Weihnachten hält die Zeit an

 In FEATURED, Spiritualität

Die Quantität von Zeit kennt jeder. Uns ist nur ein bestimmtes “Quantum” Zeit gegeben. In der Effizienz-Gesellschaft müssen wir diese Zeit nutzen, sie mal “einsparen”, mal “tot schlagen”. Etwas anderes ist es mit der Qualität von Zeit. Sie lässt sich nicht messen, und ihre Bedeutung erschließt sich oft jenseits von Raum und Zeit. Weihnachten könnte so ein Moment herausgehobener Zeitqualität sein. Wir können aber solche Momente auch ungeplant erschaffen – zum Beispiel im Gespräch mit einem leidenden Menschen. Diese wirklichkeitsnahe Weihnachtsgeschichte erzählt uns der Seelsorger der Klinik Zugersee.
Alois Metz

Befragen Sie Ihr Smartphone mit Spracherkennung, was Weihnachten ist, erhalten Sie die Antwort: «Heilig Abend ist am Montag, den 24. Dezember 2018.». Mehr kann Ihnen die Computerstimme darüber nicht sagen. Der Philosoph Byung-Chul Han erklärt einleuchtend dieses Phänomen, da er zwei unterschiedliche Wesenheiten von Zeit unterscheidet. Der obige Fall liegt in der additiven Zeit, die unseren Alltag merklich in Besitz genommen hat. Im Sinne von: je mehr Aktivitäten wir in einen bestimmten Zeitabschnitt hineinwürgen, umso produktiver sind wir. Erlauben wir der additiven Zeit die Hoheit in unserem Leben zu erlangen, wird diese Zeitform mehr und mehr unser ganzes Wesen bestimmen. Wochenenden dienen dann nur der Erholung, um wieder ausgeruht zur Arbeit zu kommen, mit dem Ziel noch produktiver zu werden. Das ganze führt zu einer Atemlosigkeit, die ich häufig mit Schrecken bei Begegnungen mit Menschen erlebe – auch bei mir selbst.

Der neoliberale Kapitalismus kennt aber keine andere Zeitebene und so wird eine Zeit wie der „Heilige Abend“ oder Weihnachten, die schon vor dem Christentum als besondere Tage gewürdigt wurden, gewöhnlich und banal. Ein Erholungstag von der Arbeit eben und fällt halt 2018 auf einen Montag. Als spirituell achtsame Menschen verspüren wir hier einen inneren Protest, weil wir noch eine grössere Wirklichkeit erahnen und Weihnachten mehr ist als ein freier Tag.

Religionen kennen eine andere Zeitform, die unserem Smartphone völlig fremd sein muss. Byung-Chul Han nennt sie die narrative Zeit. Weihnachten hebt uns aus der banalen, messbaren Lebenszeit heraus. Solch eine Zeit kann man nicht im Sinne der additiven Zeit produktiver gestalten. Sie hat ihre eigene Gesetzmässigkeit. Konstantin Wecker beschreibt es für mich so wundersam mit seinem Gedicht. „Jeder Augenblick ist ewig.“ Es gibt Augenblicke im Leben, die außerhalb der messbaren Manager-Sprache Wirklichkeit sind. Ähnlich einer Erzählung, einem Musikstück oder einem Gedicht, das außerhalb der zusammenzählbaren Welt existiert. Das lasse ich mir nicht nehmen und dafür stehen religiöse Feiertage (egal welcher Religion), damit diese Augenblicke zu Versen werden können und nicht einer empirischen engstirnigen Gier zum Opfer fallen.

So möchte ich ihnen als Seelsorger einer psychiatrischen Klinik zur Weihnachtszeit eine Geschichte erzählen. Eine Frau kämpfte monatelang mit dem «Nichtleben». Bei Spaziergängen lernte ich sie als intelligente und sensible Frau mit vielen Begabungen kennen. Ihr «Nichtleben» hatte aber so stark Besitz von ihr ergriffen, dass ihre Tage von Todesqualen bestimmt waren. Als sie stabil genug schien, durfte sie zu ihren Eltern nach Hause. Sie und das ganze Behandlungsteam freuten sich mit ihr.

Zu Beginn der Woche erfuhr ich in der Klinik, dass sie versuchte sich das Leben zu nehmen. Nach dem Abendgebet hatte ich alle Zeit der Welt ihr zuzuhören und sie erzählte von ihren großen Enttäuschungen. Ich war gar nicht in der Lage Fragen zu stellen oder zu reden, und so schwiegen wir viel. Irgendwann fielen sie und ich in eine andere Zeit außerhalb der banalen Zeitmessung und sie begann langsam von einem tief erschütternden Erlebnis zu erzählen. Die Zeit stand in diesem Augenblick still. Sie bat mich, dies keinem Arzt und Psychologen zu erzählen. Vorsichtig und leise, denn eine tief verwundete Herzenskammer öffnete sich zaghaft. Sie erzählte von ihrem Sohn Cyrill, der nach einer katastrophalen Begegnung im Mutterleib starb. Ab diesem Abend änderte sich ihr Gesundheitszustand von Tag zu Tag. Heute ist sie zurück in ihrem Leben, noch verwundet, doch immer mehr bekommt sie Halt unter ihren Füßen. Sich lacht, weint, und ihr ganz eigener Lebensgeist kehrt immer mehr zurück.

An diesem besagten Abend kam bildlich gesprochen der Lebensengel Gabriel zu uns beiden ins Spitalzimmer und verkündete ihr von der Botschaft des «Mensch-sein-Dürfens». Sie ahnen es: in einer rein additiven Zeit sind solche Momente nicht vorgesehen und somit unmöglich. Mit folgendem Gedicht antwortete die Frau dem Engel, der ihr die Menschwerdung verkündete.

für Cyrill

Mein Herz wird niemals ruhen
Es wird bestimmt nie alt
Meine Seele wird sich wandeln
so wird dir niemals kalt.

Für dich will ich da sein
mein ganzes Leben lang
für dich werde ich sterben
für dich fühl ich mich bang.

Ich werde leiden für dein Glück
Du wirst leben ohne Sorgen
solang ich atme und danach
bist du mein neuer Morgen.

Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest
Alois Metz, Seelsorger Klinik Zugersee

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