasi-mönchischen Aussagen. Wenn man sich so intensiv auf einen spezifischen Moment richtet, indem man seine Tonrituale in großer Regelmäßigkeit und mit hoher Frequenz ausführt, und das alles „vor dem Angesicht Gottes“, dann ist das genau was Gregor der Große meinte mit „Wohnen mit sich selbst“. Da die Klänge selbst auf CD zu Wellen werden, die Noten auf mystische Weise einen einzigen Klang bilden, kann man mit Fug und Recht von einer monastischen Erfahrung mit dem Klaviermönch in seiner Grotte reden – wie ich es gerade tue.
Wenn Melnykam nächsten Abend in einer anderen Stadt erneut abtaucht, hinter einem anderen Klavier, mit dem er dieselbe Liebesbeziehung unterhält, dann ist das ein und dieselbe Grotte. Es ist kein anderer Ort, auch wenn er in einer anderen Stadt ist, denn er wohnt überall und nirgends: bei seinem Klavier – das für ihn Zelle und Chorgestühl in einem ist. Man könnte, wenn man ihm zusieht, beinahe den Eindruck gewinnen, dass er auf der Bühne verschwindet. Das ist vielleicht ein komischer Gedanke für einen Bühnenkünstler, der sich nun gerade inszenieren soll. Aber Lubomyr versteht mich sofort: “Manchmal spüre ich meine Finger beim Spielen nicht einmal. Als ob ich nicht selber spiele”. Sich selber zu verlieren, bedeutet, spirituelle Offenheit zu gewinnen. Dafür zieht der Eremit sich in seine Grotte zurück und taucht der Klavierspieler ohne Unterlass hinter seinem Klavier ab. So merkwürdig das alles auch klingen mag, “wohnen mit sich selbst” tut dieser Klaviermönch auf jeden Fall, nur eben auf seine ganz eigene Art und Weise. Mit diesem Gedanken kann jeder sich in seine eigene Grotte, seine Zelle, sein Chorgestühl zurückziehen. Mit Spielen ohne Unterlass kehre auch ich – ganz Romantiker, der die Welt zu einem heiligen Ort machen will – in mein Kloster zurück.