Tiefe Stille, weite Sicht

 In FEATURED, Spiritualität

Über das Bewusstsein machen sich die meisten Menschen keine Gedanken. Sie nehme es als Selbstverständlichkeit oder halten es allenfalls mit dem Zusatz “Klassenbewusstsein” für relevant. Tatsächlich aber kennt jeder Mensch verschiedene “Schichten” von Bewusstheit. Das scheinbar immer präsente, vom Verstand dominierte “Ich-Bewusstsein” verschwimmt an seinen Rändern und löst sich in regelmäßigen Abständen ganz auf – etwa in den verschiedenen Phasen des Schlafs, in Zuständen von Rausch, starker Emotion, Versunkenheit im Augenblick oder Meditation. Schon wenn wir unseren Gedankenstrom wie ein scheinbar neutraler Zeuge beobachten, erreichen wir eine neue Qualität von Bewusstheit. Ken Wilber, Philosoph, Universalgelehrter und genialer “Kartograf” der Weltanschauungen, hat die verschiedenen Bewusstseinsschichten genau beschrieben. Er zeigt damit auch einen Weg auf, der für uns begehbar ist – hin zu Heilung, Befreiung von Leid und spirituellem Erwachen. (Torsten Brügge)

Bewusstseinsentwicklung verstehen und anregen. Eine Serie zum Integralen Modell nach Ken Wilber von Torsten Brügge. Teil 1 

 

Einführung:

Für Themen rund um das Feld „Psychologie und Spiritualität“ ist das Integrale Modell nach Ken Wilber hilfreich. Mit unerreichter Präzision beschreibt es die Aspekte menschlicher Bewusstseinsentwicklung. Es erweitert den Horizont. Es zeigt Missverständnisse und Fallstricke auf dem spirituellen Weg. Und es gibt Anregungen für die eigene spirituelle Lebenspraxis. Wilber sagt über sein Modell, es sei eine Landkarte. Sie lade dazu ein, die echte Landschaft zu erkunden. Und so ist es. Das Integrale Modell ist eine spirituelle Map-App.

1. Tiefes Einssein – zum nondualen Bewusstsein erwachen

Die erste Grunddimension des integralen Modells, heißt „Zustandserwachen“ (englisch: WAKE UP). Im gewöhnlichen Wachbewusstsein spiegelt uns der Wahrnehmungsapparat eine dualistische Sicht auf die Welt vor. Wir haben den Eindruck, eine von anderen und von der Welt getrennte Person zu sein. Objekte, die wir wahrnehmen, scheinen Festigkeit und Dauer zu besitzen und abgegrenzt von anderen Objekte zu existieren. Ein Baum ist ein Baum. Luft ist Luft. Unser Körper ist unser Körper. Wir scheinen über einen eigenständigen Ich-Kern zu verfügen. Wir glauben, unser Leben mehr oder weniger durch Willen und Verstandesaktivität kontrollieren zu können – und es kontrollieren zu müssen. Im integralen Modell heißt das grobstoffliche Wirklichkeitswahrnehmung.

Feinstofflich träumen – seliges Nichts im Tiefschlaf

Darunter zeigt sich eine subtile oder feinstoffliche Wahrnehmung. Wir erleben sie in Traum und Tagtraum, in Trancezuständen und beim Erspüren innerer Bilderwelten. Auch Intuition oder Hellfühligkeit gehören diesem Bereich an. Hier geraten Raum- und Zeiterleben ins Fließen. Wir ahnen oder spüren Beziehungen und Verbundenheit zwischen Dingen und Wesen. Ist unser Körper tatsächlich getrennt von Luft und Baum? Den vom Baum erzeugten Sauerstoff nimmt unser Organismus auf und nutzt ihn zur Energiegewinnung. Das von uns ausgeatmete Kohlendioxid wiederum verstoffwechselt der Baum. Aus dem gewonnen Kohlenstoff wachsen seine Äste. Solche Gefüge kann die Wissenschaft äußerlich erklären. Wir erahnen sie innerlich, wenn wir der Verbundenheit aller Erscheinungen nachspüren. Darum also umarmen die Schamanen so gerne Bäume… Vielleicht bekommen wir selbst Lust darauf!

Grobstoffliche und feinstoffliche Wahrnehmungen sind natürliche Bestandteile unseres Erlebens. Wir erfahren sie aber nicht 24 Stunden am Tag. In der Nacht – oder bei einem guten Mittagsschlummer – treten wir in einen dritten grundlegenden Bewusstseinszustand ein: den Tiefschlaf. Hier ist alles vergessen: Raum, Zeit, Sehen, Hören, Riechen, Empfinden. Alle Gedanken und unser Ich-Gefühl verschwinden in einem dunklen Nichts. Wir genießen die Ruhe einer unfassbaren Leere. Die Welt – einschließlich unseres Ichs – ist wohltuend abwesend.

Tauchen wir wieder auf aus dem seligen Schlummer, sagen wir vielleicht: „Ich habe gut geschlafen. Ich war total weg. Wunderbar!“

Das integrale Modell nennt dies die kausale Zustandsebene. Diese Leere ist wie ein Urgrund, aus dem alles Erleben auftaucht und in den hinein es wieder verschwindet.

Einfach nur beobachten

Noch spannender und befreiender wird es, wenn wir uns dem nächst tieferen Zustand zuwenden: Dem Zeugenbewusstsein. Es besteht als unberührtes, stilles Gewahrsein, das den wechselnden Zuständen von Wachen, Träumen, Tiefschlaf zugrunde liegt. Zeugenbewusstsein ist kein Zustand. Es ist die immer anwesende Bewusstheit, die alle Erfahrungen beobachtet.

Tatsächlich erleben wir es gerade jetzt, während die Buchstaben dieses Textes gelesen werden. Allerdings ist es uns meist nicht bewusst. In therapeutischen Ansätzen – wie in der hypnosystemischen Arbeit nach Gunther Schmidt oder der Traumatherapie von Luise Reddemann – nennt man es Beobachterhaltung. Sie lässt sich mit einer Video-Kamera vergleichen, die auf den Horizont einer Landschaft gerichtet ist. Sie filmt den ganzen Tag. Jedes ihrer Einzelbilder unterscheidet sich vom anderen. Am Morgen geht die Sonne glutrot auf, am Mittag strahlt sie gleißend hell, den Abendhimmel färbt sie violett ein. Zwischendurch ziehen Wolken auf, verdunkeln den Himmel, lösen sich wieder auf. Wipfel schwingen im Wind und ruhen still. Blüten gehen auf und schließen sich. Vögel ziehen vorbei. Was bleibt unverändert bei diesem stetigen Wandel der Erscheinungen? Die Kamera! Sie beobachtet die Szene und bleibt selbst das unbewegte Auge im Hintergrund. Sie greift nicht ein. Sie bewertet nicht. Sie nimmt alles an, lässt alles gehen, gerade so wie es erscheint und verschwindet.

Eine vergleichbare Haltung entdecken wir, wenn wir uns in das Zeugenbewusstsein zurücklehnen. Wir beobachten schlicht, was wir wahrnehmen: Wie sehen die Dinge um uns herum. Ihre Farben und Konturen. Die Bewegungen von Menschen und Tieren. Oder das Stillleben, wenn nichts sich regt. Wir lauschen auf die umgebende Klangkulisse. Geräusche erklingen und verklingen. Menschen sprechen. Wind rauscht. Gibt es Verkehrsgeräusche? Singen Vögel? In manchen Momenten ist es still – ein wenig oder ganz. Wir schließen unsere Augen und beobachten weiter. Eine Ahnung von hellen und dunklen Lichtflecken, Lichtschlieren, kleinen Blitzen auf der Netzhaut. Die Dunkelheit hinter den Augenlidern entspannt. Auch Körperempfindungen können wir auf diese Weise beobachten. Das Ein- und Ausatmen. Die Berührungen mit der Sitzunterlage, mit der Lehne, dem Boden.

Und die Gefühle. Manchmal ist alles friedlich. Dann wieder ärgert uns etwas. Es verfliegt wieder. Wir lachen über uns selbst. Noch schneller ändern sich Gedanken. Kaum ist einer aufgetaucht, „Moment, was denke ich gerade?“, wird er von einem anderen abgelöst. „Keine Ahnung, ist auch egal.“ Und dann zeigen sich Lücken zwischen Gedanken. Der eine ist schon weg. Der nächste noch nicht da. Dazwischen tut sich eine stille Pause auf, in der kein Gedanke erscheint. Kurz danach denken wir: „Oh, ein Moment der Stille!“ Auch dieser Gedanke löst sich auf. Wieder gibt es einen ruhigen Moment. Je mehr wir auf die Lücken zwischen den Gedanken achten, desto deutlicher wird die stille Präsenz im Hintergrund, die frei ist von Gedanken. Aus ihr heraus wird alles mit großer Ruhe wahrgenommen, ohne Benennungen, ohne Bewertungen. Wir brauchen nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil: Es ist ein entspanntes, immer schon anwesendes Nicht-Tun.

Die Erkundung der Beobachterhaltung dient auch der Heilung. Sie schafft einen erleichternden Abstand zu belastenden Gefühlen und Gedanken. Die Aufmerksamkeit richtet sich von selbst auf die stärkenden Aspekte der Psyche.

Kein Ich, nur Einssein

Es gibt noch ein tieferes Potential. Wir können jene Grundannahme hinterfragen, der fast jeder Mensch aufsitzt. Es ist der Glaube, das Ich-Bewusstsein sei eine fest umrissene Instanz in unserem Gehirn. Wir nehmen an, es gebe eine Art kleinen Mann oder eine kleine Frau im Kopf. Wir haben das Gefühl, diese Instanz schaue von irgendwo her zu – meist von hinten unter der Schädeldecke – und treffe die Entscheidungen. Psychologische Sichtweisen stellen diese Idee selten in Frage.

Das integrale Modell regt an, diese vermeintliche Instanz direkt zu erforschen. „Was ist dieser Seher wirklich?“ und „Was sieht den Seher?“ Diese Frage dringt vor zum Kern der Ich-Wahrnehmung. Dort wartet eine überraschende Entdeckung: An dem Ort, wo eine feste Ich-Instanz vermutet wird, befindet sich nichts, rein gar nichts! Die gute Nachricht lautet: Dieses Nichts ist befreiend! In ihm zerstäubt jedes feste Ich-Gefühl in eine weiträumige Leere, die nichts übriglässt als pure Bewusstheit ohne Form, ohne Inhalt.

Und damit nicht genug: Sobald diese Leere in voller Gänze zugelassen wird, erweist sie sich zugleich als erstaunliche Fülle. Wir fühlen ein unvorstellbares Einssein mit allen Aspekten des Lebens, von denen wir uns bisher getrennt gefühlt haben. Für den Verstand scheint es ein Paradox. Er meint, es könne nur entweder Leere oder Fülle geben. Entweder Nichts oder Alles. Doch wenn der dualistische Filter des Denkens wegfällt, zeigt sich ein umfassendes Sowohl-als-auch. Diese tiefste – und zugleich auch höchste – Bewusstseinsqualität bezeichnet das Integrale Modell als nonduales Einssein.

So wie die Tiefe des Ozeans unter jeder Welle jederzeit in voller Gänze zugänglich ist, so kann jeder Mensch jederzeit Einblicke ins Zeugenbewusstsein oder nonduales Einssein erfahren. Das wird oft als Erwachen bezeichnet – wenn es sich stabilisiert auch als Erleuchtung. Selbst unter ungünstigen Lebensumständen und in Lebenskrisen strahlt dann eine Dimension überweltlichen Friedens hervor. Dieser erweist sich als gänzlich unberührt von jedem Leid und schenkt ein Gefühl der Erfüllung jenseits von bedingtem Glück.

So wertvoll solches Zustands-Erwachen (WAKE UP) auch ist. Es stellt nur einen Teil der ganzheitlichen Befreiung dar. Es gibt weitere Dimensionen der Bewusstseinsentfaltung. Zum Beispiel das Aufwachsen und Erwachsenwerden über die Bewusstseinsebenen hinweg. Mit ihnen beschäftigen wir uns im zweiten Artikel der Serie.

Torsten Brügge ist spiritueller Lehrer, Autor u.a. des Buches “Besser als Glück. Wege zu einem erfüllten Leben” und Mitbegründer des INMEDITAS Institut für Integrale Meditation, Achtsamkeit und Selbsterforschung, das Kurse in Integraler Tiefenspiritualität und Ausbildungen zum psychologisch-tiefenspirituellen Begleiter anbietet

www.inmeditas.com

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