Was ist moderner: Heutige Vorstellungen über „Nachhaltigkeit“ oder klassische Erkenntnisse?
Goethes Faust beginnt mit dem Vorspiel auf dem Theater, und dieses schließt mit den Worten: „So schreitet in dem engen Bretterhaus Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, Und wandelt mit bedächt´ger Schnelle Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“ Das schrieb Goethe 1829, als Karl Marx elf Jahre alt war. Nicht nur das Vorspiel auf dem Theater, sondern der ganze Faust lässt sich als Explikation von Nachhaltigkeit verstehen. Wie ist das von Karl Marx weiterentwickelt worden? Zunächst will ich aber an Goethe erinnern, damit das Problem hörbar wird: (Rainer Thiel)
(Die Seitenzahlen beziehen sich auf Band 8 der sechzehnbändigen Ausgabe der poetischen Werke Goethes, der „Berliner Ausgabe“, Aufbau-Verlag 1965)
Goethe hatte zurecht die Neugier, den Erkenntnistrieb, die Welt-Läufigkeit und die Lebenslust des Dr. Heinrich Faust expliziert. Faust hört sich auch an, wie ihm von Mephisto gesagt wird: „Wenn ich sechs Rosse zahlen kann, sind sie dann nicht die Meinen?“ Marx und Engels haben das einige Male zitiert. Zwischendurch lässt Goethe den Kontrast aufscheinen zu den Spießbürgern in Auerbachs Bier-Keller, die sich an Info aus der Türkei ergötzen, als würde sie das gar nichts angehen. Faust ist das Gegenteil der Spießbürger. Stationen des Faust sind unter anderem die Studierstube, der Osterspaziergang, wo es von den Bürgern heißt: „Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden.“ Nota bene „Selber auferstanden.“!! Gleich danach schildert Faust auch die Verbrechen zeitgenössischer Ärzte an hilfesuchenden Bauern. Dann kommt die Tragödie innerhalb der Tragödie: Faust schwängert Gretchen, und Gretchens letzte Worte sind: „Heinrich, Mir graut´s vor Dir.“ (Seite 300). Der zweite Teil der Tragödie beginnt mit Fausts Erwachen nach fürchterlichen Nächten. Er findet sich auf einer Hoch-Alm im Gebirge und erlebt den Sonnenaufgang. Goethe lässt den Faust sagen: „Du Erde, warst auch diese Nacht beständig Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen, Beginnest schon mit Lust mich zu umgeben …. Im Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen, Der Wald ertönt von tausendstimmigem Leben, Talaus talein ist Nebelstreif ergossen, Doch senkt sich Himmelsklarheit in die Tiefen ….. Hinaufgeschaut! – Der Berge Gipfelriesen Verkünden schon die feierlichste Stunde, Sie dürfen früh des ewigen Lichts genießen, Das später sich zu uns hernieder wendet…..“ So beginnt – von mir leicht abgekürzt – der Tragödie zweiter Teil. Ich überspringe nun das meiste und komme gleich zum fünften Akt. Dort setzt Goethe den Faust mit dem Türmer Lynkeus ins Verhältnis. Goethe lässt den Türmer auf der Schloßwarte singen, ich zitiere den Text:
„Zum Sehen geboren, Zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, Gefällt mir die Welt. Ich blick in die Ferne, Ich seh in der Näh Den Mond und die Sterne, Den Wald und das Reh. So seh ich in allen Die ewige Zier, Und wie mir´s gefallen, Gefall ich auch mir. Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn, Es sei, wie es wolle, Es war doch so schön.“ (Seite 519)
Nicht weit vom Türmer entfernt auf einer Höhe mit Blick aufs Meer wohnen Philemon und Baucis, zwei alte Leute. Freundlich luden sie einen Wanderer zum Verweilen ein und bitten ihn zu Tisch. (S. 511) Philemon und Baucis, die alten Leutchen, erzählten dem Wanderer, was sie, von der Höhe blickend, am Meeresufer gesehen hatten (S. 513):
„Zelte, Hütten! – Doch im Grünen richtet bald sich ein Palast. Tags umsonst die Knechte lärmten, Hack und Schaufel, Schlag um Schlag; Wo die Flämmchen nächtig schwärmten, Stand ein Damm am nächsten Tag. Menschenopfer mussten bluten, Nachts erscholl des Jammers Qual; Meerab flossen Feuergluten, Morgens war es ein Kanal.“ Schließlich bitten die gastfreundlichen Alten den Wanderer, den Sonnenuntergang zu genießen, und dazu läuten sie ihr kleines Glöckchen. (S. 514) Zehn Zeilen weiter lässt Goethe den Faust sagen: „Verdammtes Läuten! Allzu schändlich Verwundet´s, wie ein tückischer Schuß; Im Rücken reckt mich der Verdruß, Erinnert mich durch neidische Laute: Mein Hochbesitz, er ist nicht rein, Der Lindenraum, die braune Baute, Das morsche Kirchlein ist nicht mein.“ (S. 514 f.)
Da ist auch schon Mephisto zur Stelle. Goethe lässt den Mephisto die Worte sprechen: (S. 515) „Nur mit zwei Schiffen sind wir fort, Mit zwanzig sind wir nun im Port. Was große Dinge wir getan, Das sieht man unsrer Ladung an. Das freie Meer befreit den Geist, Wer weiß da, was Besinnen heißt! Da fördert nur ein rascher Griff, Man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff, Und ist man erst der Herr zu drei, dann hakelt man das vierte bei; Da geht es dann dem fünften schlecht; Man hat Gewalt, so hat man Recht.“
Knapp zwei Druckseiten weiter lässt Goethe den Faust sagen (S. 517): „Mir gibt´s im Herzen einen Stich, Mir ist´s unmöglich zu ertragen! Und wie ich´s sage, schäm ich mich. Die Alten droben sollen weichen. Die Linden wünscht ich mir zum Sitz, Die wenig Bäume, nicht mein eigen, Verderben mir den Weltbesitz.“ Und noch mal eine Seite weiter (S. 518) lässt Goethe den Mephisto zu Faust sagen: „Was willst du dich denn hier genieren, Mußt du nicht längst kolonisieren?“ Und nun geschieht das Fürchterliche: Der Türmer, der gerade so friedlich gesungen hatte, (Seite 519), sieht es, und er teilt´s uns mit:
(Seite 519 f.) „Welch ein greuliches Entsetzen Droht mir aus der finstern Welt! Funkenblicke seh ich sprühen Durch der Linden Doppelnacht, Immer stärker wird das Glühen, von der Zugluft angefacht. Ach, die Hütte lodert, Die bemoost und feucht gestanden; Schnelle Hilfe wird gefodert, Keine Rettung ist vorhanden. Ach, die guten alten Leute, sonst so sorglich um das Feuer, Werden sie dem Qualm zur Beute! Welch ein schrecklich Abenteuer! Flamme flammet, rot in Gluten Steht das schwere Moosgestelle; Retteten sich nur die Guten Aus der wildentbrannten Hölle! Züngelnd lichte Blitze steigen Zwischen Blättern, zwischen Zweigen; Äste dürr, die flackernd brennen, Glühen schnell und stürzen ein. …. Von der Äste Sturz und Last, Schlängelnd sind, mit spitzen Flammen, Schon die Gipfel angefasst. Bis zur Wurzel glühn die hohlen / Stämme, purpurrot im Glühn – Was sich sonst dem Blick empfohlen, Mit Jahrhunderten ist hin.“
Faust war der Kolonisator. Nun springe ich in Goethes Text sieben Seiten weiter (nach S. 527): Faust auf der Baustelle ruft den Aufseher und befiehlt ihm: „Arbeiter schaffe Meng auf Menge, Ermuntre durch Genuss und Strenge, Bezahle, locke, presse bei! Mit jedem Tage will ich Nachricht haben, wie sich verlängt das unternommene Graben. ….. Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, Verpestet alles schon Errungene; Den faulen Pfuhl auch abzuziehn, Das letzte wär das Höchsterrungene; Eröffn´ich Räume vielen Millionen, Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen. ….. Ja! Diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. Und so verbringt, umrungen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möchte ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.“ (S. 528)
Goethe sieht den Sinn des Lebens in seiner Komplexität. Mit einigen Stichworten ist es nicht getan, auch nicht mit „der Weisheit letzter Schluss“. Goethe macht auch die Frage kenntlich: „Freiheit wozu?“ Deshalb habe ich mehrere Dutzend Sätze aus dem Faust zitiert, auch um zu sagen, woran Marx anknüpfen konnte und wie er seine Lehre strukturieren musste. Da möchte ich sechs Bewandtnisse hervorheben:
- A) Marx hat die gesamte Menschheit und ihre Entwicklung im Blick. Er unterscheidet die bürgerliche und die viel weitergehende menschliche Emanzipation.
- B) Marx unterscheidet zwei Arten von Reichtum: Die Verfügungsgewalt über Sachen im Kontrast zu den natürlichen Anlagen der Menschen, die es zu entwickeln gilt. Marx unterscheidet also zwischen dem Haben und dem menschlichen Sein.
- A) und B) sind von Anfang an und besonders deutlich in den sogenannten Frühschriften von Marx behandelt. Der Inhalt zieht sich aber durch das ganze Marxsche Werk. Das war weder von den sogenannten Marxisten noch von ihren Gegnern wahrgenommen worden. Sie hatten allesamt auch kein Interesse an der Wahrnehmung.
- C) Marx erkennt, wie sich aus dem Austausch von Produkten menschlicher Arbeit der Markt entwickelt, also der Ansatz zur Entstehung menschlicher Gesellschaft, der unschuldige Ansatz, aus dem sich die Ausbeutung des Menschen durch Menschen entwickelt, später bis zur Globalisierung und zur Öko-Problematik sich verlängernd.
- D) Marx erkennt die Not der Menschen des vierten Standes. Gleichlautend mit Jesus von Nazareth hätte er sagen können: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25.40)
- C) und D) erforschend hat Marx tiefer geblickt als alle anderen Philosophen, Ökonomen und Soziologen unsrer Gegenwart. In der Menschheits-Geschichte kommt es immer wieder vor, dass ein Geist über Jahrhunderte hinausragt.
- E) Marx hat 1845 geschrieben: „In seiner Fortentwicklung von Baco zu Hobbes wird der Materialismus einseitig. …. Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume ….. Der Materialismus wird menschenfeindlich.“ Aber – hatte Marx in diesem Zusammenhang gesagt: „Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an.“ (MEW 2 Seite 135 f.) Das korrespondiert mit Goethes Bevorzugung seiner eigenen Farbenlehre im Unterschied zu Newtons spektraler Optik. Die Frage der Bildung unserer Jugend ist mit beidem angesprochen.
- F) Marx hat den Stoffwechsel der Menschen mit der Natur im Auge gehabt. Man kann das auch nennen „Öko-Aspekt“ im engeren Sinne des Wortes. Marx und Engels haben schlimme Phänomene wahrgenommen und zum Anlass grundlegender Philosopheme genutzt. Erst hundert Jahre später kommen einzelne unsrer Mitbürger auf ähnliche Gedanken.
Marx passt also gut zu Goethe und geht über Goethe hinaus. Goethe konnte den sterbenden Faust gerade noch vor der Hölle retten, er lässt einen Engel sagen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ (S. 540) Marx aber war jünger als Goethe und musste fragen: Wie kommen wir zur menschlichen Emanzipation? Zur Befreiung des 4. Standes? Was steht der menschlichen Emanzipation entgegen? Wie nennen wir die Interessen, die zum Mord an Philemon und Baucis führten? Welche Rolle spielen die unschuldigen Kollegen, die den Sumpf vom Gebirge abziehen? Werden sie ewig die Leidenden sein? War es das Elend der Philosophie, sie nur als die Leidenden zu sehen? Haben sie nichts zu verlieren als ihre Ketten? Können sie sich in aller Welt vereinigen und ihre Ketten sprengen? Goethe hatte die geputzten Menschen beim Osterspaziergang beobachtet und geschrieben: „Sie feiern die Auferstehung des Herrn, denn sie sind selber auferstanden“. Marx hat das weitergedacht und die neue Gesellschaft definiert. Dort sollen auch alle Menschen fähig sein, von der Materie in poetisch-sinnlichem Glanze angelacht zu werden.
Das alles kann man mit dem Etikett „Nachhaltigkeit“ belegen. Nur hat das Marx viel konkreter getan. Das müssten heutige Fürsprecher der Nachhaltigkeit nachholen. Marx hat alle sechs Aspekte der Nachhaltigkeit im Auge gehabt. Das Öko-Problem kann ohne A), B), C), D), E) F) nicht nachhaltig gelöst werden.
Was Marx im Sinne F) ausgeführt hat, ist von Michael Löwy (siehe den Reader zum Symposion in Dahlen, Original zuletzt 2004 in „Utopie kreativ“) vortrefflich referiert worden. Loewy war lange Jahre in der Vierten Internationale engagiert, die das Erbe von Trotzki weiterführt. Ich selber habe Marx unter allen Aspekten zu würdigen versucht in einem Buche mit dem Titel „Marx und Moritz. Unbekannter Marx – Quer zum Ismus“, F) vor allem im sechzehnten Kapitel mit der Überschrift „Marx und die Kinder“. Das war 1998 und ist von Linken, die aus der SED gekommen waren und sich einst Marxisten nannten, nicht zur Kenntnis genommen worden. Deshalb bin ich nicht zufrieden, dass Loewy schreibt, Marx hätte den Öko-Aspekt nicht breit genug behandelt. Wie kann es sein, dass Marx allein schon in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ ausführlich über die Schindereien von Frauen und Kindern in den Fabriken berichtete, von Frauen und Kindern, die doch auch Naturwesen sind, und Öko-Fans registrieren das nicht?
Leider haben auch die „Linken“ hundert fünfzig Jahre nach Marx nicht gelesen, was Marx in seinem Hauptwerk zum Öko-Aspekt geschrieben hat. Sie haben überhaupt den ganzen Marx in die Ecke gestellt und sympathisieren mit dem neoliberalen Wachstumswahn, der den verfluchenswerten Sinn des Habens preist und zur ökologischen Katastrophe treibt. Damit stellen neoliberale Kapitalismus-Freunde und linke Opportunisten auch alles in die Ecke, was nötig ist, um hundert fünfzig Jahre nach Marx die ökologischen Probleme nachhaltig anzugehen. Doch gerade das hatte Marx mit seinem ganzen Lebens-Werk getan. Denn der Mensch selber ist ein Wesen der Natur, ein Öko-Wesen, und das hat zu Marxens Zeit am allermeisten unterm Kapitalismus gelitten. Millionen Menschen kampierten in Mietskasernen, die Arbeit in der Fabrik währte zwölf Stunden am Tag, und selbst Kinder wurden zur Fabrik-Arbeit gezwungen, sodass die preußischen Behörden bemerkten: Diese Jugend ist körperlich unterentwickelt und taugt kaum noch zum Kriegsdienst.
Meine Auseinandersetzungen zum Öko-Problem in der DDR, auch als zeitweiliger Mitarbeiter des Staatsapparats, habe ich an andere Stelle beschrieben. Das lasse ich jetzt weg. Stattdessen erinnere ich jetzt daran, wie hundert Jahre nach Marx die Lehre von Marx über das Verhältnis von Sein und Haben durch Erich Fromm genutzt wurde, um das Öko-Problem in unsrer täglichen Praxis zu beleuchten. Erich Fromm vergleicht einige Schriftsätze, die zum Lobe der schönen bunten Blumen gedichtet worden sind. Der eine Dichter pflückt die Blume, um sie zu haben, ein andrer Dichter schaut sie an, ohne sie zu pflücken, er schaut sie an und ist in seinem Sein bereichert. Und Goethe? In seinem Gedicht mit dem Titel „Gefunden“ heißt es von einem Blümchen im Walde: „Ich wollt es brechen, Da sagt es fein: Soll ich zum Welken Gebrochen sein? Ich grub´s mit allen den Würzlein aus. Zum Garten trug ich´s Am hübchen Haus. Und pflanzt es wieder Am stillen Ort: Nun zweigt es immer Und blüht so fort.“ Erich Fromm hat die Marxsche Unterscheidung zwischen Sein und Haben, die das ganze Marxsche Werk durchzieht, mit den Blumen aus der Öko-Sphäre symbolisiert und damit ein Denkmal gesetzt zur Einheit der sechs Aspekte in der Theorie von Marx.
Dagegen mangelt es in den Ausführungen von Joachim H. Spangenberg im vorliegenden Reader an Verständnis für das Gewicht und die Einheit aller sechs Aspekte, die Marx im Blick gehabt hat. Erst aus der Einheit der sechs Aspekte kann sich die Energie entwickeln, die Öko-Frage im engeren Sinne des Wortes zu lösen. Insofern scheint mir Spangenbergs Aufsatz ein Symbol der Enge, in welche die Öko-Thematik in der Marktgesellschaft gezwungen wird. Je mehr von „Freiheit“ die Rede ist, umso enger der Winkel des Blickes in Richtung „Nachhaltigkeit“.
Zufrieden bin ich auch nicht mit den Beiträgen zur Nachhaltigkeits-Debatte, in denen die Begriffe „Produktion“ und „Reproduktion“ genutzt werden, um einen Blick auf die Frauen-Emanzipation zu werfen. (im Reader der Beitrag Biesecker/Hofmeister ab Seite 195. Dort auch Bericht zu einer Debatte bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Jahre 2006 oder 07) Unglücklich scheint mir schon zu sein, dass dort als „Hintergrund“ der Debatte die Frauen- und Geschlechterforschung der siebziger und achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts gewählt wird. Wie konnte es geschehen, dass in einem hochindustriellen Land wie der Bundesrepublik Deutschland der „Hintergrund“ nicht erkannt wurde, der längst geschaffen worden war? Geschaffen schon hundert Jahre zuvor durch August Bebel? August Bebel war doch auch ein Deutscher. Und Sozial-Demokrat obendrein. Es war nicht 1978, sondern 1878, dass zum ersten Mal das Werk erschien „Die Frau und der Sozialismus“, ein Buch von August Bebel, 600 Seiten. Es war 1946, als die 58. Auflage erschien, nämlich in der Soffjetzone, versehen mit einem Vorwort der Kommunistin Frida Rubiner.
Freilich kannte auch der Drechsler-Meister August Bebel noch nicht, was von Marx auf höchster philosophischer Denk-Ebene definiert worden war: Die Einheit von gesellschaftlichem und natürlichem Wesen des Menschen. Marx hatte 1844 – fünfzehn Jahre nach Goethes „Faust“ – in seinen „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten folgenden Gedanken aufs Gründlichste entwickelt:
„Das unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist das Verhältnis des Mannes zum Weibe. In diesem natürlichen Gattungsverhältnis ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigne natürliche Bestimmung ist. ….. In diesem Verhältnis zeigt sich auch, ….. inwieweit ihm also der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist, inwieweit er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist.“ (MEW 40 S. 535. Zum ersten Mal gedruckt 1932 in der MEGA) Aber 1978 wäre es als Hintergrund aktuell gewesen.
Für einen Augenblick nun von der höchsten philosophischen Ebene zur Freikörper-Kultur, zur FKK. In der DDR wurde durch Massen von ganz normalen Menschen die Öffentlichkeit der Natur des menschlichen Körpers in seiner ungeschminkten Schönheit entdeckt, zum Verhältnis von Weib und Mann gehörend. FKK war nicht von Marx und Bebel inspiriert, aber unter den günstigen Bedingungen geschehen, die im Geiste von Marx und Bebel kurz nach dem Krieg entstanden waren, zwei Jahrzehnte vor der Entdeckung von Hintergründen der Geschlechter-Ökologie in der Bundesrepublik. FKK in der DDR war kein Zwang, doch die sog. Textil-Strände wurden zunehmend weniger besucht und FKK immer mehr. Auch dort brauchte sich niemand seines Alters zu schämen. Als wir 1990 der Bundesrepublik einverleibt wurden, war es erst mal vorbei mit der Freiheit der Körperkultur.
Nun wieder zu August Bebel. Gewiss haben auch die hundertzwölf Jahre zwischen der Erst-Auflage von Bebels Werk und dem Beitritt der DDR zum Patriarchen-Land nicht gereicht, um ein Problem vollständig zu lösen, das jahrtausende-lang die Geschichte geprägt hat. Tief sitzen Sitten und Gebräuche, Denkstile und Herrschafts-Muster. Ich möchte jetzt nicht Bebels Werk analysieren, ich möchte auch nicht auf die Suffragetten-Bewegung eingehen und auch nicht auf Beate Uhse oder Elli Beinhorn, die kühnen Pilotinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich weiß auch nicht, ob die Uhse Kinder gehabt hat. Doch es wundert mich, dass die Debatten-Teilnehmer aus der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Jahre 2006 (oder 07) zu August Bebel und der Frauen-Emanzipation in der DDR geschwiegen haben.
Ich will nur von eigenen Erlebnissen berichten:
Als der Krieg zur Neige ging, war ich vierzehn und hatte gerade die Bomben erlebt, die auf meine Heimatstadt Chemnitz fielen. Ich war mitten drin und habe Bomben-Brände zu löschen versucht, während ringsherum die Sprengbomben krachten. Meine Oma – in einem andren Stadtteil zu Hause – kam in den Flammen um. Ich aber war lernbereit geworden. So fiel mir Folgendes auf: Frauen räumten nicht nur Trümmer weg. Frauen waren auch schon während des verfluchten Krieges berufstätig geworden, auch meine Mutter, und sie war darüber glücklich, nicht mehr in erster Linie Hausfrau sein zu müssen. Sie hatte Löten und Schweißen gelernt, und nach den Bomben begleitete sie mich in politische Veranstaltungen im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Dort lernte ich auch Kommunisten kennen. Sie hatten unter Lebensgefahr gegen Hitler gekämpft. Und sie weihten mich ein in die Gedankenwelt von August Bebel und Rosa Luxemburg.
Ein Jahr nach den Bomben wurde in den Schulen Sachsens die Ko-Edukation eingeführt: Mädchen und Jungen gemeinsam in den Schulklassen. Für die Mädchen war es selbstverständlich, einen Beruf erlernen und auch studieren zu wollen. Das Lehramt in den Schulen wurde überwiegend von jungen Frauen ausgeübt, wir sprachen sie mit Vornamen an. Das alles schien uns selbstverständlich. Ein paar Jahre später suchte ich eine Familie zu gründen. Meine Frau hatte wie ich mehrere Jahre studiert. Schließlich wurde unser erster Sohn geboren. Klar, dass dem Saug-Lustigen meine Brust nicht gereicht hätte. Aber für Mutter und Vater war es selbstverständlich, dass wir beide alle Arbeiten verrichten, die in einer Familie zu tun sind. Jeden zweiten Tag war ich es, der unsren Sohn mit dem Kinderwagen zur Krippe brachte, von unsrer Wohnung in Baumschulenweg per S-Bahn zur Humboldt-Universität. Das begann 1959, also zwanzig Jahre, bevor in der Bundesrepublik der Hintergrund der Frauen-Emanzipation entdeckt wurde. Natürlich kam es 1959 auch vor, dass auf dem S-Bahnhof die Fahrkarten-Knipserin staunend rief: „Ein Mann mit Kinderwagen.“ Umso stolzer bin ich gewesen, und nach weiteren fünf Jahren war es selbstverständlich geworden, dass junge Väter stolz den Kinderwagen schoben. Der Hintergrund für die Frauen-Emanzipation war in der DDR von Anfang an gegeben. In Westberlin verstand man das nicht. Im Osten steuerten Frauen auch Straßenbahnen, doch Frauen am Steuer wurden nicht in die berliner Westsektoren eingelassen, als es dort noch Straßenbahnen gab. Die Frauen von der Kurbel mussten aussteigen.
Doch im Osten waren Frauen an der Kurbel. Das Allerschönste war, dass unser kleiner Sohn in der Kinderkrippe glücklich gewesen ist. Wenn die Betreuerinnen, die damals so genannten Tanten, mit den Kindern spazieren gingen und ich begegnete ihnen, tauschten Tanten und Vater Thiel herzliche Grüße aus. Aber die Kinder blickten ganz und gar auf Ihresgleichen und die Tanten, die Kinder waren ganz und gar Kinderkrippe, sie lebten dort fröhlich und zufrieden, sie lernten schnell auch ihre Notdurft zu verrichten, wenn die Tanten die Töpfchen bereitstellten, und der Vater war für sie nur Hintergrund, wenn sie mit Ihresgleichen und den Tanten spazieren gingen. Am Abend dann zu Hause wurde fröhlich noch ein bisschen gespielt und gesungen. Und als zwei Jahre später unser drittes Kind nachts immer aufwachte, dann ist der Vater aus dem Bett gesprungen, hat ihm die Flasche gereicht, den Po gesäubert und geölt und frische Windeln angelegt. An jedem zweiten Tag war Vater für die drei Kinder voll verantwortlich, er hatte zuvor die Küche vorbereitet, und weil er das systematischer tat als die Mutter, ging es auch fröhlicher zu. Die Frauen-Emanzipation hatte begonnen. Und Männer begannen, sich vom Patriarchat zu befreien. Ich war glücklich dabei.
Inzwischen waren in unsrer neuen Groß-Block-Siedlung auch Kinderkrippe und Kindergarten erbaut, der Weg dorthin reduzierte sich auf fünf Minuten und wurde im täglichen Wechsel von Mutter und Vater mit den Kindern zurückgelegt. Jahre später hatte ich manchmal das Glück, eine Enkeltochter zur Kita zu begleiten. Kaum war dort die Türe hinter uns gefallen, war Cornelia nur noch „Krippe“, und abends wäre sie gern noch geblieben. In der Nachbarschaft ihrer Mutter wohnten keine Familien mit Kindern. Es wäre eine Katastrophe für Cornelia gewesen, auf der einsamen Straße keine Gespielinnen finden zu können. Doch in der Kita war sie glücklich.
Dass es so gekommen ist – dazu hatten August Bebel und Kommunisten, die gegen Hitler im Widerstand waren, den Hintergrund geschaffen. Eine Revolution hatte eingesetzt. 1972 wurde der schändliche Paragraph 218 abgeschafft, gegen die Stimmen der CDU in der Volkskammer. Bald aber stieg die Geburtenrate. Sie brach erst ein ab 1990, sie reduzierte sich nach 1990 auf 32 Prozent und ist auch heute kaum darüber. Auf dem Lande wurden massenhaft Schulen liquidiert, sogar als Bauwerk abgerissen, auch wenn das Gebäude erst 1980 gebaut und etwa nach Albert Einstein benannt worden war.
Über das alles habe ich ausführlich berichtet in „Neugier, Liebe, Revolution. Mein Leben 1930 – 2010“. (Info siehe www.rainer-thiel.de)
Ich will aber auch von zwei Überspitzungen berichten. In meinem emanzipatorischen Eifer wollte ich beim Auto-Fahren meine Rolle als Wagen-Lenker mit meiner Frau teilen. Es kostete mich Mühe, Katrin zur Fahrschule zu bewegen, und als sie das Zertifikat erworben hatte, war ihr Interesse am Wagenlenken erloschen. Sie blieb aber auf ihre Rolle fixiert, wenn ein Knopf anzunähen war. Sie hatte das als Kind gelernt und wurde ungeduldig, wenn ich mich darin versuchen wollte.
Überspitzung war auch, dass unter linken Intellektuellen die Meinung aufkam, es müsste genau so viele Frauen wie Männer geben, die sich mit Professoren-Titel schmücken. Also Quotenregelung? Meine Frau war nicht so verrückt, ich auch nicht. Im Gegenteil. Als mich mein Institut in meiner Arbeit hemmte, begann ich, die Frauen zu beneiden: Als Gebärende und Wöchnerinnen können sie ohne Unterlass kreativ sein. Heute wird die Frauen-Emanzipation durch Frau Merkel verhöhnt – sie sorgt sich ausgerechnet darum, dass mehr Frauen in die Spitzen der Konzerne gelangen, um deren Ansehen aufzuhübschen.
Inzwischen habe ich Frauen kennen gelernt, die im Westen aufwuchsen, einen interessanten, geliebten Beruf ausüben, aber nie das Glück hatten, sich Kinder zu leisten oder gar eine Kita für Kinder zu haben. Ich habe solche Frauen genau kennen gelernt, eine von ihnen war nach dem Krebs-Tod meiner Frau meine Gefährtin, nun schon fünfzig Jahre alt. Als wir gemeinsam eine Tagung besuchten, wurde in einem Pausengespräch das unsägliche Ehegatten-Splitting diskutiert, welches die Frauen verleitet, sich dem Ehemann zu unterwerfen. Als das diskutiert wurde, begann meine Sabine bitterlich zu weinen, sie hätte so gern Beruf und Kinder gleichermaßen gehabt. In der DDR war das anders. Ich kannte die Gattin eines hochdotierten Professors. Als ihre fünf Kinder aus dem Gröbsten waren, ging sie wieder beruflich arbeiten, nicht des Geldes wegen, sondern wegen der Lebenserfüllung.
Gerade habe ich ein Buch erworben, weil mich der Titel reizte: „Klar bin ich eine Ostfrau! – Frauen erzählen aus dem richtigen Leben“. Von Martina Rellin im eigenen Verlag. Der Klappentext überraschte mich: Die Schöpferin stammt aus dem Westen. Dank sei Dir, Martina. www.martinarellin.de
Und so stehen wir heute vor der Frage: Was ist Nachhaltigkeit? Was hat die am höchsten industrialisierten Länder mit dem größten Reichtum an Sachen und der größten Armut an menschlichem Sein gehemmt, rechtzeitig über Nachhaltigkeit nachzudenken?
Dazu doch noch ein Erlebnis aus meiner Zeit im Staatsapparat. Ich hatte ein Gespräch zu führen mit dem Abteilungsleiter für Fragen des Lebensstandards in der Staatlichen Plankommission. Das war 1973, noch bevor in der Bundesrepublik der Hintergrund für die Frauen-Emanzipation entdeckt wurde. In dem Gespräch sagte ich dem Abteilungsleiter, wir haben jetzt einen Auto-Boom in der DDR. Überall werden die Parkflächen knapp, sogar in den Neubaugebieten. Doch mit Parkplätzen würden wir den Kindern Spielflächen rauben. Da sagte der Abteilungsleiter: „Wir müssen aber Parkplätze anlegen, die Menschen wollen Autos wie im Westen.“ Wie im Westen. Da habe ich gedacht: Armes Vaterland. Immer nur daran denken, wie man den Bank-Herren Geld in die Taschen pumpt. Da sage ich lieber: „Nachhaltigkeit menschlich“, Grundgesetz Artikel 1, 14 und 15. Dazu Sahra Wagenknecht „Freiheit statt Kapitalismus“ Seite 321 ff. Was darf „Eigentum“ sein und was nicht?