Verletzt statt gekränkt

 In FEATURED, Gesundheit/Psyche

Wer ist verantwortlich dafür, wenn ich mich aufgrund der Äußerung eines Mitmenschen schlecht fühle? Ist es der andere, der quasi den Pfeil auf mich abgeschossen hat? Oder gibt es so etwas wie Eigenverantwortung dafür, wie ich einen Angriff innerlich verarbeite und auf ihn reagiere? Jedenfalls geben wir dem Angreifer nicht so viel Macht über uns, wenn wir uns die Freiheit bewahren, nicht beleidigt zu sein, selbst wenn jemand uns beleidigen wollte. Der Autor macht den entscheidenden Unterschied an einem Begriffspaar fest: Verletzen und Kränken. Bobby Langer

Irgendwann begann es, irgendwann sagte jemand: „Du hast mich verletzt.“ Nicht unbedingt zu mir, sondern zu sonst jemandem. Das ist vielleicht 15 Jahre her, vielleicht auch 25, sicher aber keine 40. In meiner Jugend und während meiner Studentenzeit gehört dieser Satz aus dem modernen Psychosprech nicht zu unserem Wortschatz; jedenfalls nicht in meinem Umfeld. Als ich damals mit meiner großen Liebe Schluss machte, weinte sie, schrie, heulte, trommelte mir auf die Brust, drohte, ins Wasser zu gehen, aber sie sagte nicht: „Du hast mich verletzt.“ Seither muss sich also etwas getan haben.

In meiner Jugend- und Studentenzeit griffen wir in der passenden Situation zu dem Satz: „Du hast mich gekränkt“? Aber bedeutete das? Kränken kommt vom mittelhochdeutschen „krenken“, was so viel wie „schwach, kraftlos machen“ bedeutet. Als genau das, was uns eine Krankheit antut. Dabei scheinen mir zwei Aspekte wesentlich: Man macht einer Krankheit keine Vorwürfe. Eine Krankheit ist nicht schuld, dass es sie gibt. Üblicherweise nimmt man eine Krankheit einfach für gegeben und versucht, sie wieder loszuwerden. Was ja meistens auch funktioniert. Letzteres ist der zweite Aspekt: Man wehrt sich dagegen, zunächst mit Hausmitteln, und wenn die nichts helfen, dann eben mit dem Gang zum Arzt.

Kränken kann mich allerlei: Der Blick in den Spiegel zum Beispiel, oder das Verhalten meines Sohnes oder die Dummheit einer Festansprache oder die platte Handlung eines Films. In jedem dieser Fälle sind die Anlässe der Kränkung so, wie sie sind. Ich kann sie nicht wirklich ändern und käme auch gar nicht auf die Idee. Vielmehr wehre ich mich mit meinen Bordmitteln dagegen: Beim Blick in den Spiegel zum Beispiel, indem ich mir zulächle – oder mir die Haare wasche; bei der Dummheit einer Ansprache, indem ich den Fernseher ausschalte. Wie töricht wäre es doch, auf mein Spiegelbild sauer zu sein oder auf den Politiker. Beide tragen so wenig Schuld an meinem Gefühlszustand wie die Tischkante, an der ich mich gestoßen habe. Nicht nur töricht, sondern geradezu dumm wäre es, würde ich mich durch meinen Anblick oder den Politiker „verletzt“ fühlen.

Zusammengefasst: Fühle ich mich gekränkt, dann gibt es nicht nur ein Potenzial zur Gegenwehr, sondern ich fühle mich regelrecht zur Gegenwehr aufgerufen.

Ganz anders bei einer Verletzung. Eine Verletzung geschieht ja durch eine gewaltsame äußere Einwirkung. Verletzungen fügt man jemandem zu, dem man absichtlich schaden, ja den man vielleicht sogar töten will. Es fließt Blut, Knochen brechen etc. Das sind Verletzungen. Sie auf die Gefühlsebene zu übertragen, bedeutet letztendlich, sich Fremdeinwirkungen ausgesetzt zu fühlen. Man kann nichts tun gegen die böse Welt und die bösen Menschen da draußen. Wer mit Pfeilen oder Kugeln auf mich schießt, dem kann ich kein Immunsystem entgegensetzen. Ich kann nur noch fliehen oder mich weinend unterwerfen oder eben – sterben. Gar nicht so selten bläst der Vorwurf „du hast mich verletzt“ eine Mücke zum Elefanten auf. Und macht mich als Opfer umso bedeutsamer.

Wie kam es also bzw. was steckt dahinter, dass das resiliente Wort „gekränkt“ entsorgt und durch das fatalistische „verletzt“ ersetzt wurde? Sind wir alle zu Opfern geworden? Fühlen wir uns generell machtlos gegenüber einer kalten Welt und deren kalten Repräsentanten? Oder ist es nicht genau anders herum: Dass wir nämlich durch die Haltung des Verletztseins nicht nur unsere Widerstandskraft preisgeben, sondern auch die aus unserer Widerstandskraft geborene Würde. Als „Verletzte“ übernehmen wir keine Verantwortung mehr für unser Aufbegehren gegen das, was wir nicht wünschen. Als „Verletzte“ ergeben wir uns vorsorglich und mit einer gewissen Hinterlist. Schuld sind dann nämlich immer die anderen oder das andere. Mit freiem Willen hat das viel weniger zu tun als vielmehr mit einer uns anerzogenen Willenlosigkeit und systematischen und geradezu genüsslichen Passivität. Am liebsten bekämen wir ja all die schönen Dinge und Handlungen dieser Welt geschenkt; bekommen wir sie aber nicht, fühlen wir uns in unserem Rechtsanspruch als freie KonsumentInnen verletzt.

Mal ganz ehrlich: Wen kränkt das schon? Dabei sollte es uns verletzen

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