Wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein

 In FEATURED, Spiritualität

Foto aus der Filmsatire „Love Guru“ mit Mike Myers

Wir fragten dem spirituellen Meister Sahimaya P. Striehse, was ein gelungenes Leben ausmacht. Für spirituelle Menschen bedeutet „Erfolg“ etwas anderes als teure Krawatten, Dienst-BMW und unvermittelt piepsende Smartphones. Aber was? Es gibt auch einen spirituellen Ehrgeiz, der seltsame Blüten treibt, wie etwa die Sucht nach dem Erreichen des Erleuchtetenstatus. Mit seinen provokativen Sprüchen holt der „Anti-Satsang-Lehrer“ Sahimaya, bürgerlich Peter Striehse, als enfant terrible der Szene Diesseits-Drückberger schnell auf den Boden zurück. Seine „Mystik der Trennung“ entspräche dem Charakter und der Lernaufgabe westlicher Menschen eher als das Gesinnungsindertum vieler am Osten orientierter Lehrer, behauptet er im Interview und erklärt die Bedeutung von Umwegen.

Sahimaya, darf ich dich zunächst fragen, was dein indischer Name bedeutet?

Nichts, ich habe ihn erfunden. Klingt doch gut, nicht? Ich heiße Peter Striehse, aber versuch mal, mit diesem Namen Leute für ein Satsang zusammenzubekommen! In dieser Szene heißt man einfach indisch.

Es scheint, als wolltest du deinem Ruf schon am Anfang des Interviews alle Ehre machen.

Welchem Ruf?

Na, du giltst als Anti-Satsang-Lehrer und enfant terrible der Szene. Ist nicht einer deiner bekanntesten Sprüche: „Ich lebe unerleuchtet, unachtsam und uneins im Dort und Damals“?

Ich provoziere gern und betreibe so etwas wie eine „Umwertung aller Werte“, um die Menschen – und das gilt auch für meine lieben Kollegen – auf die andere, verdrängte Seite der Wahrheit aufmerksam zu machen. Manche Formulierungen wie „Achtsamkeit“ und „Hier und Jetzt“ sind zu hohlen Floskeln geworden, die jeder mäßig begabte spirituelle Sachbuchautor heute völlig unreflektiert herunterbetet.

Sahimaya, zur „Erfolgsstory“ eines spirituellen Meisters gehört nun mal, dass er irgendwann „erwacht“ ist und gemerkt hat, dass das Ego eine Illusion ist. Du bist bekannt für ein unverkrampftes Verhältnis zum Ego und legst außerdem keinen Wert darauf als „erwacht“ zu gelten. Was legitimiert dich eigentlich, als spiritueller Lehrer aufzutreten?

Habe ich behauptet, ein spiritueller Lehrer zu sein? Ich bin, was jeder Mensch ist: ein Geistfunke reinen Bewusstseins gefangen in den Seelenstrukturen eines Arschlochs, beide wiederum eingesperrt im Körper eines Tieres. Jeder, der dir vormacht etwas anderes zu sein, belügt dich. Wir haben dieses vielzitierte „Ego“ mitbekommen als Fahrzeug auf unserer Lebensreise durch die materielle Ebene. Das Ego ermöglicht uns Erfahrungen der Ich-Identifikation, der Abgrenzung, der Isolation, des Konflikts, der Selbstbehauptung – weil es genau diese Erfahrungen sind, die wir auf der Erde machen sollen, und die wir aus der Tiefe unseres Selbst heraus auch machen wollen. Wir können dieses Ego, dieses „Arschloch“, das an unserem reinen Bewusstsein dranhängt, nicht verleugnen und nicht abschaffen.

Wir können uns darüber ärgern, dass unser Körper Kot, Urin, Eiter und ähnliche unappetitliche Substanzen produziert und wir können – wie Nietzsche sagt – „vor uns selbst mit zugehaltener Nase herumlaufen“. Oder wir können einfach versuchen, das, was ist, gelassen zu akzeptieren. Ebenso wenig sollten wir uns darüber aufregen, dass unser Ego am laufenden Band Arschloch-Eigenschaften produziert: Neid, Eifersucht, Selbstgefälligkeit, Lüge, Gewalt … Wenn wir versuchen, uns nur noch mit dem reinen Bewusstsein zu identifizieren und sagen: „Das bin ich, mein Körper und mein Ego, das bin ich nicht“, dann spalten wir diesen unliebsamen Teil unserer Gesamtpersönlichkeit von uns ab. Nicht ins Bewusstsein gehoben, nicht in Liebe angenommen, führt unsere Schattenselbst aber ein zerstörerisches Eigenleben. Nicht umsonst hören immer wieder von spirituellen Meistern mit schockierenden Arschloch-Eigenschaften. Spirituell Interessierte hassen häufig das Ego und wollen es loswerden. Dabei ist der Verrat am Ego nicht weniger schlimm als das, was Alexander Lowen den „Verrat am Körper“ genannt hat. Es ist der himmelschreiende Verrat an einem nützlichen und in all seiner Fehlerhaftigkeit liebenswerten Werkzeug, das uns auf unserer Lebensreise mitgegeben wurde, damit wir es pflegen, gedeihen lassen und angemessen würdigen.

Du glaubst also, dass wir das Ego erlösen können, indem wir es lieben? Ist das deine Botschaft?

Versucht nicht, Vollkommenheit zu erlangen, indem ihr das Fehlerhafte beschimpft und zu vernichten sucht. Die Vollkommenheit besteht doch gerade darin, das Unvollkommene lieben zu lernen.

Und gegen diese Philosophie verstoßen die spirituellen Lehrer, indem sie auf dem Ego herumtrampeln?

Ja, es liegt keine größere Weisheit darin, das Ego zu verachten als ein Kind zu verachten, nur weil es unvernünftig ist, schreit, kackt, nach Nahrung oder nach Hautkontakt verlangt. Wir müssen es in den Arm nehmen, dieses Kind, es lieb haben in seiner Unvollkommenheit. Es liegt keinerlei Weisheit in der Verachtung.

Ist das auch deine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens: „das Unvollkommene lieben lernen“

Eine meine Antworten. Ich rede mit meinen Satsang-Besuchern viel über Sinnfragen. Am besten ist es, jeder findet es selbst heraus. Ich stelle meinen Besuchern meistens folgende Frage: „Auf welche Frage ist dein Leben die Antwort?“ Daraufhin kommen dann immer ganz verschiedene Statements. Aber auf das Einfachste kommt niemand: Die Frage, auf die dein Leben die Antwort ist, heißt: Wie fühlt es sich an, ein Mensch zu sein?

Das ist richtig, aber eigentlich doch ziemlich banal.

Ich finde nicht, dass das banal ist. Wenn es nämlich deine Lebensaufgabe ist, zu erfahren, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein, dann gibt es fast nichts, womit du deine Aufgabe verfehlen kannst. Verstehst du: Es geht nicht darum, dass das Leben im herkömmlichen Sinne „gelingt“, es geht nicht darum, dass du Erfolg hast, nicht mal darum, ob es dir gelingt „spirituell zu wachsen“ oder gar „zu erwachen“. Wichtig ist einzig und allein, zu erfahren, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Heisst das, ich dürfte auch Verbrechen begehen, denn vielleicht gehört es ja zum Menschsein, Verbrechen zu begehen?

Ich rate niemandem, bewusst Böses zu tun, nur um mal zu spüren, wie sich das anfühlt. Es ist das gute Recht und die Natur des Menschen, nach dem Guten und nach dem Glück zu streben, ebenso wie es ihre Natur ist, immer wieder an diesem hohen Ideal zu scheitern. Trotzdem sage ich: Wenn du am Ende deines Lebens zurückblickst und hast nie erfahren, was es heißt sich zutiefst für eine Tat zu schämen und sie zu bereuen, dann ist dies ebenso, als hättest du nie in deinem Leben geliebt. Beides gehört zu den fundamentalen Erfahrungen des Menschen. Wenn du ganz tief unten bist, mit dir und deinem Wertebewusstsein entzweit, ohne Hoffnung, ohne Selbstachtung, wenn du dein Spiegelbild nur noch anspucken möchtest, dann sage zu dir: Aha, so fühlt es sich an, sich zu schämen. So fühlt es sich an, ein Mensch zu sein. Und dann steh auf und geh weiter deinen Weg. Vielleicht führt er dich zu neuen Erfahrungen: zum Beispiel zu der Erfahrung dieser Kraft, die dir in deinen schwärzesten Momenten zur Verfügung steht, um dich an deinen eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.

In so tollen dramatischen Ereignissen kann ich leicht einen Sinn erkennen. Aber was ist mit den vielen Tagen, Wochen, Monaten, die in Langeweile und Ereignislosigkeit verstreichen?

Mensch sein, heißt auch, sich zu langweilen. Deine Langeweile ist ein Teil der Antwort auf die Frage, wie es sich anfühlt, ein Mensch zu sein. Schuld, Scham und Langeweile sind keineswegs Argumente gegen meine Philosophie. Es gibt eigentlich nur einen einzigen Weg, wie du deine Lebensaufgabe verfehlen kannst: Das ist, wenn du versuchst, etwas anderes als ein Mensch zu sein: eine Art Übermensch, der über allen menschlichen Erfahrungen, über den Dramen des Körpers und des Egos in erhabener Gleichgültigkeit trohnt, der sich zum bloßen lächelnden Zuschauer macht, wo er dazu bestimmt gewesen wäre, liebender, leidender, triumphierender oder scheiternder Mitspieler zu sein.

Das heißt, du wirfst den spirituellen Meistern vor, ihren Lebensplan zu verfehlen, während der Obdachlose, der Mörder, der Fußballfan oder der Zuschauer der volkstümlichen Hitparade ihr Ziel erreichen.

(Lacht): Da hast du wirklich alle denkbaren Abgründe des Menschlichen genannt. In der Tat: Ein Fußballfan kennt den Geschmack der mitfiebernden Angst, des Triumphs, der Traurigkeit und des Zorns nach erlittener Niederlage, den Geruch des Bieres, mit dem er sich zusammen mit seinen Kumpanen nach einem Spiel besäuft, das Knattern der Vereinsfahne und ihre bunten Farben, wie sie sich im Wind bewegen. Trotzdem ist auch der Fußballfan ein Zuschauer, der nur geliehenes Glück und geliehene Schmach durchlebt. Wenn man schon in hierarchischen Kategorien denkt, dann so: Für mich steht über dem gleichgültig-weise lächelnden Zuschauer der mitfiebernde, emotional beteiligte Zuschauer, über diesem steht der Spieler, und über diesem wiederum der Mensch, der nicht mehr spielt, sondern tatsächlich lebt – mit allen seinen Sinnen. Der sein ganzes Schicksal und seine Seele in das Drama hineingibt, um zu erfahren, was es heißt, Mensch zu sein.

In dem Film „Club der Toten Dichter“ heißt es so schön: „Ich will das Mark des Lebens aufsaugen, damit ich nicht in meiner Sterbestunde gewahr werde, dass ich nicht gelebt habe.“

Genau das ist es! Deshalb hört auf, in frühreifem Weisheitsgetue und in Achtsamkeit zu erstarren. Euch wurde das Leben nicht geschenkt, damit ihr es gleich wieder zurückgebt und sagt: „Ich will es gar nicht haben. Ich halt mich da lieber raus!“ Versucht nicht, hier schon so zu leben, als wärt ihr im Jenseits. Das Jenseits kommt irgendwann von allein zu euch, und wenn es da ist, könnt ihr erfahren, wie es sich anfühlt, ein Leben nach jenseitigen Gesetzen zu leben. Jetzt seid ihr in einer materiellen Welt, in der ihr materielle und körperliche Erfahrungen machen könnt, Erfahrungen des Getrenntseins, der Enge und des Konflikts.

Wenn ihr in Italien Urlaub macht, nehmt die Erfahrungen mit, die ihr am besten dort und nur dort machen könnt. Esst Tiramisu und Spaghetti Vongole, keine Würstel mit Kraut. Wenn ihr in einer materiellen Welt zu Besuch seid, macht die Erfahrungen, die ihr am besten dort machen könnt: Wie fühlt es sich an, krank zu sein und die Schwere, die Wundheit eines Körpers zu spüren? Wie fühlt sich ein Zungenkuss an oder ein Orgasmus? Wie ist es, betrunken zu sein oder nach stundenlangem Fussmarsch durch die Berge gierig und halb verhungert in ein Käsebrot zu beißen? Wie geht es dir mit materieller Knappheit? Wie ist es, mit Menschen auf engem Raum zusammengepfercht zu sein und die Wut zu spüren, die aus dieser Enge resultiert? Solche Erfahrungen sind typisch irdisch und insofern unendlich wertvoll. „Einfach sein“ könnt ihr auch noch, wenn ihr diesen Körper verlassen habt.

Viele spirituelle Meister würden erwidern, unser Gefühl, ein von anderen abgetrenntes Wesen zu sein, sei nur Illusion. In Wahrheit seien wir immer eins.

Ich antworte darauf mit einem glasklaren „Jein“. Wir sind eins, und wir sind nicht eins. Das ist die ganze Wahrheit. Wer nur einen dieser Halbsätze hervorhebt, z.B. „Wir sind eins“ oder „Wir sind nicht eins“, der produziert naturgemäß nur Halbwahrheiten. Je nachdem, wo der Fokus unserer Aufmerksamkeit liegt, sind wir eins oder nicht eins. Die Fingerkuppen einer Hand sind eins, weil sie alle in der Hand münden, und sie sind nicht eins, weil Raum und Haut zwischen ihnen ist. Alle wirklich großen Wahrheiten sind paradox, z.B. ”Wir sind frei, und wir sind determiniert.” Wir müssen uns allerdings überlegen, welchen Sinn es macht, dass wir uns die allermeiste Zeit hier auf der Erde nicht eins fühlen. Wir erleben uns als Einzelwesen, ein Sack voll Fleisch und Knochen, eingepackt in Haut, ein Bewusstseinspunkt, irgendwo im Kopf zentriert, eingesperrt in seine engen Denkstrukturen und Wahrnehmungsgrenzen. Das ist es, was wir glauben zu sein, und in gewisser Weise sind wir auch tätsächlich das, was wir zu sein glauben.

Wenn ich Gott wäre und eine Rede an meine Geschöpfe halten müsste, würde das etwa so klingen: Versucht nicht, eins zu sein, denn ich habe euch das Leben geschenkt, um Erfahrungen der Trennung und der Einsamkeit zu machen. Versucht nicht, frei zu werden, denn ich habe euch hierher gesandt, um die Erfahrung der Enge und der Gefangenschaft zu machen. Versucht nicht, euch zu distanzieren, denn ihr seid hier, um einzutauchen in die Dramen des Lebens. Versucht nicht, alles auf einmal zu sein, denn ihr sollt die Beschränkung lernen auf ein einzelnes Schicksal, auf ein einzelnes Ich. Versucht nicht, zu erwachen, denn ich wollte, dass ihr die Erfahrung des Schlafens und Träumens macht. Versucht nicht, euch zu erleuchten, denn ihr solltet lernen, in der Finsternis auszuharren. Versucht nicht vorschnell zurückzukehren, denn ich will, dass ihr den bitteren Geschmack des Heimwehs kostet.

Also ein Plädoyer für die zu Unrecht geschmähte Dunkelheit!?

Dunkelheit ist die Voraussetzung dafür, dass wir Licht erst wahrnehmen und schätzen können. Unglück ist die Voraussetzung dafür, dass wir Glück begreifen. Vielleicht ist der Sinn des Aufbruchs die Heimkehr, und die Süße des Wiedersehensfestes bemisst sich danach, wie lang und wie bitter die Zeit der Verbannung war.

Du meinst, je größer die Sehnsucht und Entbehrung, desto schöner ist später die Erfüllung?

Ungefähr das meine ich. Jede Ekstase empfängt ihre Leuchtkraft von der Sehnsucht, die ihr vorausging. Jede Sättigungslust hat als unverzichtbare Voraussetzung den Hunger. So ist auch der Sinn jedes Aufbruchs, jedes Trennungsschmerzes das Wiedersehensfest. Das ist der tiefere Sinn des biblischen Gleichnisses vom verlorenen Sohn: Sei mutig, brich auf ins Ungewisse, durchwandere Lust, Schuld, Erniedrigung, Trennung, Einsamkeit und Verzweiflung, und sei dir bewusst: Du bist es in Wahrheit, den der Vater liebt – vielleicht mehr als den anderen Sohn, den braven, zaghaften, immer Daheimgebliebenen. Und wenn du heimkehrst, verurteilt er dich nicht für deine Abwesenheit, sondern er bereitet dir ein Wiedersehensfest ohne gleichen, weil er weiß: Diese Irrwege, die du gegangen bist, sind in Wahrheit die Wege, die du gehen solltest. Die Menschen haben stärkere Seelen als die Engel, weil sie es gewagt haben, sich so weit von der Quelle zu entfernen, dass die Quelle selbst aus dem Blickfeld verschwand und sie voll abgrundtiefer Verzweiflung meinten: Es gibt gar keine Quelle. In dieser Dunkelheit auszuharren verlangt mehr Mut als sich immer von der Sonne bescheinen zu lassen.

 

 

Fiktives Interview: Roland Rottenfußer

 

 

 

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