Stille verlangt tiefgründige Disziplin – Leonard Bernstein

 In FEATURED, Kultur, Spiritualität

Leonard Bernstein

Was macht der Stardirigent und Komponist der Hits „Maria“ und „Tonight“ in einem Buch über Mystik? Gegenfrage: Wie kann man Musik aussparen bei diesem Thema, obwohl kaum etwas spirituelle Dimensionen unmittelbarer erfahrbar macht als Musik? Leonard Bernstein, Sohn jüdischer Einwanderer, hat als Dirigent und Komponist sein Leben lang um die vollkommenste Interpretation großer Musik gerungen, es aber auch geschafft, diese mit Charme und einem gewissen Verkaufstalent einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Von seiner spirituellen Neigung zeugen eine ganze Reihe von Äußerungen. (Roland Ropers)

In seinem Buch „Mystiker unserer Zeit im Porträt“ beschreibt Roland Ropers 75 spirituelle Persönlichkeiten. Er skizziert ihre Lebensläufe und zitiert zentrale Aussagen aus ihren Werken. Dabei überwindet der Autor nicht nur die Grenzen zwischen den Religionen, indem er z.B. Mystiker mit christlichem, buddhistischem und hinduistischem Hintergrund porträtiert – er beleuchtet auch u.a. den Weg eines Rainer Maria Rilke, Leonard Bernstein, Martin Luther King oder des Physikers Hans-Peter Dürr. Es entsteht der Eindruck, dass Gottberührung überall und auf sehr verschiedenen Wegen geschehen kann.

Leonard Bernstein wurde am 25. August 1918 in Lawrence, Massachusetts, als Sohn einer jüdisch-ukrainischen Einwandererfamilie geboren und auf den Namen Louis getauft. Als Kind lernte er auf einem sehr schlechten Instrument Klavierspielen, seine Jugend verbrachte er in Boston und änderte im Alter von 16 Jahren seinen Namen in Leonard. Nach Studium und Examen an der Harvard University im Jahr 1939 setzte er, von Dimitri Mitropoulos ermutigt, seine Musikstudien am Curtis Institute of Music in Philadelphia fort, unter anderem bei Fritz Reiner in der Dirigierklasse und Isabella Vengerova als Klavierlehrerin. Bernsteins große Stunde als Dirigent schlug, als er am 14. November 1943 für den plötzlich erkrankten Bruno Walter kurzfristig einspringen musste und die Leitung eines landesweit über Rundfunk ausgestrahlten Konzerts übernahm. Damals war er gerade 25 Jahre alt und galt fortan als große Hoffnung. So wurde er 1945 Chefdirigent des New York City Symphony Orchestra. Die Ärzte diagnostizierten damals ein schweres Lungenemphysem und rieten dem jungen Künstler, die verbleibenden Lebensmonate zu genießen.

Er wurde zum Kettenraucher und gewaltigem Alkoholkonsumenten – zum großen Erstaunen hielt sein Körper dies noch weitere 45 Jahre aus. Sein Rezept:

Stille ist unsere innerlichste Art des Tuns. In unseren Augenblicken tiefer Ruhe entstehen alle Gedanken, Gefühle und Kräfte, die wir schließlich mit dem Namen des Tuns beehren. Unser gefühlvollstes aktives Leben wird in unseren Träumen gelebt, unsere Zellen erneuern sich am Eifrigsten in unserem Schlaf. Wir erreichen das Höchste in Meditation, das Weiteste im Gebet. In Stille ist jedes menschliche Wesen fähig der Größe. Frei von Erfahrung von Feindseligkeiten, ein Dichter, und am ähnlichsten einem Engel. Doch Stille verlangt eine tiefgründige Disziplin, man muss sie sich erarbeiten, und sie gilt uns umso mehr darum als kostbarster Schatz.

1958 ernannten ihn die New Yorker Philharmoniker zu ihrem Musikdirektor. Bernstein, damals vierzig Jahre alt, war damit der erste in den USA geborene und ausgebildete Musiker, der in eine der Spitzenpositionen des nord-amerikanischen Musiklebens berufen wurde. Im Laufe einer zwölfjährigen erfolgreichen Zusammenarbeit dirigierte Bernstein mehr Aufführungen des Orchesters als alle seine Amtsvorgänger. Seine Mahler-Interpretationen etwa trugen wesentlich zur Anerkennung des Komponisten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei. Bernstein sorgte in diesen Jahren außerdem als Gastdirigent der New Yorker Metropolitan Opera, der Mailänder Scala (als erster Amerikaner) und als Operndirigent an der Wiener Staatsoper für Aufsehen über die Kreise der Szene hinaus.

Leonard Bernsteins Arbeit als Komponist hat ein weites Werkspektrum von Gattungen und Stilrichtungen hervorgebracht. Von seinen Broadway-Partituren wurde vor allem die West Side Story eine wichtige Wegmarke in der Entwicklung des amerikanischen Musiktheaters. Mit Mass wurde 1971 in Washington das Kennedy Center eröffnet, 1981 kam das Werk als erste Bühnenkomposition eines amerikanischen Komponisten an der Wiener Staatsoper zur Aufführung. Den größten österreichischen Komponisten würdigt er folgendermaßen:

Mozart ist der göttliche Mozart und wird es immer sein. Nicht nur ein Name, sondern ein himmlisches Genie, das auf diese Erde kam, dreißig und einige Jahre blieb, und als er die Welt verließ, war sie neu, bereichert und durch seinen Besuch gesegnet.

Bernsteins Reihe der Young People’s Concerts mit den New Yorker Philharmonikern, die zehnmal einen Emmy Award erhielt, wurde 14 Jahre lang gesendet. Leonard Bernsteins Diskografie ist umfangreicher als die der meisten Musiker des 20. Jahrhunderts. Seine Interpretationen der Symphonie-Zyklen von Mahler, Beethoven und Brahms gehören zu den herausragenden Ereignissen einer großen Serie von Einspielungen. Als zentrale Persönlichkeit des musikalischen Lebens erhielt Bernstein zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen wie die Ehrenpräsidentschaft der Accademia di Santa Cecilia in Rom und die Ehrenmitgliedschaft der New Yorker und Wiener Philharmoniker.

Leonard Bernstein starb am 14. Oktober 1990 in New York. Sein Vermächtnis jedoch wirkt in vieler Hinsicht weiter. Sein Verhältnis zur Musik war trotz aller Analyse stets intuitiv. Er wollte Klang erlebbar machen, für sich selbst und die Zuhörer, die ihm folgten. Das wiederum setzte voraus, dass er einen Komponisten auch als Menschen verstand, dessen individuelle Auseinandersetzungen sich in der Musik widerspiegelten. Bernsteins Kunst bestand daher nicht nur im Dirigieren und Komponieren, sondern auch im Vermitteln seiner Ideen an ein großes Publikum. Als einer der ersten Pultstars nützte er konsequent die Möglichkeiten, die ihm vor allem das boomende Fernsehen bot, um beständig Werbung für die Kunst zu machen. Er war als Pädagoge ebenso aktiv wie als Botschafter des klassischen Geschmacks, blickte neugierig nach allen Seiten über die Mauern seines Business und schaffte es auf diese Weise, viele Menschen zu erreichen, die sonst für die von ihm verehrte Musik wenig Interesse entwickelt hätten. Allein damit hat er sich schon ein Denkmal gesetzt.

Am 9. November 1989 war die Mauer zwischen West- und Ostdeutschland gefallen. Die Welt war in Bewegung. Lenny Bernstein war bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, aber sein Lebenshunger war immer noch extrem groß. Zwei Tage vor Weihnachten 1989 dirigierte er in der Westberliner Philharmonie Beethovens Neunte Sinfonie und am ersten Weihnachtstag im Ostberliner Schauspielhaus das gleiche Werk noch einmal. Im Schlussgesang Ode an die Freude ersetzte er das Wort „Freude“ durch „Freiheit“. Traditionalisten stießen sich an Bernsteins Willkür, aber die internationalen Zeitungen berichteten begeistert.

Er war einer der großen, tief religiösen und mystisch verankerten Künstler des 20. Jahrhunderts. Jonathan Cott führte mit dem 71-jährigen Leonard Bernstein elf Monate vor dessen Tod am 20. November 1989 im Haus des Maestros in Fairfield, Connecticut ein sehr bewegendes Gespräch, das unter dem Titel Leonard Bernstein – Kein Tag ohne Musik erschienen ist. Jonathan Cott beginnt das Buch mit dem Zitat des japanischen Haiku-Meisters Matsuo Bashō aus dem 17. Jahrhundert: Der Klang der Tempelglocke endet – doch der Ton ist weiterhin zu hören aus den Blumen. Leonard Bernstein spricht darin in beeindruckender Weise davon, wie sehr ihn die indische Musik inspiriert hat.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen