Spiritualität, Religion, Esoterik, Mystik, Glaube (2/2)

 In Roland Rottenfußer, Spiritualität
Große, "magische" Augen: Wie Helena Blavatsky, Begründerin der Theosophie, stellt man sich eine Esoterikerin vor.

Große, “magische” Augen: Wie Helena Blavatsky, Begründerin der Theosophie, stellt man sich eine Esoterikerin vor.

Ein paar überfällige Begriffsklärungen. Das Misstrauen der „linken“ Szene gegenüber Spiritualität sitzt tief. Teilweise mag es auch daran liegen, dass der Begriff vieldeutig ist und nicht immer korrekt verwendet wird, wie ich in meinem Artikel „Was ist Spiritualität?“ dargelegt habe. Spiritualität sollte nicht grundsätzlich für die Fehler von institutionalisierter Religion und Esoterik in Mithaftung genommen werden. Sie sollte nicht als „kontaminiert“ von den Verbrechen der Inquisition oder dem abergläubischen Wortgeklingel esoterischer Nebelwerfer ad acta gelegt werden. Die Unterscheidung zwischen Religion, Esoterik, Spiritualität, Mystik und Glauben ist wichtig für die Einschätzung der damit verbundenen Weltanschauungen. Und obwohl es Überschneidungen gibt und einfache Urteile wie „Esoterik böse, Spiritualität gut“ zu kurz greifen, kann Information helfen, rationalistische Hexenjagden gegen alles Spirituelle zu beenden. (Roland Rottenfußer, 1. Teil des Artikels hier)

Esoterik – Geheimnis-Krämer im Nebel

Eine Esoterik, die Sie kennen, ist eigentlich gar keine Esoterik. Denn Sie (die Leserin, der Leser) dürften kaum Eingeweihte von Geheimlehren oder Adepten von Mysterienschulen sein. Esoterik bedeutet Geheimlehre für einen eingeweihten Kreis. Ihr Gegensatz ist Exoterik, der nach außen sichtbare, öffentlich gelebte Teil von Religion, wie er sich etwa in Ritualen und allgemein zugänglichen Schriften zeigt. Esoterik ist ihrem Wesen nach exklusiv (ausschließend). Ihr Motto ist Goethes Vers „Sag es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet“. Hinter der „Geheimnistuerei“ der Esoterik steht teilweise durchaus ein nachvollziehbarer Kern. Er besteht in dem Versuch der „Eingeweihten“, sich selbst vor Verhöhnung und Verfolgung zu schützen und die „Uneingeweihten“ vor den Folgen esoterischer Verrichtungen zu bewahren, auf die diese unzureichend vorbereitet sind. Für die Freimaurerei war Geheimhaltung in Zeiten der Verfolgung durch die katholische Kirche z.B. schlicht überlebenswichtig.

Esoteriker glauben, dass „Wissen“ (oder was sie dafür halten) verschwendet ist, wenn es auf dafür ungeeignete Empfänger trifft – wie das Saatkorn aus dem jesuanischen Gleichnis, das auf unfruchtbaren Boden fällt. Die gleichsam natürliche Hierarchisierung zwischen den Wissenden und den Unwissenden, den Eingeweihten und den Uneingeweihten gibt es prinzipiell auch in der Wissenschaft. Man denke etwas an die Physik und ihr reiches Formelwerk. Schon eine einfach und bekannte Formel wie „a² + b² = c² bedarf des „Eingeweihtenwissens“ darüber, dass sich die drei Buchstaben auf Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks beziehen. Wer darüber nicht Bescheid weiß, könnte die Formel als „langweiligen Kram“, als unverständlich oder als angeberische Selbstdarstellung von Physikern betrachten.

Eine andere Gefahr stellt für Esoteriker die Überforderung von Anfängern durch die vermittelten esoterischen Inhalte dar. Paramahansa Yogananda, Autor der „Autobiografie eines Yogi“, schreibt, dass der menschliche Organismus durch Übung erst nach und nach an einen Punkt geführt werden müsse, an dem er die Erleuchtung „aushalten“ könne. In diesem Fall durch die von Yogananda gelehrte Technik des Kriya-Yoga. Eine 50-Watt-Birne könne keine Stromstärke von einer Milliarde Watt aufnehmen. Sie würde zerspringen. Ebenso sei ein ungeübter Organismus nicht in der Lage, Gott zu beherbergen, ohne seine „Aufnahmekapazität“ zu erhöhen. Die Kriya-Atemtechnik ermögliche es dem Übenden schrittweise zu einem immer reineren Gefäß göttlicher Energie zu werden. Der Kriya-Yogi „füllt all seine Körperzellen mit unvergänglichem Licht und erhält sie dadurch in einem geistig magnetisierten Zustand.“ Diese Argumentationsweise ist typisch für den esoterischen „Wissensgeiz“, der in diesem Fall der Absicht nach einer Fürsorgepflicht entspringt.

Damit habe ich einen und „legitimen Kern“ von Esoterik zu formulieren versucht. Um diesen haben sich aber in der Geschichte der Esoterik zahlreiche irrationale und illegitime „Hüllen“ gebildet. Der Umgang mit Geheimnissen wurde einerseits durch Machtstrukturen aufgeladen, andererseits kommerzialisiert. Geheimnis-Krämerei habe ich dieses Phänomen genannt: der Handel mit Geheimnissen, deren Bedeutung zur Steigerung des Marktwerts mit allen Mitteln der PR aufgeblasen wird. Ein Einweihungswissen, das sich der Masse marktschreierisch aufdrängt, anstatt sich von den wenigen wirklich „Würdigen“, die für das Geheimnis brennen, suchen und finden zu lassen – das ist ein Widerspruch in sich. Der Geheimbund der Rosenkreutzer macht in Anzeigenkampagnen in mehreren einschlägigen Esoterik-Magazinen für sich Werbung. Als wolle er sagen: „Kuckt alle her, wir sind eine Geheimgesellschaft.“ Meist wird in esoterischen Schulen ein Stufenweg der Einweihung skizziert, wobei der Neuling auf einen Platz ganz unten verwiesen wird. Der Fahrstuhl (oder das mühsam zu erklimmende Treppenhaus) nach oben wird dem Aufstiegswilligen dann teuer verkauft. Esoterische Schulen sind ihrem Wesen nach undemokratisch und nicht-egalitär. Häufig gehen Esoteriker von einer Hierarchie der „Seelenaltersstufen“ aus. Man könne nicht zulassen, dass unmündige „Kinder“ darüber mitbestimmen, was „Eltern“ als für sie förderlich bestimmt haben.

Ich habe aber bisher nur über den Umgang mit Geheimnissen und damit verbundene Hierarchiebildung geschrieben. Die Inhalte esoterischer Lehren kann ich hier nicht einmal ansatzweise aufzählen. Typische esoterische Disziplinen sind die Astrologie, die Kabbala, das Tarot, das I Ging, jegliche Form der Magie und natürlich Theosophie und Anthroposophie. Häufig handelt es sich dabei um Archetypensysteme, die die Phänomene der beobachtbaren Welt in eine geheime Ordnung zu bringen versuchen. In anderen Fällen geht es um Phänomene, die wir auch aus der Parapsychologie bzw. aus darauf basierenden „Mystery-Filmen“ kennen: Jenseits, Geister, Engel, Außerirdische und Vergleichbares. Esoterik behandelt auch Wege der Transformation des Menschen hin zu einer „Erleuchtung“ oder einem „Erwachen“, das Goethesche „Stirb und Werde“. Oft handelt es sich auch um Systeme unterschiedlicher Bewusstseinsstufen und Realitätsebenen, um weit greifendes „Wissen“ über die okkulte Erdgeschichte bzw. die Geschichte des ganzen Kosmos.

Manche finden vielleicht, dass Esoterik in meinen bisherigen Betrachtungen noch zu gut weggekommen ist. Ich werde im dritten Teil meiner Artikel-Serie, nächste Woche, aber noch detaillierter auf einige Schattenseiten eingehen. Heute nur so viel: Viele esoterische Lehren beinhalten – freundlich ausgedrückt – erhebliche Glaubwürdigkeitslücken. Im Gegensatz zum „Eingeweihtenwissen“ der Physik handelt es sich dabei vielfach eben nicht um Wissen, sondern um Glaubensinhalte, denen mit hochtrabenden Bezeichnungen („Schicksalsgesetze“) der Anschein des Objektiven verliehen wird.

Im Unterschied zur Esoterik ist Spiritualität nach meiner Auffassung nicht-hierarchisch. Alles Erfahrbare ist für letztere grundsätzlich jedem zugänglich. Sie ist dadurch weniger leicht kommerzialisierbar. Aufgrund ihres mystischen Charakters (der direkten Kontakt zu Gott, zum Göttlichen oder Ewigen ermöglicht) müssen keine autoritären Instanzen zwischengeschaltet werden, die den Zugang zu spirituellen Erfahrungen begrenzen und strukturieren oder das Erfahrene schematisch deuten. Die „Anarchieform der Religion“ entzieht sich auch der angemaßten Autorität esoterischer „Großmeister“ und ihrer Einweihungsstufenleitern. Spiritualität ist stets etwas Individuelles und Intimes. Was ein Mensch erfahren hat, ist nicht übertragbar auf andere und diesen nur schwer vermittelbar. Die Gleichschaltung der Erlebnis- und Ausdrucksformen (etwa im gemeinsamen Ritual oder Gottesdienst) widerstrebt vielen spirituellen Menschen. Ich muss hier einschränkend sagen: Der spirituelle Mensch kann sich der Rituale und sogar der Gurus und Priester bedienen, um seine mystischen Erfahrungen zu intensivieren oder sie im Gespräch vor- und nachzubereiten. Niemals wird er aber zulassen, dass sich die Institutionen, die Gurus und Priester seiner bedienen, um des eigenen Macht- oder Geldgewinns willen.

Eine einfache Unterscheidung – Spiritualität: gut/ Esoterik: schlecht – greift allerdings zu kurz. Diese Einteilung funktioniert teilweise sicher gut und ermöglicht es spirituellen Menschen, sich von dem “Schmuddel-Begriff” entrüstet zu distanzieren. So kann jemand z.B. sagen: „Ich bete und meditiere, lehne jedoch die Astrologie ab, weil diese die Unterwerfung des Menschen unter vermeintliche kosmische Gesetze fordert und die Eigenverantwortung zu wenig betont. Ich bin ein spiritueller Mensch, aber kein Esoteriker.“ Ohne Zweifel können zahlreiche schädliche, gar rechtslastige oder rassistische Theorien der Esoterik zugeordnet werden. Man denke etwa an „rechte Präastronautik“ – eine Theorie, wonach die Herrenrassen auf der Erde das Genmaterial höher entwickelter außerirdischer Besucher in sich tragen, während minderwertige Rassen ohne diese edlen Gene in einer Art Affenmenschenstatus verharren. Das sind Abscheulichkeiten, mit denen identifiziert zu werden spirituelle Menschen mit Recht ablehnen können.

Andererseits gibt es im Alltags-Sprachgebrauch traditionelle „Ressort-Aufteilungen“ zwischen Esoterik und Spiritualität, die das öffentliche Bild beider Begriffe prägen. Demnach wäre z.B. die erstere für Bachblüten, Engel und Heilsteine zuständig ist, die zweitere für Zenmeditation, Yoga und Erleuchtung. Es ist aber zunächst ganz harmlos, Blütenessenzen einzunehmen oder zu einem Engel zu beten, dessen Präsenz der Einzelne subjektiv fühlen mag und von dem er sich unterstützt, getröstet fühlt. Weniger harmlos ist das autoritäre Guru-Wesen, das sich rund um den Erleuchtungsrummel in bestimmten Spiri-Kreisen gebildet hat und das an Gehirnwäsche grenzt. Nicht harmlos war auch die Kumpanei japanischer Zenschulen mit dem japanischen Faschismus während des Zweiten Weltkriegs, wobei der Untergang des Egos im Ganzen bzw. in der Volksgemeinschaft als die Schnittmenge beider Weltanschauungen herhalten musste.

Man sieht also, es ist nicht immer leicht, zwischen hilfreichen und schädlichen Phänomenen im Themenspektrum „Religion/Spiritualität/Esoterik“ zu unterscheiden. Die Notwendigkeit, zu differenzierten, ergibt sich sogar innerhalb der einzelnen Disziplinen, ob es sich nun um Astrologie oder um die indische Advaita-Vedanta-Lehre handelt, die die Einheit von Einzelseele und Weltseele betont. Man kann als Rationalist zwar die Astrologie pauschal als Humbug, d.h. als einen nicht auf Fakten beruhenden Aberglauben betrachten, aber auch in diesem Fall muss man zwischen Varianten unterschieden, die den Menschen zum willenlosen Werkzeug „der Sterne“ degradieren und solchen, die eine Eigenverantwortung innerhalb der durch das Geburtshoroskop gegebenen Grenzen einfordern.

Mein Ausgangspunkt war: Spiritualität sollte nicht grundsätzlich für die Fehler von institutionalisierter Religion und Esoterik in Mithaftung genommen werden. Sie sollte nicht als „kontaminiert“ von den Verbrechen der Inquisition oder dem abergläubischen Wortgeklingel esoterischer Nebelwerfer ad acta gelegt werden. Mindestens ist es lohnenswert, genauer hinzuschauen. In der nächsten Folge dieser Artikelreihe werde ich Kriterien für die Unterscheidung zwischen hilfreichen und schädlichen Formen der Beschäftigung mit dem „Geistlichen“, „Göttlichen“ oder „Irrationalen“ vorschlagen – subjektive Kriterien freilich, die ich niemandem aufdrängen will, aber doch Maßstäbe vielleicht, die zumindest einige werden nachvollziehen können.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen