Stimmen von früher im Zimmer
Ein Gedicht zum heutigen 8. Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation 1945, besser: der Befreiung vom Naziregime. Der Text fängt in vielen Details die Kindheitserinnerungen des Autos ein und gibt die Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit präzise wieder. Ein Gedicht auch über einen nur erzwungenen Frieden und über Verdrängung. (Holdger Platta)
Jeden Abend die schwarzen Nachrichten
aus dem Radio hoch oben unter der Decke. Giftig
und düster stand dieser Apparat da aus der blutrünstigen Zeit.
Doch es flogen keine Bomber mehr
draußen am finsteren Himmel über die Dächerwelt weg.
Die Toten waren zu Namenskolonnen geworden.
Vater saß am Tisch und schrieb seine Briefe,
raschelnde Bitten hinaus in die verdunkelte Welt.
Mutter war ein Klirren am Ausguß voller Waschmittelgeruch.
Der Bruder baute an Metallgestellen herum
aus kaltem Grün und eiskaltem Rot. Und der Knabe
entfloh mal wieder in seine Geschichten an die britische Küste.
Das Land lag da in der beginnenden Nacht,
wie begraben in seinem erzwungenen Frieden, ganz so,
als hätte es niemals die Panzer gesehen oder den Tod.
Und es war, als hätte das Land niemals gebrüllt mit Uniformen
und Haß. Düster schwieg es stattdessen sich aus, novemberlang
im verschlafenen Land, über seine begrabene Wut.