Von Proletariat, Kognitariat und Prekariat

 In Politik (Ausland), Politik (Inland), Wirtschaft

Jacques Derrida

Parallel zur reaktionären Zerschlagung der Arbeiter*innenorganisationen durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher hat auch der “Homo Academicus” in fortgeschrittenen Gesellschaften, wo Universitäten zu Organen des Konzernkapitalismus geworden sind, dafür gesorgt, Marx und den Marxismus auf das Übelste zu delegitimieren und intellektuell zu schmähen. Dem setzte sich Jacques Derrida in äußerst luzider Manier entgegen, indem er mit Nachdruck betonte, dass absehbar sei, dass die gänzliche Freisetzung des Kapitalismus zu immensen sozialen und ökonomischen Verwüstungen führen würde und deshalb die Gründung einer neuen Internationale vonnöten sei. Teil 3 unserer Karl-Marx-Serie, Erstveröffentlichung auf www.skug.at, Text: Alessandro Barberi.

It’s class warfare, my class is winning, but they shouldn’t be.

Warren Buffet, Interview mit CNN (2005)

Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt. Dieses Bewußtsein, das für kurze Zeit im »Spartacus« noch einmal zur Geltung gekommen ist, war der Sozialdemokratie von jeher anstößig. Im Lauf von drei Jahrzehnten gelang es ihr, den Namen eines Blanqui fast auszulöschen, dessen Erzklang das vorige Jahrhundert erschüttert hat. Sie gefiel sich darin, der Arbeiterklasse die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen. Sie durchschnitt ihr damit die Sehne der besten Kraft. Die Klasse verlernte in dieser Schule gleich sehr den Haß wie den Opferwillen. Denn beide nähren sich an dem Bild der geknechteten Vorfahren, nicht am Ideal der befreiten Enkel.

Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte. These XII« (1940)

Nach dem Ende der Geschichte

Parallel zur reaktionären Zerschlagung der Arbeiter*innenorganisationen durch Ronald Reagan und Margaret Thatcher – man denke an »TINA/There is no alternative« (Fisher 2009) – hat auch der »Homo Academicus« (Bourdieu 1992) »in fortgeschrittenen Gesellschaften, wo Universitäten zu Organen des Konzernkapitalismus geworden sind« (Eagleton 2012: 160) dafür gesorgt, Marx und den Marxismus auf das Übelste zu delegitimieren und intellektuell zu schmähen. Dies stand etwa mit dem Rechtshegelianismus eines Francis Fukuyama in Zusammenhang, der die historisch aberwitzige Proklamation vom »Ende der Geschichte« (Fukuyama 1992) zwar später teilweise zurücknahm, aber zu diesem Zeitpunkt (direkt nach dem Fall der Mauer) eine neokonservative Ideologie (Mannheim 1984) vertrat, nach welcher der bürgerliche Rechtsstaat im Sinne des Neoliberalismus nunmehr das einzige weltgeschichtliche Endstadium darstellen würde, das nur mehr in alle Winkel dieser Welt exportiert werden müsse. Das Silicon Valley arbeitet auch heute noch an diesem Ziel. Dem setzte sich Jacques Derrida in äußerst luzider Manier entgegen (Derrida 2004a), indem er mit Nachdruck betonte, dass absehbar sei, dass die gänzliche Freisetzung des Kapitalismus against all rules zu immensen sozialen und ökonomischen Devastierungen führen würde und deshalb die Gründung einer neuen Internationale vonnöten sei. Derrida formulierte 1993:

»Wenn es einen Diskurs gibt, der heute dazu tendiert, auf der neuen Bühne der Geopolitik die Oberhand zu gewinnen (in der Rhetorik der Politiker, im medialen Konsens, was den sichtbarsten und hörbarsten Teil des intellektuellen und akademischen Raums betrifft), dann ist es jener, der in allen Tonlagen, mit unerschütterlicher Selbstsicherheit nicht nur das Ende der Gesellschaften diagnostiziert, die nach marxistischem Vorbild konstruiert waren, sondern auch das Ende der ganzen marxistischen Tradition und damit der Referenz auf das Marxsche Werk, um nicht zu sagen das Ende der Geschichte überhaupt.« (ebd.: 84–85)

Genau darin sah Derrida – so atheistisch wie Marx – das neue »Evangelium über den Tod des Marxismus als Ende der Geschichte« (ebd.), um gerade nach dem Fall der Mauer im Sinne einer »Hantologie« (frz. hanter = engl. to haunt) Marx und damit auch den Marxismus, Kommunitarismus bzw. Kommunismus weiter gespenstern zu lassen. »Whither Marxism« (ebd.: 6). Denn – parallel zu Bourdieu – standen ihm die unfassbaren Devastierungen des Kapitalismus klar vor Augen, weshalb er herausschreien musste:

»Noch nie in der Geschichte der Erde und der Menschheit haben Gewalt, Ungleichheit, Ausschluß, Hunger und damit wirtschaftliche Unterdrückung so viele menschliche Wesen betroffen. […] Kein Fortschritt der Welt erlaubt es, zu ignorieren, daß in absoluten Zahlen noch nie, niemals zuvor auf der Erde so viele Männer, Frauen und Kinder unterjocht, ausgehungert oder ausgelöscht wurden.« (ebd.: 121)

Nicht von ungefähr widmete Derrida dieses Buch deshalb einem Kommunisten als Kommunisten, nämlich Chris Hani, der im Gegensatz zu Nelson Mandela auf hohe Ämter im ANC verzichtete, um sich erneut einer kommunistischen Splittergruppe anzuschließen (ebd.: 7). Derrida wusste genau, was er politisch tat und begriff sich schlussendlich als ein Sohn von Marx (Derrida 2004b). Dabei war es für ihn klar, dass dieses mit Chris Hani verbundene Gespenst eine gauchistische und buchstäblich radikale Kritik mit sich bringt:

»Sich weiter von einem gewissen Geist des Marxismus inspirieren zu lassen, das würde heißen, dem treu zu bleiben, was aus dem Marxismus im Prinzip immer zuerst eine radikale Kritik gemacht hat, das heißt ein Vorgehen, das bereit ist, sich selbst zu kritisieren.« (Derrida 2004a: 125)

Mitten im Elend der Welt: Globalisierung ist Kapitalismus

Hatte Derrida mit seiner Kritik an Fukuyama mithin im globalen Feld der Philosophie dem neoliberalen Rechtshegelianismus Elemente des Linkshegelianismus entgegengesetzt, wies Pierre Bourdieu 1993 mit »La Misère du monde/Das Elend der Welt« (1997) auf sozialempirischer Ebene nach, dass der innere Zusammenhalt und die Solidarität der französischen Gesellschaft durch den Neokonservatismus und Neoliberalismus samt seiner Zerstörung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats bereits auf das bedenklichste zu bröckeln begann (ebd.). Dies führte ihn zu einer »staatslinken« Position, die er in seinen Vorlesungen am Collège de France ausformulierte (Bourdieu 2014) und die ihn nach der Enttäuschung durch den »dritten Weg« Lionel Jospins – dessen Politik mit jener von Bill Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder oder Franz Vranitzky deckungsgleich war – zur Gründung von Attac bewog. All dies geschah zu einem Zeitpunkt, an dem jene Stimmen immer lauter wurden, die behaupteten, es gäbe kein Proletariat mehr und schon gar nicht als »revolutionäre Klasse«.

De facto war der Fall der Mauer aber auch die totale konterrevolutionäre Vernichtung und strategische Niederlage des durch eineinhalb Jahrhunderte hindurch langsam organisierten weltweiten Proletariats am Ende des Kalten Krieges, der darin bestand, die russische Oktoberrevolution in konterrevolutionärer Absicht null und nichtig werden zu lassen, um damit die Schlagkraft der Proletarier*innen zu annullieren. Was Hitler auf dem Weg nach Moskau wegen Stalingrad nicht gelungen ist, erledigten dann Helmut Kohl und Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Immerhin die letzte Leistung der KPdSU, die der russischen Bevölkerung statt Arbeitsplatzsicherheit und kollektivem (staatlichen, öffentlichen) Eigentum an der »Basis« freie Meinungsäußerung und bürgerliches Privateigentum im »Überbau« garantierte. Nach 1989 – wir erinnern uns auch an die Ausschaltung des russischen Parlaments durch Boris Jelzin – wurden öffentliche Gelder und mithin der staatliche Besitz binnen kürzester Zeit durch eine Welle von Privatisierungen zerschlagen, wodurch es einer neuen Oligarchie gelang, diese Ressourcen an sich zu reißen (Losurdo 2016: 302). Heute geht es mit Sicherheit den Bevölkerungen der ehemaligen realsozialistischen Staaten im Durchschnitt keineswegs besser als vor dem Fall der Mauer. Die zweite Welt krachte in die dritte Welt und die erste Welt akkumuliert sich in ihren eigenen Tod durch Amoklauf (Berardi 2016; Theweleit 2015).

Die westlichen Gesellschaften haben als Teil des kapitalistischen Weltsystems genau deshalb die »proletarischen« Tätigkeiten in die Peripherien (z. B. Bangladesch) ausgelagert, wodurch der Kapitalismus in den ressourcenstarken Zentren nicht mehr mit organisiertem Widerstand des Proletariats rechnen muss. Stattdessen konnte die gezielte Entsolidarisierung und systematische Individualisierung der arbeitenden Bevölkerungen in Gang gesetzt werden: »Proletarier aller Länder, vereinzelt euch!« In diesem Sinne hielten auch die Marxisten Deleuze und Guattari 1972 fest:

»Und wenn tatsächlich zumindest partiell im Zentrum der tendenzielle Fall der Profitrate oder deren Egalisierung spürbar wird, was die Ökonomie auf die fortgeschrittensten und automatisiertesten Sektoren sich verlagern läßt, so sichert eine wahrhaftige ›Entwicklung der Unterentwicklung‹ an der Peripherie die verstärkte Ausbeutung des hier ansässigen Proletariats gegenüber dem des Zentrums, wie ein Ansteigen der Mehrwertrate.« (Deleuze/Guattari 1974: 297)

Das ist in kurzen marxistischen Worten die ganze Geschichte von Kolonialismus, Imperialismus und »Globalisierung«. In Wahrheit sind ausgehend von diesem Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie auf unserem Globus rein quantitativ heute mehr Menschen in die Peripherie gezwungene »Proletarier*innen« – und seien es Hilfsarbeiter*innen in Wien Liesing – im Sinne der Klassenlage der prekären Lohnabhängigkeit und -ausbeutung als jemals zuvor in der Geschichte. Aus diesem Grund wird in der analytischen Reaktion auf die Verhältnisse in den westlichen Gesellschaften von »Kognitariat« – also die virtuell nicht organisierbare Klasse der mentalen Wissensarbeiter*innen – und »Prekariat« gesprochen (Böhning 2006; Standing 2015). Kognitariat nennt sich dieses neue Proletariat, weil mit ihm das Wissen (engl. knowledge, fr. savoir) endgültig zur unmittelbaren und primären

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