Tiefer als ganz unten

 In FEATURED, Holdger Platta, Politik (Inland)

Eine Arbeitslose fordert die finanzielle Gleichstellung mit Ex-Straftätern. Der Fall wirft ein Licht auf das Problem des Existenzminimums bei Hartz IV. Ein Straftäter, der frisch aus dem Gefängnis entlassen wurde, ist ganz unten auf der „sozialen Leiter“ angekommen. Der Verlust an gesellschaftlichem Ansehen macht es ihm für alle Zukunft schwer, beruflich wieder auf die Beine zu kommen. Also: Weiter abwärts geht gar nicht mehr. So könnte man meinen. Eine erwerbslose Sekretärin bewies jedoch: Viele Arbeitslose, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, stehen materiell noch schlechter da als entlassene Strafgefangene. Für diese und ihre Bedürfnisse sorgt der Staat nämlich teilweise recht gut. „Normale“ Hartz-IV-Betroffene dagegen haben oft nicht einmal das Geld zur Verfügung, um Gastgebern ein kleines Geschenk zukommen zu lassen. Zu schweigen von den Fahrtkosten, um liebe Menschen zu besuchen, die etwas weiter vom Wohnort entfernt leben. Der Autor nutzt diesen „Fall“ für eine Generalabrechnung mit dem System Hartz IV. Nicht die Schlechterstellung von rehabilitierten Straftätern fordert er, sondern die Besserstellung von unverschuldet in eine Notlage geratenen Menschen. Auch wenn dieser Artikel etwas älter ist und Hartz IV jetzt „Bürgergeld“ heißt — am Grundprinzip hat sich nichts geändert. Ein Text zur Sonderausgabe „Armut in Deutschland“. Holdger Platta

 

Frühjahr 2007: Zu seiner großen Überraschung wurde unser Mitarbeiter Holdger Platta zu einem Hilfsprojekt des Göttinger Arbeitsamts hinzugeholt, als Berater und Chefredakteur. Rund zehn Hartz-IV-Betroffene sollten eine Monatszeitschrift herausgeben für die südniedersächsische Bevölkerung. Angeblich zensurfrei, lediglich zu sachlich zutreffender Information verpflichtet. Einziger Haken — der zunächst überhaupt nicht als Haken erschien: Die „Projektleiterin“ sollte letztlich für alles verantwortlich sein, der Arbeitsagentur gegenüber, aber auch gegenüber der Volkshochschule in Göttingen. Nun, ein erstes Heft erschien — Probeaufgabe für alle noch. Inhalt: unpolitisch und unproblematisch. Aber dann war es mit dem Frieden und mit der Freiheit in diesem Projekt auch schon vorbei.

Holdger Platta, seit Jahrzehnten im Journalismus tätig gewesen, vor allem für viele westdeutsche Rundfunkanstalten, schrieb den nachfolgenden Artikel. Alles aufs Sorgfältigste durchrecherchiert — sachliche Kritik an seinem Text sollte auch niemals vorgebracht werden können —, legte Platta eine umfangreiche Bilanz zum Leben von „Hartz-Vierern“ vor, mit den Schwerpunktfragen: Gewährleistet das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene neue Sozialgesetz tatsächlich ein „menschenwürdiges Existenzminimum“? Wie sieht es mit der Gesundheitspflege für die Arbeitslosen aus, wie mit der Kostenübernahme für Fort- und Weiterbildung, wie mit der weiteren realen Möglichkeit zur „soziokulturellen“ und politischen Teilhabe für die Ausgegrenzten?

Umfangreiche Recherchen, umfangreiche Interviews mit Betroffenen förderten unwiderlegbar zutage: In keinerlei Hinsicht konnten der damals gewährte „Regelsatz“ (345 Euro pro Monat und Person im Einpersonenhaushalt) und die Unterstützungszahlungen fürs Wohnen — ohne Strom! — ein solches Leben sicherstellen. Nicht einmal annäherungsweise! Doch verwundert es, im Nachhinein jedenfalls?

Dieser Artikel sollte niemals erscheinen. Von der Projektleitung wurde die Publikation abgelehnt — ohne jedes vorherige Gespräch, ohne Begründung, ohne irgendein Argument. Und Plattas Reaktion darauf? Ohne irgendeine Verzögerung legte er seine beiden Ämter bei diesem Zeitungsprojekt nieder. Gleiches tat auch seine Ehefrau und Mitredakteurin Sybille Marggraf. Lediglich die anderen MitarbeiterInnen machten ausnahmslos weiter bei diesem Projekt — wobei Platta und Marggraf noch so manchen Anruf und noch so manche Mail nach ihrem Rücktritt bekamen: allesamt mit Zustimmung und Beifall für diesen Schritt.

Hier nun der damals „einfach mal so“ wegzensierte Artikel — mit einem Nachtrag, der auch das heutige, das aktuelle Zahlenmaterial wiedergibt.

Dieser Beitrag stellt also beides zugleich dar: Rückblick auf die schlimme Verelendungspolitik in Deutschland per Gesetz seinerzeit und Blick auf den Stand heute, auf eine Situation, die kaum eine nennenswerte Besserung für die ausgegrenzten Arbeitslosen — und auch Armutsrentner! — in der Bundesrepublik zeigt. Der Skandal von damals ist also auch heute noch ein Skandal. Aber lesen Sie selbst!

Die erwerbslose Sekretärin Katrin Weber aus Einbeck, seit Jahresbeginn 2005 Bezieherin von Arbeitslosengeld II (ALG II), ist verbittert. Sie fordert seit Kurzem ihre Gleichstellung mit Straftätern in der Bundesrepublik. Ist Katrin Weber durchgedreht?

Nein, sie stimmt in dieser Forderung überein mit zahlreichen Rechts- und Sozialexperten dieses Landes. Ihr Grund: Das sogenannte Existenzminimum — der Mindestbetrag, der nach geltender Gesetzeslage im Rahmen der Hartz-IV-Regelungen sämtliche Bedürfnisse von Arbeitslosen in der Bundesrepublik abdecken soll — liegt bei 595 Euro pro Monat. So auch noch einmal vor Kurzem bestätigt von der Bundesregierung in einer eigens dazu veröffentlichten Pressemitteilung. Demzufolge soll mit diesem Betrag von 595 Euro alles bezahlt werden können, was ein erwachsener Erwerbsloser pro Monat für seine gesamten Lebensansprüche braucht: fürs Essen und Trinken, für Miete und Heizung, für Reparaturkosten und unvermeidliche Neuanschaffungen, für Praxisgebühr beim Hausarzt und Zuzahlungen zu Medikamenten, für sämtliche Kosten der Kommunikation, Verkehrsnutzung und täglichen Information.

Das Problem ist nur: Der Gesamtbetrag reicht für dieses alles nicht aus. Und deshalb auch Katrin Webers scheinbar verrückte Idee, Gleichstellung mit Ex-Straftätern zu fordern. Die sind nämlich in puncto Existenzminimum viel besser dran als die Erwerbslose aus Einbeck.

Doch konkret:

Der Lebensbedarf entlassener Straftäter, die nach Verbüßung ihrer Haftstrafe eine neue Arbeitsstelle finden und verpflichtet sind, davon die Schäden wiedergutzumachen, die sie im Zusammenhang mit ihren Delikten angerichtet haben, ist als pfändungsfreies Existenzminimum festgelegt worden auf sage und schreibe rund 990 Euro — netto wohlgemerkt! Heißt: Derselbe Staat, der bei der Bestimmung der sogenannten Pfändungsfreigrenze für ehemalige Straftäter von einem monatlichen Existenzminimum von rund 990 Euro ausgeht, hat das Existenzminimum für Menschen, die ohne jedes eigene Verschulden arbeitslos geworden sind, auf den Gesamtbetrag von rund 600 Euro runtergedrückt. Damit werden Straftäter bei der gesetzlich-regierungsamtlichen Bestimmung ihres Existenzminimums um rund 390 Euro netto pro Monat beziehungsweise rund 67 Prozent bessergestellt als die Erwerbslosen in der Bundesrepublik.

Und nebenbei: Selbst der „normale“ Arbeitnehmer, der steuerpflichtige Staatsbürger, schneidet bei diesem Vergleich mit den Ex-Straftätern erheblich schlechter ab: Sein steuerfrei gestelltes Nettoeinkommen — dito im Sinne des Gesetzes als Existenzminimum definiert — ist auf einen monatlichen Nettofreibetrag von rund 640 Euro festgelegt.

Ergo: Selbst dem steuerpflichtig Beschäftigten gegenüber billigt man den Ex-Straftätern, die Schäden wiedergutzumachen und Schulden abzutragen haben, ein um 55 Prozent höheres Existenzminimum zu als dem „normalen“ Steuerbürger, also rund 350 Euro Mehreinkommen!

Dreiklassensystem beim Existenzminimum

Katrin Weber hat also offenbar recht: Angesichts dieser Ungleichbehandlung sollte man in der Bundesrepublik lieber Ex-Straftäter als Ex-Arbeitskraft sein. Nicht sie, die erwerbslose Sekretärin aus Einbeck, ist verrückt geworden; verrückt ist dieser Berechnungswirrwarr bei der Definition des Existenzminimums, bei dem perverserweise die ärmsten Bürger am schlechtesten abschneiden und die Ex-Straftäter am besten. Aber nicht nur absurd ist das, sondern auch zutiefst inhuman gegenüber den Arbeitslosen und rechtsstaatswidrig, allein schon aufgrund fehlender Gleichbehandlung aller — eine Grundmaxime unseres Rechtsstaates, siehe Artikel 3 unseres Grundgesetzes! Aber konkret:

Eine genauere Analyse des den Arbeitslosen zugebilligten Existenzminimums ergibt, dass kein Mensch von diesen 345 Euro „Regelsatz“ menschenwürdig und im Sinne der verfassungsrechtlichen Definition von „Existenzminimum“ leben kann. Diese Definition von Existenzminimum schließt nämlich, wie diverse Verfassungsgerichtsurteile wieder und wieder bestätigt haben, ausdrücklich die sogenannte soziokulturelle Teilhabe mit ein und nicht nur — um es einmal drastisch zu formulieren — das bloße Fressen- und Saufenkönnen. „Soziokulturelle Teilhabe“? Nun, das heißt zum Beispiel, am heimischen Vereinsleben teilnehmen zu können, mitmachen zu können bei einer politischen Partei, kontinuierlich Konzerte, Kino, Theatervorstellungen besuchen zu können und nicht zuletzt: sich weiterbilden zu können — etwa durch Besuch von Volkshochschulkursen oder Kauf von Fachliteratur.

Doch merkwürdig, merkwürdig: Gerade der „Warenkorb“ Bildung blieb bei der Errechnung des sogenannten Regelsatzes für ALG-II draußen vor, einschränkungslos und von Anfang an übrigens — und dies angesichts der immer wieder lautwerdenden Propaganda, ein Großteil der Arbeitslosen in der Bundesrepublik sei deswegen arbeitslos geworden, weil er zu unqualifiziert gewesen sei, oder es läge vor allem am Mangel an Bildungsbereitschaft der Erwerbslosen jetzt, dass sie aus ihrer Misere nicht herausgelangten und keine guten neuen Arbeitsplätze fänden.

Logik: Die Opfer der Arbeitslosigkeit sind selber schuld, dass sie Opfer der Arbeitslosigkeit sind. Die Wahrheit hingegen: Nicht an Bereitschaft zur Weiterbildung fehlt es, sondern schlicht an Knete dazu!

Dieselben Politiker, die in der BRD die Erwerbslosen als bildungsunwillige Faulenzer kritisieren, haben mit ihren Gesetzen dafür gesorgt, dass sich die Erwerbslosen gar nicht mehr weiterqualifizieren können. Man schafft einen Mangel, um dessen Folgen dann jenen in die Schuhe schieben zu können, die unter diesem Mangel zu leiden haben. Eine Diffamierungskampagne ist das, nichts sonst. Und verfassungsrechtlich bedeutet dies:

Arbeitslosengeld II als Gesundheitsverhinderer

Artikel 1 unseres Grundgesetzes, der die Würde des Menschen unter den ausdrücklichen Schutz allen staatlichen Handelns stellt und nicht zufällig der erste Artikel unserer Verfassung ist: mit Basis-Charakter für alle weiteren Grundrechtsartikel, ist fundamental verletzt durch diese Beschränkung des Lebensunterhaltes auf maximal 345 Euro pro Monat. Kein Mensch kann auch nur annähernd von diesem Betrag leben. Die sogenannte Grundsicherung — dies der Untertitel zu dem einschlägigen Gesetzeswerk Sozialgesetzbuch II (SGB II) — stellt in Wahrheit etwas ganz anderes dar: eine „Ab“grundsicherung — staatlich betriebene Verelendungspolitik! Und dieses Elend — ein Wort, das man an dieser Stelle noch für theatralische Übertreibung halten mag — soll an den folgenden Beispielen ganz konkret dargestellt werden:

Andreas Merwe, 54 Jahre alt, gelernter Elektriker, seit vier Jahren arbeitslos, hat gleich mit mehreren Gesundheitsproblemen zu kämpfen: Jedes Frühjahr, bis weit in den Spätherbst hinein, leidet er unter Pollenallergie; mit seinen Zähnen steht es nicht zum Besten; schließlich, vor knapp einem Jahr hinzugekommen, hat sich sein Sehvermögen erheblich verschlechtert: der Augenarzt empfahl ihm dringlich die Anschaffung einer Brille für alle Sehbereiche —Ferne, Mittelbereich, für PC-Schirm etwa sowie Armaturenbrett Auto und Nähe, fürs Lesen vor allem —, eine Gleitsichtbrille also. By the way: Drei Einzelbrillen wären nicht billiger! Doch dieses ist die finanzielle Situation für den erwerbslosen Elektriker:

Die Medikamente gegen seine Pollenallergie muss er vollständig aus eigener Tasche bezahlen; Kostenpunkt in diesem pollenintensiven Frühjahr: über 30 Euro pro Monat, voraussichtlich also fast 300 Euro für die gesamte Saison. Doch der Gesamtbetrag für Gesundheitspflege innerhalb seines Regelsatzes von 311 Euro — Andreas Merwe ist verheiratet, deswegen der Abzug von 34 Euro vom vollen Regelsatz, der für alleinstehende Personen 345 Euro beträgt — sieht maximal 13,17 Euro pro Monat für Ausgaben bei der Gesundheitspflege vor, inklusive Zahnpasta und so weiter. Allein für seine Antiallergika zahlt also der Erwerbslose aus dem Landkreis Göttingen monatlich aus eigener leerer Tasche 17 Euro drauf —er muss dieses Geld also irgendwie irgendwo einsparen. Aber wo?

Prophylaktische Zahnreinigung — Kostenpunkt pro Jahr rund 150 Euro, zumindest bei seinem Zahnarzt —, von allen Krankenkassen wie auch dem eigenen Arzt dringendst empfohlen, ist da gar nicht mehr drin. Was man den Zähnen von Andreas Merwe, der aus Gesundheitsgründen Teetrinker ist, allmählich auch ansieht. Auch diese Kosten übernehmen selbstverständlich weder Sozialagentur noch Krankenkasse. Und die neue, dringend erforderliche Brille?

Auch auf diese muss der Erwerbslose verzichten: Andreas Merwe hatte gleich bei mehreren Optikern in Göttingen Kostenvoranschläge eingeholt: Die Kosten allein für die Gläser— ohne Gestell! — belaufen sich auf Beträge zwischen 400 bis über 600 Euro, und auch die angeblich ganz, ganz billigen Kettengeschäfte waren darunter. Fazit: Andreas Merwe läuft und fährt nach wie vor mit seiner alten, mittlerweile sieben Jahre alten Brille durch die Gegend, nimmt bei seiner PC-Arbeit, für seiner Bewerbungsschreiben zum Beispiel, Augenrötungen, Ermüdung und Kopfschmerzen in Kauf. Hinzu kommt: Selbstverständlich „vergaß“ man bei der Einführung von Arbeitslosengeld II auch, dass gleichzeitig die sogenannte Gesundheitsreform in Kraft trat. Deshalb auch nirgendwo Erstattung der Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal.

Viele Hausärzte beobachteten deswegen auch einen schlagartigen Rückgang ihrer Patientenzahlen. Behandlungsversäumnisse drohen, Chronifizierung von Krankheiten — deren Behandlung dann natürlich viel teurer kommt als ihre rechtzeitige Therapie.

Und das meiste, was den Menschen heute an „Prävention“ zur Krankheitsvorbeugung angeraten wird, von Krankenkassen wie Ärzten, ist für ALG-II-Bezieher ohnehin nicht mehr drin: Gesunde Bio-Ernährung überschritte im Durchschnitt um mindestens das Doppelte den dafür zur Verfügung stehenden Etat — nicht mal 4 Euro pro Tag; Mitgliedschaft in Sportvereinen, Anschaffung von Sportdress, Besuch von Fitness-Studios ist dito unmöglich. Die schöne, jung erhaltende Anti-Aging-Welt können sich Hartz-IV-Betreute nur noch vom Zaun her oder durch die Schwimmbadscheibe ansehen. Kurz: Dies ist gesundheitliche Wohlfahrt unter den Bedingungen von Hartz-IV. Menschenwürdig?

Arbeitslosengeld II als Bildungs-Stopper

Ganz andere Folgen — Folgen allmählicher, immer tiefer greifender Dequalifizierung — treten hingegen bei der ALG-II-Bezieherin Sigrid Herzog*, 52 Jahre, zutage: Sie, die freiberuflich als Wissenschaftsjournalistin tätig war und wegen des Abbaus der entsprechenden Programme bei den bundesdeutschen Sendeanstalten immer stärker in finanzielle Bedrängnis geriet, trotz zahlreicher Buchveröffentlichungen sogar in Fachverlagen, sie, die immer noch nicht resignierte Sigrid Herzog, musste als allererste Maßnahme mit Hartz-IV-Beginn alle Abos wissenschaftlicher Zeitschriften kündigen; Gleiches galt für die zweite — die überregionale — Tageszeitung, und Bücheranschaffungen sind selbstredend ebenfalls nur noch in raren Ausnahmefällen möglich. Schließlich hat sie auch nahezu völlig — trotz aller Motivation dazu — die Versuche aufgeben müssen, neue Schreibaufträge auf dem hart umkämpften Markt der journalistischen Freiberufler zu ergattern. Und dies sind die Gründe dafür:

Im ALG-II-Regelsatz sind für sämtliche Kommunikationskosten lediglich 22,37 Euro vorgesehen. Dieser Betrag soll alles abdecken: Briefpost, Fax, Telefon, Internet, Mailing und Recherche etwa. Doch allein die Grundgebühren für Sigrid Herzogs ISDN-Anlage betragen pro Monat rund 22 Euro. Da bleibt für die eigentliche Nutzung von PC und Telefon nur noch der stattliche Restbetrag von 37 Cent übrig. Und was die Kosten für das Abo von Zeitungen und Zeitschriften betrifft, so billigt ihr der Regelsatz dafür pro Monat nicht mal einen Gesamtbetrag von 10,24 Euro zu. Davon kann man in der Bundesrepublik keine einzige Tageszeitung abonnieren — geschweige denn die allgemein sehr teuren Fachzeitschriften.

Für Sigrid Herzog kam der Hartz-IV-Beginn einem Zwangsrauswurf aus ihrer früheren Tätigkeit gleich und zugleich einem erfolgreichen Verhinderungsinstrument, jemals wieder im alten Beruf durch Bewahrung der eigenen Fachqualifikation Fuß fassen zu können. Und nimmt man den dürftigen Anschaffungsbetrag für Bücher hinzu, der von den Erfindern des Regelsatzes den Bedürftigen zugestanden wird — ganze 5,98 Euro pro Monat —, so belehrt noch jeder Besuch in einem Buchgeschäft, dass Bücher für diesen Preis nicht zu erwerben sind — Fachbücher, wie im Falle der Sigrid Herzog erforderlich, schon gar nicht. Hartz-IV ist folglich auch staatlicher verhängter Bildungs-Stopp, bei dem im Grunde nur noch die Glotze als einziges Informationsmedium übrig bleibt, und verhindert zudem, was eigentlich mit diesem Gesetzespaket angeblich befördert werden sollte: die auch von den Erwerbslosen selbst betriebenen Wiedereingliederungsversuche ins „normale“ Erwerbsleben.

Clements „Parasiten“ sind — wenn man diesen volksverhetzenden Begriff überhaupt in den Mund nehmen möchte — „Zwangs-Parasiten“. Der Staat hat diese Menschen zu „Parasiten“ gemacht!

Arbeitslosengeld als Beziehungszerstörer

Kommen wir damit zur letzten und vielleicht schlimmsten Zwangsauswirkung von Hartz-IV: zur sozialen Ausgrenzung und Isolation, die unvermeidlich mit diesem Maßnahmenkatalog gegen die Erwerbslosen in der Bundesrepublik in Gang gesetzt worden sind — kurz: zum Thema Arbeitslosengeld II als Zwangsvereinsamungsprogramm für Millionen von Menschen:

Manches davon wurde hier schon erwähnt: Beziehern von ALG-II ist Mitgliedschaft in Vereinen, Parteien und Gewerkschaften in aller Regel nicht mehr möglich, allein aus finanziellen Gründen. Im gesamten Regel- und Berechnungswerk von Hartz-IV sind Kosten für solche Mitgliedschaften nicht vorgesehen — was übrigens, verfassungswidrigerweise, auch einem Zwangsausschluss der ALG-II-Bezieher von nahezu jeglicher politischen Mitwirkung gleichkommt! Doch die Liste binnenstaatlicher Zwangsexilierung von Erwerbslosen ist damit längst noch nicht annähernd vollständig erfasst.

Werner Behrens zum Beispiel, Ende 50, früher als Verkaufsleiter in einem Göttinger Möbelgeschäft tätig gewesen, das dann pleiteging, hatte sich während des Zeitraums seiner Berufstätigkeit einen großen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut, dank seiner geselligen Fähigkeiten, dank einiger Mitgliedschaften in Sport- und Gesangvereinen. Hinzu kam die intensive Pflege verwandtschaftlicher Kontakte zu Geschwistern und eigenen Kindern, zu Tanten und Onkeln, die nahezu alle auswärts wohnen, zumeist sogar in ganz anderen Regionen unserer Republik. Was ist seit Hartz-IV-Beginn im Jahre 2005 mit all diesen Kontakten geschehen?

Werner Behrens, mit Tränen in den Augen, schildert seine heutige Situation so: Das Telefon musste er aus Kostengründen abschaffen; Briefe können nur noch sporadisch geschrieben werden — bei einem Regelsatzbetrag von 3,82 Euro für diesen Zweck natürlich kein Wunder! Und Besuche? Tja, diese sind völlig unmöglich geworden, denn an das Bedürfnis, dass Verwandte und Freunde miteinander in Verbindung bleiben wollen, haben die Hartz-IV-Erfinder natürlich überhaupt nicht gedacht.

Zwar hat man für sogenannte Verkehrsdienstleistungen in die Berechnung des Regelsatzes von Hartz-IV einen Monatsbetrag von 18,11 Euro eingesetzt, aber dieser Betrag reicht bei Werner Behrens nicht mal für die 37 Euro aus, die er für die Monatskarte der Göttinger Verkehrsbetriebe (Stadtbusse) ausgeben muss. Wie da — vielleicht einmal im Jahr wenigstens! — nach München fahren, zum Bruder, oder nach Stuttgart, zur Schwester, wie da, wenigstens einmal alle zwei, drei Jahre, das Patenkind in Zetel/Ostfriesland besuchen? Selbst Extra-Anträge bei seiner Sozialagentur aus Anlass der Konfirmation seines Hamburger Patenkindes haben da nicht weitergeholfen. „Abgelehnt“ — so die Antwort der Agentur, im Gesetzeswerk Hartz-IV nicht vorgesehen, „leider“ — immerhin fand sich dieses Wort im Ablehnungsbescheid! Und wie steht es mit den sozialen Kontakten vor Ort?

Natürlich — mit seinen Nachbarn redet Werner Behrens noch, hin und wieder besucht er auch noch Ex-Bekannte und Ex-Freunde. Aber, so der tüchtige Verkaufsleiter von einst:

„Können Sie sich vorstellen, wie es ist, zu Geburtstagen eingeladen zu sein und nicht mal ein kleines Geschenk mitbringen zu können? Und können Sie sich vorstellen, keine Gegeneinladungen mehr aussprechen zu können, weil jegliches Geld für die Bewirtung Ihrer Gäste fehlt?“

Stimmt, auch daran haben die Hartz-IV-Programmierer der Menschenvereinsamung nicht gedacht: Zu einem Menschenleben in Würde, zu „soziokultureller Teilhabe“ gehört schlicht auch, dass man Menschen besuchen und von Menschen besucht werden kann und dass man ihnen, bei Geburtstagen etwa, nicht nur einen leeren Magen mitbringen möchte und nicht nur eine leere Tischplatte bei deren Besuch präsentieren will.

Selbst Microsoft-Manager Eric Raymond sprach bereits 1998 davon, dass wir „Abendländer“ in einer „Kultur des Schenkens“ leben, und die jüdisch-amerikanische Kulturwissenschaftlerin Natalie Zemon Davis hat 2002 ein ganzes Buch über dieses soziale Verhaltensfundament des Schenkens in den abendländischen Kulturen vorgelegt. Nun, von Hartz-IV kann man sagen, dass dieses Stück tragender Sozialkultur in Deutschland für viele Menschen vernichtet worden ist.

„Hartz-IV ist Menschenverachtung in Euro und Cent!“

Eines lag Werner Behrens bei seiner Schilderung der sozialen Isolation am Ende des Gespräches noch ganz besonders am Herzen. Er hatte vor einiger Zeit bei der für ihn zuständigen Sozialagentur beantragt, einmal wieder das Grab seiner Eltern in Berlin besuchen zu dürfen und dafür die Reisekosten zu erhalten. „Es wäre nur um die Fahrtkosten gegangen! Gewohnt hätte ich dann bei einem Freund in Berlin!“ Doch auch dieses Mal lehnte die Agentur ab — und dieses Mal ohne „leider“ dabei. „Spätestens hier“, so Werner Behrens, „hatte ich das Gefühl, Hartz-IV ist praktizierte Menschenverachtung in Euro und Cent.“ Verschämt wandte er sich dabei ab, weil ihm wieder Tränen in die Augen stiegen.

Katrin Weber, die erwerbslose Sekretärin aus Einbeck, hat verbittert Gleichstellung mit entlassenen Straftätern gefordert, was die Berechnung ihres Existenzminimums betrifft. Und die Beispiele hier haben gezeigt, dass unter den Bedingungen von ALG-II tatsächlich nahezu jedes grundlegende Erfordernis zur Wahrung der Menschenwürde und des Existenzminimums der betroffenen Menschen auf der Strecke bleibt. Egal, ob man auf die Gesundheitsversorgung dieser Menschen blickt, auf deren verbliebene Bildungschancen, auf deren soziale Situation — nirgendwo lässt sich ein Lichtblick erkennen, nirgendwo Licht am Ende eines langen, sehr düsteren Tunnels. Hartz-IV, das ist Verelendung per Gesetz mit dem Charakter nahezu völliger Ausweglosigkeit!

So, wie das Existenzminimum im Rahmen von Hartz-IV für Erwerbslose definiert worden ist — weit unterhalb des Existenzminimums für Ex-Straftäter zum Beispiel —, ist Arbeitslosengeld II nichts anderes als alltägliche inhumane und verfassungswidrige Demütigung von Millionen Menschen in dieser Republik. Mit Demokratie, mit Recht, mit Sozialstaat hat dieses Gesetzeswerk nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun.

Es muss erlaubt sein, eine Schande eine Schande nennen zu dürfen!

(*) Pseudonym; tatsächlicher Name der Redaktion bekannt.

Nachträge zu obigem Bericht, Stand Mai 2024:

Was die Zahlenangaben betrifft, wurden vor allem die Untersuchungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands aus den Jahren 2004 und 2006 zugrunde gelegt, ergänzt um eigene Berechnungen. Der Autor dankt allen Befragten für ihre Offenheit, mit Verständnis dafür, dass sie in diesem Bericht nur unter Pseudonym genannt werden wollten. Die Namen der im zweiten Absatz erwähnten Sozial- und Rechtsexperten lassen sich vollständig nachlesen in deren Aufruf „Die geplante Regelsatzverordnung: Das sozialkulturelle Existenzminimum in der Abwärtsspirale“, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau vom 5. März 2004. Und damit zur heutigen Situation:

Erstens: Heute unterscheiden sich die drei genannten Existenzminima folgendermaßen voneinander: Hartz-Vierer und Armutsrentner bekommen nunmehr im Durchschnitt 1.048,50 Euro pro Monat und Person im Einzelhaushalt an sogenanntem Bürgergeld plus Unterkunftskosten, immer noch ohne Kostenübernahme Strom. Das pfändungsfreie Existenzminimum für Ex-Straftäter wurde angehoben auf inzwischen 1.178,59 Euro, der Steuerfreibetrag für die arbeitenden Menschen liegt inzwischen bei 785,- Euro.

Zweitens: Von echter soziokultureller und politischer Teilhabemöglichkeit für Arbeitsklose und Armutsrentner kann nach wie vor nicht die Rede sein. Irgendwelche Gelder für Mitgliedschaft in Parteien oder Vereinen sieht auch das neue Bürgergeld nicht vor. Für Bildung wurden 2,03 Euro pro Person und Monat in den neuen Regelsatz eingestellt. Ein Ausgabeposten für Bücher existiert nicht mehr.

Drittens: Für Gesundheitspflege wurde der Rechnungsbetrag angehoben auf 21,48 Euro. Ergänzend dazu: Eine Praxisgebühr von 10,- Euro pro Quartal wird nicht mehr den erkrankten Arbeitslosen und Armutsrentnern abverlangt. Der Betrag für Ernährung wurde angehoben auf 195,35 Euro.

Viertens: Für Kommunikationskosten — alles inklusive: Zeitungen, Zeitschriften, Post, Internet, Telefon — gibt es heute 50,35 Euro. An „Verkehrsleistungen“ werden heute 50,49 Euro übernommen — wobei allerdings im oben erwähnten Fall der Buskarten für Göttingen die Kosten von seinerzeit 35,- Euro inzwischen auf 53,- Euro pro Monat angestiegen sind.

Fazit:
Auch heute stehen die Ärmsten der Armen in der Bundesrepublik kaum besser da als im Frühjahr 2007. Das gilt umso mehr, als seither die Inflation — rein additiv berechnet — um fast 31 Prozent angestiegen ist. Der Satz von Werner Behrens, damals auf Hartz-IV gemünzt, trifft also auch heute noch zu und gilt für das Bürgergeld ebenfalls: Es handelt sich bei diesen Geldbeträgen nach wie vor um „Verachtung in Euro und Cent“. Oder, wie man damals, im Jahre 2007, längst schon zu formulieren begann: „Am Ende des Geldes ist immer noch furchtbar viel Monat übrig.“

Kommentare
  • ert_ertrus
    Antworten
    Viel zu wahr, um die Zensur zur passieren …

    Was schon aus den bloßen Beträgen der Teilbedarfe besonders für soziale/ soziokulturelle Zwecke hervorgeht: von Anfang an arbeitete die H IV-Gesetzgebung auf die Isolation der Betroffenen hin. Menschen mit stabilen sozialen Beziehungen (zu deren Pflege die materielle Teilhabefähigkeit Voraussetzung ist!) sind weniger leicht einzuschüchtern und infolge dessen erpressbar, für sie nachteilige vertragliche Abmachungen (Eingliederungs-vereinbarungen, sittenwidrige Arbeitsverträge etc.) hinzunehmen.

    Alle überlebenswichtigen sozialen Bindungen, besonders Partnerschaften und Familien sollten geschwächt, prekarisiert und in letzter Konsequenz zerstört werden. Geschaffen werden sollte  – nun ja, ein Wanderarbeitertypus ohne solche Vermittlungshemmnisse, der von einem temporärem Niedriglohnarbeitsverhältnis zum nächsten weitergereicht werden konnte. Im Grunde ein Wegwerfmensch, willig (da mit gebrochenem moralischen Rückgrat) und billig (da ohne jedes Recht, gegen unzumutbare Bedingungen aufzubegehren), Zwangsprostituierter*e mit dem zuständigen JC als Zwangsrekrutierer und dem Arbeitskräfteverleih als Zuhälter.

    Psychische Kollateralschäden? Der Markt geht vor und seinen Forderungen hat widerstandslos genügt zu werden. Außerdem wurde dadurch ein Synergieeffekt gesamtgesellschaftlicher Einschüchterung bis tief in die Mittelschicht erzeugt,  Entsolidarisierung als durchaus erwünschte Folge.

    Dass dies eine gesellschaftliche Klimakatastrophe apokalyptischen Ausmaßes zur Folge hatte, dafür ging und geht niemand demonstrieren …

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