Schwierige Produktionsbedingungen für den jungen Marx

 In Filmtipp, Kultur

Mitunter scheitern Filmprojekte in sympathischer Weise. Die MacherInnen von »Der junge Karl Marx« haben sich etwas vorgenommen, was unter heutigen Bedingungen des Filmschaffens und der Filmrezeption wohl als unmöglich gelten darf. Ihr Versuch verdient deswegen Beachtung. (Frank Jödicke, www.skug.at)

Eine Biblia pauperum macht es sich zur Aufgabe, die wichtigsten Stationen der Leiden Christi gemeinsam mit der wesentlichen Botschaft der Kirchenoberen unter die Leute zu bringen. Bei einer solchen »Greatest-Hits-Kompilation« darf sich weder vor Vereinfachungen gefürchtet werden, noch vor tendenziösen Zusammenstellungen. Der arme Leidensmann, zu dem leicht eine emotionale Beziehung aufgebaut werden kann, wird dabei an eine unters Volk zu bringende Message geknüpft. Widersprüche, Ungenauigkeiten werden großzügig übersehen und das Ganze dann am besten mit Bildern geliefert, weil die Dummen bekanntlich nicht gerne lesen (sofern sie es überhaupt können). Folgerichtig erkannte der aus einem klerikalen Haushalt stammende Ingmar Bergman in dem überwiegenden Teil der Filmschaffenden Produzenten von Armenbibeln. Dies passte Bergman nicht, aber auch er wusste um die medialen Grenzen, die sich durch die gerade noch erträgliche Filmlänge und Komplexität ergeben. Selbst seine filmischen Meisterwerke wären als Novellen abgedruckt seltsam simple und verkürzte Geschichtlein.

Bei »Der junge Karl Marx« übernimmt eben dieser die Rolle des Erlösers und da es keine Kirchennachrichten zu verbreiten gibt, sollen an seine Person ungefähre Züge der Lehre des dialektischen Materialismus geknüpft werden. Das kann natürlich nicht klappen. Trotzdem ist der Film recht sehenswert, weil er seine unlösbaren dramaturgischen Probleme teils charmant umgeht. Also zumindest für Menschen, die gerne Vorträge hören oder Lust haben, gespannt Redaktionssitzungen zu verfolgen. Denn genau daraus besteht die Filmhandlung. Abgesehen von einigen Entspannungsszenen (Wir dürfen dem Geschlechtsakt der Eheleute Karl und Jenny beiwohnen sowie der Flucht von Marx und Engels vor der Polizei) besteht der Film aus abgefilmten Diskussionen. Die meisten Gerichtsdramen sind Actionstreifen im Vergleich, da sie ihren logischen Höhepunkt im Urteilsspruch haben dürfen. Tja, aber wann wurde denn das Urteil über den Marxismus verhängt? Vermutlich ist es noch ausstehend. Die gesamte Menschheitsgeschichte bietet keine Szene zur Reinszenierung an, die beweisen würde, wie wirksam oder eben wirkungslos das Streben von Marx war. Folglich bedient sich der Film des Kniffs, mit der gerade noch erledigten Fertigstellung des »Kommunistischen Manifestes« zu enden und diese als einen End- und Höhepunkt dazustellen, der es vermutlich gar nicht war.

Das Volk spürt die Strafe, aber sieht das Verbrechen nicht

Die beiden Drehbuchautoren Pascal Bonitzer und Raoul Peck haben sich sorgfältig durch die umfangreiche Materie gearbeitet. Sie erfinden Szenen mit den bedeutsamen Begegnungen zwischen Marx, Bakunin oder Proudhon. Der Film geht dank seiner historischen Bedachtsamkeit als Proseminar durch. Darüber hinaus hat die Sache Herz. Die Motivation der verschiedenen Väter und Mütter (Jenny von Westphalen und die Schwestern Mary und Lydia Burns erhalten eine lobenswert breite Bühne) des Sozialismus soll spür- und begreifbar werden für das Publikum. Und da tapst das Unternehmen in seinen ersten eklatanten Widerspruch.

Der Film bleibt in seiner Gestaltung an die bekannten dramaturgischen Kniffe der Filmunterhaltung gebunden und verzerrt damit das Leben durch das Prisma des Außergewöhnlichen. Bei Godard sagt eine Figur jenen berühmten Satz »Warum sehen wir im Film nie jemanden arbeiten?« Ja warum eigentlich? Nun, weil es langweilig und ermüdend ist. Was Marx und Engels warmherzig und mit revolutionärem Eifer intellektuell aufgriffen, war das Leid und die Not der ArbeiterInnen. Dies wird aber keine Sekunde im Film gezeigt. Wir sehen kurz die mäßig faszinierenden alten Spinnmaschinen rattern und wir sehen die Aufstände, die heroischen Momente, in denen Mary Burns etwa die Arbeit niederlegt und erhobenen Hauptes die Spinnerei verlässt. Fein, aber das eigentliche Thema, die unmenschliche und unnötige Zermürbung und Zerstörung menschlichen Lebens zum einzigen Behufe der Profitsteigerung, die sehen wir nicht. Die erscheint nur als Behauptung in den flammenden Reden von Marx und Engels.

Deren geistige Arbeit wiederum wird selbstverständlich auch nicht bebildert. Es sind auch hier nur die aufregenden Momente der rebels with a good cause, wenn Engels etwa seinem Unternehmer-Vater widerspricht, die der Film uns bietet. Die langwierige und zähe Arbeit beispielsweise mit der von Marx leidenschaftlich verfluchten Nationalökonomie, die er als grausam langweilig erachtete, bleibt unbebildert. Wie sollte dies auch gehen? Dadurch muss der Film ein wenig am üblichen eskapistischen Grundprogramm dieses Mediums scheitern. Das eigentliche Drama und somit das Kernthema muss außen vor bleiben. Die von Fassbinder und Konsorten oftmals beweinte unerreichte Utopie des Films, das Leben selbst zu zeigen, bleibt weit entfernt in »Der junge Karl Marx«. Es scheint sogar, als sei den MacherInnen dieser Mangel kaum mehr bewusst und als würden sie es für ganz natürlich und unumgänglich halten, ihr Publikum mit Filmerzählungen abzuspeisen, die das Eigentliche stets verfehlen.

Die Sache mit der Revolution

Der zweite himmelschreiende Widerspruch liegt in der Illustration der Revolution durch diesen Film. Die alte Frage, ob ein (Film-)Drama eine Revolution überhaupt darstellen kann, beantworte Sergej Eisenstein mit: »Ja, eine gescheiterte.« Diese kann dramaturgisch bebildert werden, eine geglückte aber aus vielerlei Gründen nicht. Die geglückte wäre nämlich entweder das frei erfundene Gewäsch einer Fantasiewelt oder müsste logischerweise innerhalb einer historischen Situation nach der Revolution entstehen. Eine solch veränderte Lage wäre auch den unaufmerksameren Teilen des Publikums wohl nicht entgangen. Hierin allein liegt ein Grund dafür, weshalb beispielsweise sowjetische Propaganda-Filme, die das Eiapopeia einer nach-revolutionären, klassenlosen Gesellschaft zeigen wollen, so unfreiwillig komisch und absurd erscheinen.

Seltsamerweise versucht sich der »Der junge Karl Marx« ein wenig an solchem Käse, indem er die geglückte Revolution zumindest im kleinen Kreise zu argumentieren versucht. Zunächst macht sich der Film klug und geschickt daran, den geistigen und politischen Weg von Karl Marx nachzuzeichnen. So gelingt es etwa zu zeigen, wie sich Marx gegen die inadäquaten, idealistischen Windeier der sozialistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts verwehren musste. Der Film zeigt Marx und Engels nach einer Zechtour am Ausarbeiten der »Kritik der kritischen Kritik« und lässt uns miterleben, wie die beiden an der Schmähung der ehemaligen Studienkollegen von Marx echten Gefallen finden. Der Film bebildert ihren Arbeitseifer und ihre Spottlust. Dass die beiden Materialisten sich damals übrigens schwergewichtigere Gegner hätten suchen können, um den Idealismus in die Tonne zu klopfen – schließlich war Engels bei Schelling in Berlin gewesen und hatte dessen »Philosophie der Offenbarung« gehört –, ist aus heutiger Sicht ewig bedauerlich. Der Film zeigt aber, wie wichtig es für die beiden war, sich mittels dieser Schrift, später unter dem Titel »Die Heilige Familie« veröffentlicht, loszueisen vom Wolkenkuckucksheim-Idealismus, weil dieser eben unpolitisch zu sein pflegt.

Deutlich wird dies in der Auseinandersetzung mit dem erleuchteten Wilhelm Weitling oder den Londoner Konfrontationen mit dem »Bund der Gerechten«, der die Notwendigkeit eines Klassenkampfes übersah und sich mit den wirtschaftlichen Grundlagen der Unterdrückung der ArbeiterInnen nicht abgeben wollte. Marx und Engels finden hier im Film klare und trotz der Verknappung durch die Filmhandlung durchaus nachvollziehbare Worte. Wer eine revolutionäre Veränderung der Verhältnisse anstrebt, braucht ein Programm, das die ökonomische Logik der bestehenden Herrschaft begreift, bekämpfe kann und durch eine mögliche Alternative zu ersetzen weiß. Folglich präsentiert Engels ein neues Label mit Motto: »Bund der Kommunisten – Proletarier aller Länder …«. Ohne Frage einer der stärkeren Momente des Films, weil hier durch die hitzigen Debatten des Parteikonvents dramatisches Material vorliegt. Nur, wie in der Umbenennung der Arbeiterbewegung, der glücklichen Aufnahme von Marx und Engels in deren Reihen und der späteren Formulierung des Kommunistischen Manifestes – just in time – eine Art geglückte Revolte argumentiert werden soll, hat Züge des Grotesken. Am Ende des Films verweist dieser per Insert auf die Mitte des 19. Jahrhunderts losbrechenden Revolutionen in Europa und stellt sie als durch Marx und Engels mitinitiiert da. Gut, mag sein. Aber wie sind die denn ausgegangen? Die blutige Niederschlagung der Pariser Kommune etc. hätte der aufheiternden Conclusio des Films einen gewissen Abbruch getan. Nun müssen sich die gedankenvolleren BetrachterInnen am Ende von »Der junge Karl Marx« fragen, wo sich denn die Spuren der marxistischen Revolution in ihrem Alltagsleben finden lassen. Mit Verlaub: Wer so locker über die Möglichkeit revolutionärer Umgestaltung drüber streift, kann eine wahre und wirkliche Veränderung der Verhältnisse nicht fest in den Blick genommen haben.

Der Revolutionär im beschaulichen Familienkreise

Keine Frage, der Film zerschellt an diesen beiden großen immanenten Widersprüchen. Allerdings, welcher Film, der sich einer solchen Thematik gestellt hat, tut dies nicht? Es mag sein, der Film fühlt sich in der Ausgestaltung einer prächtigen und beschaulichen Armenbibel gar nicht so unwohl und beweist dabei auch gewisses Geschick. So sind beispielweise die Hauptdarsteller empörend liebenswürdig. Man möchte sie alle knuddeln. Dass der Film hier nochmals Ecken und Kanten verliert, kann ihm kaum mehr vorgeworfen werden, angesichts seiner sehr sperrigen Thematik. Was sollten die SchauspielerInnen auch tun angesichts ihrer wenig griffigen Dialoge? Sie mussten versuchen, das schwere Material notdürftig menschlich zu verkleistern. Jean-Marie Straub und Danièle Huillet hätten sicherlich das Spröde spröde gelassen und wären auf die Suche nach intellektuellen und künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten gegangen. Aber Raoul Peck und Co. wollten Schwung in die Story bringen mit den konventionellen Gestaltungsmitteln des Unterhaltungsfilms und folglich wird fleißig gemenschelt. Und das nicht einmal schlecht. Wer seine intellektuellen Schutzvorrichtungen während des Glotzens ein bisschen lockert, darf sich in August Diehl, Stefan Konarske und Vicky Krieps ein bisschen verlieben. Und schließlich, niemand genießt Film ohne ein Quäntchen Kitschaffinität.

Selbstverständlich wird dadurch ein Fantasiegemälde nah an den Bedürfnissen des Publikums geboten, das sehr weit entfernt ist von der eigentlichen suggerierten historischen Authentizität. An einer Stelle sagt Jenny zu Engels: »Bitte achten Sie auf meinen Mann, Sie sind so sportlich, aber er ist es nicht.« Die Vermutung darf angestellt werden, ihre Rede an Engels hätte im Jahr 1843 wenig bis überhaupt keinen Sinn ergeben, weil es eben noch keinen Sport gab. Es zeigt sich, Jenny und alle anderen Figuren des Films reden mehr oder weniger so, wie heute geredet wird. Ein weiteres kaum lösbares Problem. Hätten die Autoren sich an der literarischen Meisterleistung versucht, die Dialoge in die Sprache des 19. Jahrhunderts zu übertragen, dann wäre dem Film wohl nochmals die Hälfte seiner potenziellen ZuschauerInnen abhandengekommen. Nun steht er vor dem Dilemma, dass einem in marxschen Gedankenwelten unerfahrenen Publikum das meiste dennoch recht »hebräisch« vorkommt, den Kennerinnen und Kennern aber aufstoßen muss, wie wenig marxartig der Marx da redet. Schließlich ist uns sein kolloquialer Ausdruck über Briefe umfassend dokumentiert. Marx à la Marx, hier versuchsweise: »Besuchte Saturday eines jener neuen Kabinette mit Cinematopgraphen. Gegeben wurde ›Der junge Karl Marx‹. Mein Interesse war somit naturgegeben. Der Film nimmt sich ganz au sérieux und glaubt in der Tat, dass er Leben und Streben des Herrn Marx und old Engels einzufangen im Stande sei. Mais, oberflächliche Halunken waren hier am Werk und liefern totgeborene Scheiße.« Nun, so etwa hat er seine Briefe geschrieben und vermutlich auch geredet. Französische und englische Einsprengsel, gerne Genitiv und viel Gefluche. Da sich übrigens unmöglich sagen lässt, was old Charly von dem Film gehalten hätte, sind die Urteile rein zufällig gewählt und – wer weiß – vielleicht hätte ihm der Streifen sogar gefallen. Nur das Spotten und Lästern mittels sehr unumwundener Worte, das war schon sehr typisch für Marx. Dass er in Raoul Pecks Film kaum flucht, wirkt ein wenig »abstrakt«. Warum eigentlich? Zielen die MacherInnen auf Schulaufführungen?

Was die übliche Authentizitätsmaschinerie betrifft, also Ausstattung, Kostüme, Frisuren und Szenenbild, dafür gibt’s jeweils einen Einser. Mit großem Aufwand wurde hier das fremde Jahrhundert nachgebastelt und so macht man das heute halt. Das tiefe, innere Ausleuchten fehlt – wie üblich. Ingmar Bergman hängte seinen Schauspielern zwei Kartoffelsäcke um und beschwor das Mittelalter. Heute sind die Unterseiten der Türknäufe exakt die gleichen wie auf alten Stahlstichen und trotzdem sieht alles aus wie Bildungsfernsehen. Es ist aber unfair, dies dem »jungen Karl Marx« vorzuwerfen, denn in diese Paradoxie hat sich die gesamte Filmindustrie entwickelt: oberflächliche Pedanterie.

Einprägsamer Schlussakkord

Der Film endet mit seiner besten dramaturgischen Leistung. Nachdem Marx seinen Widerwillen überwunden hat, wird in einer gemeinsamen Anstrengung von Marx, Engels, Jenny und Mary das »Kommunistische Manifest« mittels einer chaotischen Redaktionssitzung noch schnell zusammengeschustert, damit es termingerecht abgeschickt werden kann. Der Tisch ist übersät mit Manuskripten. Engels kann Marx’ Schrift nicht lesen. Er produziert ein seltsames Gestotter. Dann liest Jenny, die die Schrift ihres Mannes besser entziffert, ihr fällt auf, ein Teil fehlt. Marx findet den Wisch und Jennys Lesen wird schlüssiger und besser. Ja, auch das ist Schauspielkunst, einen Text gut zu verlesen. Und der Text ist fulminant. Es erinnert ein wenig an Pier Paolo Pasolini, der so schlau war, in einem der besten marxistischen Filme, die je gemacht wurden, »Das 1. Evangelium Matthäus« einfach buchstabengetreu verlesen zu lassen. Ein guter Text ist ein guter Text, und wer Ohren hat zu hören, wird davon ergriffen. Welche Bilder diesen Hymnus dann illustrieren, ist fast nebensächlich.

Aber auch das macht Raoul Peck geschickt. Plötzlich blendet er eine historische Fotografie der Familie Marx ein und ein wenig scheint aufzugehen: Ja, wir haben den Menschen Marx ein bisschen kennengelernt. Und vielleicht kann diese Nacherzählung, trotz ihrer beträchtlichen inneren Widersprüche, auf verqueren und seltsamen Wegen eine Verbindung zu seinem Werk ebnen. Es ist nicht auszuschließen. Dann blicken uns aus abgefilmten Tableaus vivants stumme Kindergesichter an. Dem leidenden Proletariat wird durch das Kommunistische Manifest eine Stimme gegeben. Okay, verstehe. Der Abspann kommt, Bob Dylan pfeffert rein und der ist bekanntlich gut. Zu seiner fetzigen Musik eine bunte Collage aus Fotos, die uns vor Augen führen, was danach geschah. Keine schlechte Auswahl: Lumumba und Bau der Berliner Mauer, Bomben auf Vietnam, Occupy und köstliche Bilder verzweifelter Broker. Stimmt, irgendwie hat das alles miteinander zu tun.

Der junge Karl Marx [Le jeune Karl Marx] Filmstart Österreich: 24.03.2017
Regie: Raoul Peck
Mit: August Diehl, Stefan Konarske, Vicky Krieps, Olivier Gourmet

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