«Terror»: Weiterdenken!
Zur Diskussion um das Recht, Unschuldige zu töten, um eine größere Zahl anderer Unschuldiger zu retten. „Darf man 164 Menschen töten, um 70.000 zu retten?“ Mit diesem konstruierten Dilemma gelang es dem ARD-Film „Terror – das Urteil“ am 17 Oktober das gesunde Volksempfinden der Bürger zu aktivieren, Stimmung für „Bürgeropfer“ und Rechtsbruch im Interesse der Terrorbekämpfung zu machen. Eine große Mehrheit votierte dafür, einen Piloten freizusprechen, der eine Passagiermaschine abschoss, damit Unholde diese nicht in ein vollbesetztes Stadion lenken konnten. Isoliert betrachtet, kann man das Votum der Mehrheit verstehen. Die dahinter stehende massive Manipulation der Fernsehzuschauer leitet jedoch eine neue und gefährliche Phase der Medienpropaganda ein. Mit suggeriert werden unausgesprochene Botschaften wie diese: „Terrobekämpfung ist das wichtigste Thema unserer Zeit. Wir müssen eigentlich immer Angst haben und können froh sein, wenn uns Papa Staat schützt – auch wenn dafür mal ein paar Gesetze und Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden müssen.“ Werden wird demnächst Martina Gedeck als sympathische Verhörspezialistin bewundern dürfen, die einen Terroristen unter der Folter zwingt, das Versteck einer Atombombe preiszugeben? (Von Christoph Besemer, Mitarbeiter der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden)
Das Theaterstück und der ARD-Fernsehfilm „Terror“ bringen wichtige rechtliche und ethische Fragen in die Diskussion. Das ist gut so. Doch die öffentliche Diskussion greift zu kurz und nimmt einige Rahmenbedingungen unhinterfragt hin, denn:
1. Das Ausgangsszenario ist unrealistisch: Ein Pilot würde sein Flugzeug niemals auf ein vollbesetztes Stadion lenken – auch nicht, wenn er durch Terroristen dazu unter Todesdrohung gezwungen werden soll. Ganz einfach deshalb, weil er dort – genauso wie alle anderen Mitfliegenden – ohnehin den Tod finden würde. Warum sollte er zusätzliche 70.000 Menschen mit in den Tod reißen?
2. Es wird in dem Stück behauptet, dass unausweichlich alle 70.000 Menschen im Stadion durch den Flugzeugabsturz umkommen würden. Ist das tatsächlich so? Wo müsste das Flugzeug genau zu Boden kommen, damit alle StadionbesucherInnen getötet werden? Kann das Flugzeug nicht so gesteuert werden, dass möglichst wenige Menschen zu schaden kommen?
3. Hätte der Pilot des Passagierflugzeugs nicht Möglichkeiten gehabt, die Handlungsfähigkeit der Terroristen einzuschränken (z.B. durch bestimmte Flugmanöver). Und hätte er nicht durch unter Einsatz seines Lebens, dem Druck der Terroristen widerstehen können und das Flugzeug in ein unbewohntes Gebiet lenken und dort eine Notlandung versuchen können?
4. Hätte der Jagdbomber-Pilot nicht andere Möglichkeiten gehabt, als das Passagierflugzeug komplett zu zerstören? Hätte er nicht durch eine begrenzte Beschädigung das Flugzeug von seiner Bahn abbringen und zur einer Notlandung veranlassen können?
5. Was wäre gewesen, wenn der angeklagte Jagdbomber-Pilot, frühzeitig zu erkennen gegeben hätte, dass er das Flugzeug nicht abschießen wird und statt dessen das Stadion geräumt werden muss?
6. Das größte Defizit an dem Stück ist, dass das schuldhafte Verhalten der politisch und militärisch Verantwortlichen für die unterlassene Räumung des Stadions zwar benannt, aber inhaltlich nicht weiter thematisiert und in die juristische Aufarbeitung einbezogen wird. Die Bestrafung oder ein Freispruch des Bundeswehr-Piloten würden dadurch an Brisanz verlieren, denn die größere politische und moralische Verfehlung haben die Entscheidungsträger begangen!
7. Das Recht auf individuelle Notwehr und Nothilfe ist juristisch und moralisch gegeben und wird auch für Kriegsdienstverweigerer nicht in Frage gestellt. Es ist aber strengen Kriterien unterworfen, die im Zusammenhang mit Kriegen oder kriegsähnlichen Situationen nicht gegeben sind. Zum Beispiel die persönliche Verantwortlichkeit des Notwehr-/Nothilfeleistenden, das Ausschöpfen aller anderen möglichen Maßnahmen, die Nichtgefährdung anderer, unschuldiger Menschen oder die endgültige Abwehr der Gefahr durch die Notwehr oder Nothilfe. Es ist interessant und wichtig, diese Kriterien an den gegebenen Fall anzulegen und zu überprüfen, wie und wann eine wirkliche Notwehr/Nothilfe vorliegen würde.
8. Die Behauptung der Staatsanwältin, dass unser moralisches Urteilsvermögen mangelhaft ist und wir uns deshalb Prinzipien wie z.B. Verfassung und Gesetzen unterordnen müssen, kann aus ethischer Sicht nur eingeschränkt zugestimmt gelten. Wichtige Fortschritte in der Verwirklichung von Menschenrechten wie z.B. die Abschaffung der Sklaverei oder das Recht auf Kriegsdienstverweigerung wurden nur durch zivilen Ungehorsam gegenüber bestimmten Gesetzen erreicht. Verantwortlicher zivilen Ungehorsam darf aber nicht die Verletzung oder Tötung von Menschen beinhalten und die TäterInnen stellen sich den juristischen Konsequenzen.
9. Die Argumentation der Verteidigung, dass die Rettung einer großen Zahl von unschuldigen Menschen durch das Töten einer kleinen Zahl gerechtfertigt werden kann, ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Die Umstände müssen jedoch nach den Kriterien der Notwehr und Nothilfe sorgfältig abgewogen werden. Und selbst das moralische und juristische Recht dazu, verhindert nicht, dass sich ein Mensch damit schuldig macht und mit dieser Schuld klar kommen muss. Einer juristischen Bestrafung bedarf es dazu nicht.
10. Befand sich der Luftwaffenoffizier in einer Notwehr- oder Nothilfesituation? Außer der genannten Handlungsspielräume (vgl. Punkte 4 und 5) ist es eine Frage, ob ein schwerbewaffneter Mensch tatsächlich ein solches Recht für sich in Anspruch nehmen kann. Als unbewaffneter Kriegsdienstverweigerer werde ich in einer Notsituation nicht einfach eine Waffe aus der Tasche ziehen und den Täter umbringen können. Wer sich systematisch mit tödlichen Waffen ausrüstet und sich vorsätzlich in Gefahrensituationen begibt, hat eine andere ethische Verantwortung als der individuell bedrohte, unbewaffnete Mensch. Wie könnte er z.B. behaupten, dass sein Gewissen es verlangt, 164 Menschen zu töten, um 70.000 Menschen zu retten, wenn allein sein Jagdbomber soviel Geld gekostet hat, um 70.000 Menschen, die an Hunger oder Krankheit sterben, damit retten zu können?
11. Sollte das Argument der größeren Zahl an Geretteten tatsächlich ernst gemeint sein, verbietet sich zum Beispiel ein Kriegseinsatz zur Befreiung einer von feindlichen Militärs besetzten Stadt – aktuell Mossul. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass durch diese militärische Aktion wesentlich mehr Menschen getötet werden als ohne sie. Hier geht es den PolitikerInnen eben doch um ein „Prinzip“, nämlich dass ein (von ihnen so definiertes) Unrechtsregime mit allen Mittel bekämpft werden muss.
12. Der alle moralischen Skrupel überspülende Hinweis „Wir sind in einem Krieg“, der in dem Stück fällt, wird nicht hinterfragt: Zum einen stimmt es nicht, denn es geht um Verbrechensbekämpfung. Zum anderen sollten sich alle, die so argumentieren, fragen, wie es zu diesem Krieg kommen konnte und welche Anteile die eigene Seite daran hat. Wer es wirklich ernst meint mit dem Schutz und der Rettung von Menschen sollte nicht so lange warten (oder dazu beitragen), bis es zu solch zugespitzten Situationen kommt, bei denen dann von Notwehr/Nothilfe gesprochen wird. Friedenspolitik zeichnet sich dadurch aus, dass die primäre Option der Gewaltfreiheit mit allen erdenklichen Mitteln finanziell und politisch gefördert und eingesetzt wird, statt umgekehrt den Moloch Rüstung und Militär mit unvorstellbaren Milliardenbeträgen zu füttern und zur „Konfliktbewältigung“ einzusetzen und dadurch strukturell und direkt unendliches menschliches Leid zu verursachen.