Stürmen wir die Bastille in den Köpfen!

 In FEATURED, Politik

Sturm auf die Bastille, Gemälde von Jean-Pierre Houël

Am 14. Juli, dem Nationalfeiertag der Franzosen, hielt Jürgen Wertheimer, Germanistik-Professor und Experte für Georg Büchners Revolutionsdrama „Dantons Tod“, eine Rede auf dem Marktplatz von Tübingen. Geht uns diese Revolution, dieser Sturm auf die Bastille, heute noch etwas an – zumal in einem Land, das das „Stürmen“ verlernt zu haben scheint und sich vollständig einer den Hals zuschnürenden Sicherheitsdoktrin ausgeliefert hat? Vorwärts geht es einzig mit der von Alexander Dobrindt ausgerufenen „konservativen Revolution“. Und das chronisch uneinige Europa eint heute nur noch der „Wert“ einer möglichst effizienten Flüchtlingsabwehr. Diese Politik misshandelt die Sprache wie sie Menschen misshandelt, und wie so oft greift das eine ins andere. (Jürgen Wertheimer)

Sekundärmigration, Ausschiffungsplattform, Grenzregime, Asyltourismus, Transitzentren, Fiktion der Nichteinreise… Die amtierende Politik mag erschreckende menschliche und sonstige Defizite haben – sprachschöpferische Kompetenz kann man ihr nicht absprechen.

„Fiktion der Nichteinreise“ – also die Fähigkeit, so zu tun als wäre jemand gar nicht angekommen, obwohl er da ist: allein für diese Findung wäre ein Preis zu vergeben. Ein Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet sprachlicher Tarnung. All diese Wortschöpfungen sind ja nicht nur  deshalb so schrecklich, weil sie einen total empathiefreien Umgang mit Menschen verraten, sondern, – im Gegenteil – weil sie (wie Stefan Hebel zutreffend formulierte) die eigentlichen Absichten „der Politik hinter Kürzeln und Floskeln so wirksam verstecken, dass wir beim Sprechen vergessen sollen, worüber wir eigentlich reden“. Eingeschüchtert von Leuten, die sich als Inkarnationen des Prinzips „Survival of the fittest“ betrachten.

Worüber reden wir eigentlich? Wir reden über Gespenster. Wir führen eine beklemmende Geisterdebatte. Früher haben romantische Dichter Geistergeschichten erzählt, um den Leute am heimatlichen Herd  ein angenehmes Gruseln zu bescheren. Jetzt erzählen wahnwitzige Politiker den Leuten „Geistergeschichten“ um ihnen echte Angst zu machen. Sie riegeln die heimatlichen  Grenzen ab, schließen das Mittelmeer, sperren die Korridore: denn draußen lauert der Feind, der Böse, der Gefährder, der Unterwerfer.

Dichter bezichtigt man häufig der Übertreibung. Der Schwarzmalerei.

Diese Rolle wurde mittlerweile von den Politikern übernommen.

Nicht aus Lust am Fabulieren oder an skurrilen Gedankenspielen, sondern aus einem einzigen Grund: dem Machterhalt. Dem Machterhalt auf Gedeih und Verderb. Und die Lüge als Königsdisziplin der politischen Rede – Erich Fried hat noch immer recht:

 

Die Beine der größeren Lügen sind gar nicht immer so kurz

Kürzer ist oft das Leben derer die an sie glauben.

 

Aber wenn wir uns gegenüber für einen Moment ehrlich sind: wer glaubt denn noch diese Lügen? Wer ist heute, nach all diesen Trauerspielen und Bayerischen Burlesken denn noch so gutwillig, diesen Leuten auch nur ein Wort zu glauben? „Behördlicherseits ist es sinnvoll, zwischen willkommenen und unwillkommenen Ausländern zu unterscheiden“— ein Satz aus einem CSU-Interview aus dem Jahr 1998!  Zwei Jahrzehnte gedanklicher Stillstand. Wir sind keinen Denkschritt weiter – eher zwei Schritte zurück: noch rigider, noch perfider, noch zynischer Geworden.

Wenn es nicht so wäre, wenn wir nicht so verdammt nachsichtig geworden wären, würden wir nicht wie paralysierte Kaninchen bang darauf warten, ob ein triebgesteuerter Neurotiker wie der derzeit noch immer amtierende Innen- und Heimatminister  zurücktritt oder nicht – wir, der Souverän, hätten ihm längst den wohlverdienten Ab-Tritt gegeben.

Schade, wirklich sehr, sehr schade, dass die Kanzlerin sich nicht in der Lage sah, dieses „Rücktrittsangebot“ anzunehmen.

“69 Abgeschobene an meinem 69 Geburtstag”, freut er sich der Mann. Welch nette Überraschung! Und einer hängt sich auf – da waren’s nur noch 68, und das schöne Zahlenspiel ist kaputt.

Wie lange wollen wir und dieses Schmierentheater eigentlich noch gefallen lassen? Wie lange noch leicht indigniert zusehen?

Welchen Grad an Inkompetenz und Bösartigkeit gedenkt diese Republik sich noch zumuten zu lassen, bevor sie handelt und sich wie eine Republik benimmt, mit Bürgern, die sich wie Republikaner benehmen? Und nicht wie leicht verärgerte Konsumenten…

Europa, diese 40-stimmige Kakophonie, spricht nach langer Zeit angeblich wieder mit einer  Stimme. Und was kommt raus? Ausgrenzen, Außengrenzen, absichern, aussperren, auslagern… Das Vokabular eines Debilen – und  das aus dem Mund einer vermeintlichen Werte-Welt als die sich Europa noch immer fühlt – oder inszeniert. Humanität. Brüderlichkeit. Gleichheit… Nicht mal vor dem Meer sind alle gleich. Die einen machen drin Urlaub und baden, bewacht von Rettungsschwimmern, die anderen ertrinken – weil die Rettungsboote amtlicherseits, staatlicherseits an die Kette gelegt werden! Sind eigentlich Irre am Werk? Oder Verbrecher? Oder sind wir irrsinnig – irrsinnig passiv zumindest.

Schön, dass heute am magischen quatorze juillet des Sturms auf die Bastille gedacht wird. Noch schöner wäre es, wenn in Frankreich, Italien, Deutschland und, ja, auch und gerade in Bayern und Österreich ein Sturm auf die Bastillen und Festungen in unseren Herzen und Köpfen einsetzen würde. Statt immer neue Hürden  aufzubauen (Masterplan), sind – will man dem vielbeschworenen Geist Eurpas wirklich gerecht werden und ihn nicht nur in einem verstaubten Museum der Werte nostalgisch besichtigen – bürokratische Fristen und Hindernisse zu verringern, die die Anerkennung der Freizügigkeit lokal behindern.

Europa muss sich entbürokratisieren und der Realität der Migration offensiv stellen, statt so zu tun, als könne man weiter „auf Sicht fahren“ oder Druck mit Gegendruck zu beantworten.  Denn „Europa“, das eigentliche Europa, ist von Beginn an geprägt vom Willen zusammenzuleben und zusammenzugehören – angefangen bei seinem Charakter als einer „Union der Minderheiten“. In Europa kann allein aus Gründen der Identität niemand für sich die Mehrheit reklamieren: nicht die Deutschen, nicht die Moslems, nicht die Juden oder die Franzosen. Keine Identität ist mehrheitsfähig.

Es ist Zeit, dass die Europäische Union sich für die Abschaffung der Aufenthaltsgenehmigung für alle diejenigen einsetzt, die migrieren, auch um – neben dem freien Verkehr des Kapitals und der Güter in einer globalisierten Welt – die Freizügigkeit von Menschen zu stärken. Besonders von Europa muss ein kräftiger Impuls an die ganze Weltgemeinschaft ausgehen, damit das Recht auf Mobilität und Freizügigkeit aller Menschen anerkannt wird, und das auf globaler Ebene und nicht nur innerhalb des Schengenraums.

Das war, liebe Freunde, kein optimistischer Schlussappell nach dem Motto „möge in Zukunft…“ und „als das Wünschen noch geholfen hat…“, sondern ein Auszug aus der „Charta der Migration“ des Bürgermeisters von Palermo, Leoluca Orlando: ein Mann der weiß wovon er spricht,  der sich nicht mit dem IPhone auf die Lauer legen muss, um Migranten bei Untaten zu stellen, sondern der sich der Verantwortung stellt und gestellt hat: im erfolgreichen Kampf gegen die Mafiosi seiner Stadt, im Kampf für einen menschenwürdigen Umgang mit zehntausenden von Gestrandeten in seiner Stadt, auf der Insel Sizilien. Statt zu jammern, sollten wir hier, in diesem reichen Land, dieser auf ihre moralischen Standards so stolzen Kommune, das doch  letztlich auch „schaffen“.

Nein , wir werden nicht verschämt wegschauen – das haben wir in Deutschland oft genug gemacht. Und wir wollen nicht, dass alle mehr oder weniger  dezent wieder verschwinden, sondern überleben – leben!

Die Werte-Beschwörer der Gegenwart, denen die Formel vom „Geist Europas“ immer so angenehm inhaltsleer von den Lippen geht, berufen sich ja so gerne auf die Klassik – die deutsche in Sonderheit. Können sie haben. Lessing. Nathan. Letzte Szene. Alle sind am Boden – jeder musste entdecken, dass er oder sie 2, 3 Wurzeln, Identitäten hat, nirgends ganz dazugehört. Sultan Saladin fasst sich als erster und gibt einen klugen Rat.  Sich zusammenzutun, Gesellschaft bilden, Gemeinschaft bilden und sich nach jemandem umschauen, „der mit uns um die Wette leben will!“
 

 

 

 

 

 

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