«Straffällig werden ist Bürgerpflicht»

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

gefängniszellenPrivatisierung verstärkt die Effizienz durch Konkurrenz und Unternehmergeist und generiert Wachstum. Alles klar, aber gilt das für jedes Aufgabenfeld? Im Strafvollzug ist die Privatisierung längst angekommen, sie sorgt aber für eine drastische Verschiebung des Blickwinkels. Was bedeutet Wachstum in der Gefängnisbranche? Und was tun, wenn die kriminelle Energie der Bürger nicht ausreicht, um ausreichend Kundschaft zu akquirieren? Eine visionäre, nicht wirklich komische Satire von Roland Rottenfußer.

Anna, die Lebensgefährtin unserer Hauptfigur R., ist Sozialpädagogin. Gerade hat sie eine Stelle als Gefängnissozialarbeiterin beim privaten Gefängnisbetreiber PrizBiz angetreten. Mit ihrem Chef, Filialleiter Trutz Haiderich (früher hätte man „Gefängnisdirektor“ gesagt), versteht sie sich ausnehmend gut. So überrascht es nicht, dass sie ihn eines Abends in R.s und Annas gemeinsame Wohnung einlädt. Ein gutes Glas Wein lockert die Zunge, und es kommt manches ans Tageslicht, was Insider der Gefängnisbranche sonst nicht gern öffentlich sagen.

Haiderich: Ihr Freund ist eher ein Stiller, stimmt’s, Anna?

Anna: Ja, so ist sein Naturell. Vielleicht liegt es auch daran, dass er Sie für eine Art Polizisten hält. Es gab da in letzter Zeit ein paar Zusammenstöße mit der Ordnungsmacht …

R.: Anna!

Anna: Das darf ich doch gegenüber Herrn Haiderich erwähnen. Wir sind doch hier im privaten Kreis, nicht Herr Haiderich?

Haiderich (lacht gönnerhaft): Nein ich bin wirklich nicht dienstlich hier, keine Sorge. Und selbst, wenn: ich bin Vollzugsbeamter, kein Ermittlungsbeamter. So ruhig, wie sich Ihr Freund benimmt, habe ich keine Bedenken, dass wir demnächst beruflich miteinander zu tun haben werden (klopft ihm auf die Schulter).

R.: Nein, das ist es nicht. Ich fühle mich in Ihrer Gegenwart etwas unsicher. Ich glaube, es hängt mit den Zeitungsberichten zusammen: über die vielen Gefängnisselbstmorde, die es in letzter Zeit gegeben hat. Ich weiß nicht, wie ich mit Ihnen über das Thema sprechen soll, ohne dass es wie ein Vorwurf klingt.

Haiderich: Tun Sie sich keinen Zwang an, mein Lieber. Ich bin Kritik gewohnt, und schließlich sind wir hier unter uns.

R.: Ich bezweifle nicht, dass alle Insassen bei PrizBiz ihre Gefängnisstrafe verdient haben: Nur: Diese Überbelegungsprobleme, von denen die Zeitung spricht, kann man das nicht besser lösen? In einem Raum mit 20 Fremden, noch dazu alles Verbrecher, ich glaube, ich würde auch wahnsinnig werden – oder depressiv.

Haiderich: Sehen Sie, PrizBiz ist ein Wirtschaftsunternehmen. Wir sind kein Erholungsheim. Mehrfachzellen ermöglichen eine größere Gefangenendichte pro Quadratmeter, das ist das
ganze Geheimnis. Ursprünglich hatten wir ein Konzept mit sehr kleinen Einzelzellen, videoüberwacht. Das war nicht so konfliktträchtig. Wir mussten keine Gefangenen beruhigen, die sich gegenseitig blutig geschlagen haben, unsere Pflegekräfte mussten weniger Verletzungen im rektalen Bereich verarzten. Aber wir haben dann in Absprache mit der Justiz wieder vom Einzelzellen-Modell Abstand genommen – mit Rücksicht auf das Freiheitsabstandsgebots!

R.: Das Freiheitsabstandsgebot?

Haiderich: Es muss ein qualitativer Abstand bestehen zwischen dem Leben in Freiheit und dem Leben hinter Gittern. Sonst greift die Abschreckung nicht mehr. Gefängnis ist die bewusste Kreation einer künstlichen Hölle – natürlich im Dienste des Guten. Aber wo soll der Abstand herkommen, wenn die Freiheit draußen für die Unterschichten immer schwerer von einer Hölle zu unterscheiden ist? Sie erleben es ja selbst: Die Menschen leben in kleinen Wohnklos, damit Miete für sie erschwinglich ist. Sie werden praktisch überall überwacht. Sie sind von Verboten umstellt. Für Arme ist die Bewegungsfreiheit außerhalb des Gefängnisses nur eine theoretische. Praktisch bewegt sich ihr ganzes Leben in einem sehr engen Radius zwischen Wohnung, Arbeit oder Arbeitsamt, U-Bahn und Discounter. Wie sollen wir diese Gefangenschaft in den Gefängnissen noch übertreffen? Unsere Antwort ist mit Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Wir zwingen die Insassen, einander ertragen zu müssen. Ihre aufgestaute Aggressivität, die sich normalerweise gegen uns richten würde, entlädt sich nun im Kampf gegeneinander. Wir sehen dabei zu und greifen gelegentlich ein, nicht ohne unsere Empörung über die Verrohung dieser Menschen zum Ausdruck zu bringen. Ihre fortgesetzte Gewalttätigkeit ist für uns nur Beleg, dass diese Menschen hinter Schloss und Riegel gehören.

R. Aber macht Ihnen die Rückfallquote nicht Sorgen?

Haiderich: Nun ja, ich sagte ja, wir sind ein Wirtschaftsunternehmen.

R. Wie meinen Sie das?

Haiderich: Mit Neukunden allein könnten wir unsere Zellenbelegungsquote nicht halten. Wir sind auf Rückkehrer angewiesen. Schließlich wollen wir wirtschaftlich überleben.

R.: PrizBiz hat Angst ums Überleben?

Haiderich: Gefängnisse müssen nicht nur voll belegt sein, um sich zu rechnen; das System als Ganzes muss auch wachsen. Die Filialen müssen sprießen, auf der Landkarte darf es keine weißen Flecken geben, auf denen keine PrizBiz-Filiale verzeichnet ist. Wir haben Kredite aufnehmen müssen, unsere Gläubiger verlangen Renditen im zweistelligen Bereich. Kurz gesagt: Wenn wir die Anzahl unserer Vollzugsplätze nicht binnen 10 Jahren mindestens verdoppeln, können wir zu machen. Sie können Sich vorstellen, was das für unsere Mitarbeiter und ihre Familien bedeutet. Z.B. für Anna.

Anna: Wäre es dir lieber, ich wäre wieder arbeitslos?

R.: Natürlich nicht. Ich frage mich nur: Reicht die kriminelle Energie im Land überhaupt aus, um ein beständiges Wachstum zu generieren?

Haiderich: Im Gegensatz zu anderen Bedürfnissen unterliegt der Bedarf an Gefängnisdienstleistungen nicht dem Zufall.

R.: Wie meinen Sie das?

Haiderich: Sehen Sie, Sie haben mir von der Flut der Verbotsschilder in Ihrer Wohngegend erzählt. Ebenso von der Zunahme jener viel tückischeren Strafbarkeiten, die nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. Die Nachbarschaft ist parzelliert in einen Fleckenteppich einander ablösender und teilweise überschneidender Verbotszonen. Auf einem Gehweg kann es verboten sein, zu schnell zu gehen, auf einem anderen geht man besser nicht zu langsam. Hier ist das Rauchen verboten, dort das Öffnen einer Bierdose, an einem anderen Ort das Essen in der Öffentlichkeit. Sie haben ihr Fahrrad unrechtmäßig abgestellt. Sie wähnten sich in Sicherheit, weil in Sichtweite ihres Fahrrads kein Verbotsschild stand. Sie hatten aber übersehen, dass sie schon 30 Meter weiter in eine Fahrradsverbotszone eingefahren waren. Glauben Sie, das alles ist Zufall?

R.: Ich weiß es nicht. Ich stelle nur fest, dass ich ziemlich ratlos bin. Ich musste in den letzten Wochen so viele Strafen zahlen, dass ich Angst habe, finanziell zusammenzubrechen. Ich hatte schon das Magazin „Strafen aktuell“ abonniert, um genauestens über die neuesten Verbote informiert zu sein, aber es war aussichtslos. Das Abo ging zusätzlich ans Geld, konnte aber nicht verhindern, dass ich immer wieder strafbaren Handlungen erwischt werde. Auf allen Strafzetteln heißt es ja: „ersatzweise Gefängnis“. Da mir aber allmählich das Geld ausgeht, habe ich mich entschlossen, das Haus nicht mehr zu verlassen.

Haiderich (amüsiert): Im Ernst? Das erstaunt mich. Wie können Sie Ihr Leben überhaupt organisieren?

Anna: R. und ich haben eine Abmachung. Ich gehe einkaufen, und dafür muss er die Wäsche und den Abwasch machen. Sie wissen ja, dass wir PrizBiz-Mitarbeiter unsere Strafen-Freibeträge haben. Da ist unser Budget für Strafen noch nicht so schnell erschöpft.

R.: Ich bin freiberuflicher Journalist. Da erledige ich alles mit Email und Telefon. Wenn ich mal von einem Arbeitgeber zu einem persönlichen Treffen eingeladen werde, winde ich mich heraus. Das hat mich schon manches Job-Angebot gekostet. Aber was soll ich machen?

Haiderich: Aber mein Lieber, eigentlich leben Sie doch schon im Gefängnis!?

R.: Irgendwie schon, aber welche Wahl habe ich? Auf die Straße gehen ist faktisch gleichbedeutend mit straffällig werden. Viele in meinem Bekanntenkreis sagen schon: „Ich gehe erst wieder auf die Straße, wenn ich mir ein paar Strafen leisten kann.“

Haiderich (lacht lauthals, unterdrückt seine Heiterkeit dann aber): Verzeihen Sie, lieber R., ich schätze Anna und Sie und wünsche Ihnen bestimmt nichts Böses. Aber verstehen Sie bitte, dass Ihre Schilderung unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten für mich eine grandiose Nachricht ist. Sie und alle Bürger dieser Stadt befinden sich in einem aussichtslosen Wettlauf.

R.: Was meinen Sie mit „Wettlauf“?

Haiderich: Auf der einen Seite ist da die fast schon groteske Bravheit der Deutschen, ihr eifriges Bemühen, jedes noch so sinnlose Verbot getreulich zu beachten. Auf der anderen Seite das Bestreben des Systems, doch irgendwo Schuld bei ihnen zu finden. Der Bürger kann diesen Wettlauf nur verlieren, denn der Staat hat zwei Möglichkeiten, um ihn immer wieder einzuholen: Er kann die Liste der Strafanlässe erweitern und er kann die Überwachungsdichte verstärken. So lange, bis strafbare Handlung und Strafe untrennbar miteinander verbunden sind. Bürgerrechtler klagen immer über den „Überwachungsstaat“ oder über überhöhte Strafen. Aber wer ist denn eigentlich an dieser Entwicklung schuld? Die Bürger!

R.: Der Bürger? Warum?

Haiderich: Nun begreifen Sie doch: Wollen wir die Zellenbelegung sichern und dabei Wachstum generieren, muss es immer eine bestimmte Anzahl an Strafgefangenen geben. Die Bürger weigern sich aber zunehmend, grobe Delikte wie Gewaltvergehen, Diebstahl, sexuelle Belästigung, Vandalismus usw. zu begehen. Was sollen wir also tun? Wir sind gezwungen, kleinere bis kleinste Vergehen zu Verbrechen zu erklären und zugleich die Aufklärungsquote zu erhöhen. Ich will es Ihnen noch mal an einem anderen Beispiel erklären. Sie und ich sitzen hier zusammen, trinken Wein, essen Salzstangen. Ab und zu geht einer auf die Toilette. Wenn ich rauche, öffnen Sie das Fenster und lassen Luft herein. Wie definieren Sie die genannten Tätigkeiten?

R.: Ich weiß nicht. Es sind ganz normale Tätigkeiten.

Haiderich: Eben nicht. Alle genannten Tätigkeiten sind definiert als der Bereich des Erlaubten. Sie dürfen all diese Dinge tun, nicht etwa weil Sie von Natur aus das Recht dazu hätten, sondern weil Ihnen der Staat das Recht auf diese Handlungen gewährt hat. Dieser genau definierte Bezirk des Erlaubten aber ist umgrenzt durch den Bereich des Verbotenen. Die Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem ist flexibel und wird bestimmt durch den Bedarf. Dieser wiederum hängt von verschiedenen Faktoren ab, zu deren wichtigsten die regionale Wirtschaftsförderung gehört. Und PrizBiz ist der größte Arbeitgeber im Landkreis. Stellen Sie sich den Bereich des Erlaubten also als eine Insel vor, auf der Sie sich mit anderen Bürgern immer stärker zusammen drängen müssen. Den Bereich des Verbotenen als ein Meer bei steigender Flut.

R.: Sie reden immer vom Wachstum. Was passiert aber, wenn das Wachstum immer so weiter geht, womöglich exponential? Ich meine: Was bedeutet das für die Gesamtgesellschaft?

Anna: R., so kannst du nicht mit Herrn Haiderich reden!

Haiderich: Nein lassen Sie, Anna, es ist eine gute Frage. Die Antwort ist: Ich bin Betriebswirt und zunächst nur am Gedeihen meines eigenen Unternehmens interessiert. Der Rest geht mich nichts an.

R.: Aber es muss auch weiter Menschen außerhalb des Gefängnisses geben!?

Haiderich: Ja leider: im Zuliefererbereich. Also bei Polizei und Justiz, bei der Verpflegung, bei der Sicherheitstechnologie, in der Baubranche, um neue Gefängnisfilialen aufzubauen, usw. Aber wir sollten unsere Phantasie da nicht zu stark einschränken. Das gesamte, in unserer Gesellschaft vorhandene Know-How wird nach und nach von außerhalb in das Gefängnissystem hinein wandern. Unsere Gefangenen arbeiten ja jetzt schon recht fleißig. Es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig. Ab einer gewissen Größenordnung können alle gesellschaftlich notwendigen Arbeiten von Kräften innerhalb des Gefängnissystems erbracht werden. Das ist außerdem erheblich kostengünstiger.

R.: Aber das wäre ja …

Haiderich (mit leuchtenden Augen) …: eine Gesellschaft aus Wärtern und Gefangenen. Haben Sie Lust, sich als Wärter zu bewerben? Die andere Alternative ist wenig verlockend, nicht wahr?

R.: Ich weiß nicht …

Haiderich: Der Trend ist nicht zu stoppen. Gefängnisaufenthalte werden sich von bedauerlichen Ausnahmen immer mehr zum Normalfall in den Biografien fast aller Bürgern entwickeln. Man wird seine Gefängniszeiten in gewissen Abständen absolvieren, so wie Männer jetzt zu Reservistenübungen beim Militär eingezogen wurden. Und das ist nur der Anfang. Die Strafe wird im Leben der Menschen stets als reale Perspektive gegenwärtig sein. Wir bieten schon in naher Zukunft die PrizBiz-Rabattkarte an.

R.: Was soll ich darunter verstehen?

Haiderich: Die PrizBiz-Rabattkarte bietet Bürgern die Möglichkeit, vorsorglich Zeit als Gefangener in einer unserer Filialen zu verbringen. Wenn sie später wirklich straffällig werden, wird ihnen diese Zeit angerechnet. Zusätzlich werden ihnen ein paar Strafwochen erlassen.

R.: Sie meinen, unschuldige Menschen sollten freiwillig ins Gefängnis gehen?

Haiderich: Was heißt schon „unschuldig?“ Jeder Mensch in Freiheit ist ohnehin ein zukünftiger Straffälliger. Sie müssen sich, wenn Sie das moderne Gefängniswesen verstehen wollen, vom Konzept der moralischen Schuld verabschieden. Unverantwortlich handeln in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit eher jene, die sich weigern, der Gefängnisbranche als Zielgruppe zur Verfügung zu stehen. Straffällig zu werden ist sozusagen Bürgerpflicht in den Tagen der Krise.

R.: Aber ohne eine zugrunde liegende Schuld macht die Strafe doch keinen Sinn mehr!

Haiderich: Jeder Gefangene ist zumindest in einer Hinsicht schuldig geworden: Er hatte zu wenig Geld. Das ist in unserer befriedeten Gesellschaft eigentlich die einzige verbleibende Schuld. Es ist zugleich die Urschuld, die durch nichts zu sühnen ist. Hast Du Geld, lassen sich selbst für größte Verbrechen Lösungen finden. Hast du kein Geld, nützt dir selbst akribisches Bemühen um Gesetzestreue nichts. Geldmangel aber ist eine relative Größe. Sie lässt sich steuern und hängt von der Höhe der Geldforderungen ab.

R.: Man kann der Schuld also nicht entkommen?

Haiderich: Nein, die Schuld gehört wesenhaft zu Ihrer Identität als Bürger dieses Staates. Der Bürger wird vor seinem Staat immer nackt dastehen, unzureichend, voller Makel. Kein Bürger ist im Grunde seines Staates würdig.

R.: Das klingt fast so, als ob der Staat Gott wäre.

Haiderich.: Ja, das Strafsystem, wie es von PrizBiz in Zusammenarbeit mit den Behörden erarbeitet wurde, hat quasi den Platz eingenommen, den früher die großen Religionen einnahmen. Die Schuld ist unentrinnbar. Die Menschen haben zu lange nicht mehr an ihre Schuld geglaubt. Mit der Bindung an die Kirchen schwand auch das Schuldgefühl. Nützliche Theorien wie die Erbsünde verblassten in den Köpfen der Menschen. Staat und Privatwirtschaft mussten diese Lücke ausfüllen. Der Gefängnisinsasse ist der Prototyp des Menschen der Zukunft: Er ist mit wenigem zufrieden, die Hölle ist quasi sein Zuhause, und er duldet das alles, weil er seine Lebenssituation als seine eigene Schuld betrachtet.

(Ein heftiges, forderndes Klopfen an der Tür. R. zuckt zusammen)

Anna: Erwartest du jemanden?

R.: Nein, du?

Anna: Nein. Hast du etwa wieder einen Strafzettel fabriziert?

R.: Nein. Wie denn? Ich war die letzten Wochen nur zu Hause. Vielleicht ist es der Nachbar.

(Es klopft abermals, diesmal noch heftiger)

Anna: Nein, keiner von unseren Nachbarn und Freunden klopft auf diese Weise an die Tür – auf eine Art, die keinerlei Widerspruch duldet.

R.: Ich mache die Tür nicht auf. Wenn wir alle ganz leise sind, gehen sie vielleicht wieder weg.

Haiderich: Ich an Ihrer Stelle würde aufmachen. Es ist sicher Polizei. Es ist dieses spezielle Polizei- Klopfen. Als Mitarbeiter im Strafvollzug bin ich verpflichtet, zu öffnen. Sonst mache ich mich der Behinderung bei der Ergreifung eines Gefangenen schuldig. Das kann ich mir in meiner Position nicht leisten. Also öffnen Sie, sonst öffne ich.

(Es klopft zum dritten Mal. Diesmal so als würde die Tür gleich einbrechen)

R.: Ergreifung eines Gefangenen? Aber ich habe nichts getan. Ich war nicht auf der Straße. Ich habe nichts Illegales downgeloadet. Ich habe alle meine Rechnungen bezahlt …

Haiderich: Irgendetwas hat man immer getan.

(Die Tür bricht krachend auf. Fünf schwer bewaffnete Polizisten in Helmen und Schutzanzügen stürmen ins Zimmer. Zwei von ihnen ergreifen R. beim Arm. Die anderen zielen mit schweren MGs auf ihn.)

Polizist: Herr R.!?

R. (schüchtern): Ja, das bin ich.

Polizist: Sie habe es versäumt, Ihren Schneeräumdienst auf der Schillerstr. 77, Wohnblock D5, ordnungsgemäß zu verrichten.

R.: Ja, aber ich wusste nicht, dass es zu schneien angefangen hat. Ich war immer hier in der Wohnung und hatte die Rollos unten. Anna, hast du bemerkt, dass es angefangen hat zu schneien?

Anna: Natürlich.

Haiderich: Es ist in solchen Situationen besser, nicht nach Entschuldigungen zu suchen. Die Polizei reagiert mit Recht gereizt auf Entschuldigungen. Man könnte Ihnen das als Weigerung auslegen, die volle Verantwortung für Ihre Tat zu übernehmen.

R.: Tat? Aber ich habe nichts getan. Ich hole das Schneeräumen gern nach.

Polizist: Sie haben die Möglichkeit, gleich jetzt 398 Euro an mich zu entrichten. Alternativ begleiten wir Sie unverzüglich zu Ihrem Bankautomaten. Alternativ Gefängnis.

R.: Aber ich habe keine 398 Euro, weder in meiner Tasche noch auf meinem Konto. Anna hättest du vielleicht …

Anna: Tut mir leid, R., noch mal kann und will ich nicht für dich einspringen. Ich habe oft genug an dich appelliert, dich nicht andauernd mit den Behörden anzulegen. Aber dein verantwortungsloses Verhalten…

Haiderich
(legt den Arm um Anna und lächelt süffisant): Hatte ich es dir nicht gesagt: Er ist ein Versager. Eine Frau wie du kann ganz andere Männer haben.

Polizist: Sie können das Geld nicht bezahlen. Also Gefängnis. Wir sind befugt, Sie unverzüglich in die örtliche PrizBiz-Filiale zu überstellen. Sie dürfen keine privaten Gegenstände mitnehmen. Kleidung und Bettzeug werden Ihnen im Gefängnis gestellt. (Zwei Polizisten packen ihn und führen ihn zur Tür hinaus)

Haiderich: Wir sehen uns ja dann bald. Ging schneller, als ich gedacht hatte.

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