Wer liebt, der ist frei
Das Rot der Fußgängerampel leuchtet hell – abrupter Stopp, Gedanken werden unterbrochen. Was für ein Thema! Von Aristoteles bis Kant, von der Bibel bis Wolfgang Schäuble und Thomas Middelhoff. Doch meine Bahn fährt gleich. Ein schneller Blick: Keine Kinder, dann doch in einer Verkehrslücke schnell über die Straße hasten. Gut, keine Kinder, das beruhigt das Gewissen. So gesehen ist das Gewissen keine stabile Instanz. Nur unser Selbstwert wird stabilisiert. An selbst gesetzten und situativ veränderbaren Maßstäben. Wie beruhigen wir uns beim Anblick von leidenden Flüchtlingskindern und deren verzweifelten Eltern?
Dann muss nun wohl die Freiheit herhalten, ja das ist es: Die Freiheit, das ist das Fundament unseres Seins. Ganz sicher! Doch halt – ich habe aus freien Stücken entschieden, das Rot der Ampel zu missachten. Freiheit ist Wahlfreiheit. Doch wie wird sie gelebt? Nur ein Blick in die heutige westliche Welt: Individualismus ersetzt zunehmend Solidarität. Laut und lauter klingt das hohe Loblied auf die freien Märkte. Verlockende Klänge – doch harte Fakten: Die Reichen dieser Welt häufen Kapital an – und zahlen nur den geringstmöglichen Preis für Arbeit. Die Arbeitnehmer müssen dafür härter arbeiten, unter Bedingungen die fast täglich unsicherer werden. Ständig unter dem Zwang der Selbstoptimierung. Freiheit in dem Umfeld basiert auch auf dem Egoismus und der Bequemlichkeit Vieler. Wie sonst könnte ein Internetgigant mit einer solchen Marktmacht entstehen, dass er ohne Konsequenzen die Mitarbeiter auspressen kann wie Zitronen. Und dann wegwerfen. Nach dem Fall des Kommunismus braucht der Kapitalismus keinen sozialstaatlichen Beruhigungspillen mehr.
Verantwortliches Handeln, das gibt es nur jenseits der Bequemlichkeit. Nein, es geht nicht darum, ständig aus 519 Handytarifen und parallel dazu unter 248 Stromtarifen den aktuell günstigsten Tarif zu suchen, es geht um etwas anderes. Das Leben mit Blick auf unsere Mitmenschen ist immer die Folge von Entscheidungen. Oft auch von Zwängen. Von Denkmustern oder auch Bedingungen bestimmt, die wir vorfinden. Die Welt ist kompliziert, und wer mit offenen Sinnen durchs Leben geht, dem dämmert die Erkenntnis: Eigentlich bleiben wir immer irgendjemandem etwas schuldig. Aus Schwäche. Aus Unkenntnis. Womöglich auch aus schicksalhafter Notwendigkeit. Einen schuldfreien Weg durch das Dasein gibt es nicht.
In all den rasanten Umbrüchen die Frage: Was kann ein sicherer Anker in der Zeit sein? In Zeiten, die sich zunehmend schneller ändern.
Bei dieser Frage steigt unwillkürlich ein Lächeln aus meinem Bauch auf die Lippen: Die Lösung ist ganz simpel: Der Anker ist die Liebe! Nein, gemeint ist nicht „Landwirt sucht Nackedei“, oder so. Es ist etwas anderes, grundlegendes gemeint. Eine erste Annäherung, einen Geschmack von dem was gemeint ist, das steht im Hohen Lied der Liebe. Nicht überfliegen, sondern in der Stille und in Ruhe sich dem Text nähern und ihn wirken lassen, das ist ein Schlüssel zu ganz anderen Erfahrungen. Auf den Punkt gebracht: Wer liebt, hat keine Angst (1. Johannes). Da verbinden sich Freiheit, Verantwortung und Gewissen zu einem Ganzen. Es ist eine Freiheit, die für etwas geht, aus Verantwortung für das Ganze handelt. Das Gewissen wird zur Gewissheit und trägt: Hier stehe ich und kann nicht anders, was für eine Quelle von Lebensfreude. Diese will einfach weitergegeben werden.
Wer liebt, der ist frei! Der Weg dahin ist ganz anderes als es in den täglichen Soaps vorgegaukelt wird und er verläuft jenseits der sonstigen Ablenkungen des Alltages. Unbequem ist er, und oft steinig und schwer. So ganz jenseits des Mainstreams. Doch schon alleine eine erste Ahnung der Quelle unseres Leben im Herzen erfahren, das gibt Kraft, Ausdauer und Mut für dieses Ziel zu gehen und es in den Alltag zu leben, mehr und mehr.
Wer liebt, der ist frei!