Willkommen in Absurdistan
Der tĂŒrkische âAnti-Terrorkriegâ, die Pseudokritik der Medien und die Erosion des Gewaltverbots. Die Vereinigten Staaten, die EuropĂ€er, die syrische Regierung und Russland wollen den IS bekĂ€mpfen. Die Kurden in der Region sind dabei der wichtigste VerbĂŒndete. Der Westen unterstĂŒtzt die Kurden daher in ihrem Kampf. Der Nato-Partner TĂŒrkei bekĂ€mpft wiederum die Kurden, nun mit einer groĂangelegten Offensive in Syrien. Die USA, die EuropĂ€er oder die Russen klopfen Erdogan ein wenig auf die Finger, aber lassen ihn ansonsten gewĂ€hren, wĂ€hrend sie die Kurden dem tĂŒrkischen MilitĂ€r ĂŒberlassen. Willkommen im geopolitischen Absurdistan. David GoeĂmann David GoeĂmanns Buch âDie Erfindung der Bedrohten Republikâ ist im Sturm-und-Klang-Shop erhĂ€ltlich.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Kurden von den USA und GroĂmĂ€chten instrumentalisiert und dann ihren Peinigern ĂŒberlassen werden. Nach dem Motto: âDer Kurde hat seine Schuldigkeit getan. Der Kurde kann jetzt gehenâ. Diesmal ist es nicht der Irak oder der Iran, sondern die TĂŒrkei unter Erdogan. Der Regierung in Ankara wird erlaubt, die Kurden gewaltsam zu vertreiben. Die âinternationale Gemeinschaftâ gibt grĂŒnes Licht fĂŒr den Aggressionsakt, setzt sich auf die TribĂŒne und schaut dem Spektakel zu, um gleichzeitig beim tĂŒrkischen PanzervorrĂŒcken âSelbstverteidigungâ zu rufen.
Der Zynismus ist derart offensichtlich, dass in der veröffentlichten Debatte und den Medien deutlicher als sonst ĂŒblich Kritik geĂŒbt werden darf an den âwarmen Wortenâ des deutschen AuĂenministers, den Waffenlieferungen Deutschlands, sogar vereinzelt an dem âVerrat des Westensâ an den Kurden und der âBankrotterklĂ€rung westlicher AuĂenpolitikâ. Aber es sind hohle Phrasen, aus denen nichts folgt. Die öffentliche Erregung ĂŒber das Vorgehen der TĂŒrkei bleibt auf strategische Aspekte und NebenschauplĂ€tze begrenzt. Es wird betont, dass es nicht klug sei, die kurdischen VerbĂŒndeten im Kampf gegen den IS zu schwĂ€chen. Die âModernisierungâ der deutschen Panzer mĂŒsse sich Erdogan âabschminkenâ, solange die TĂŒrkei in Syrien âzusĂ€tzlich Ăl ins Feuer gieĂeâ. Selbst dort, wo in seltenen FĂ€llen von tĂŒrkischer Aggression und einem Angriffskrieg gesprochen wird, schwenkt der Blick schnell wieder zum âTerrorismusâ der YPG (Miliz der kurdischen Democratic Union Party in Syrien), zur âkomplexen Gemengelageâ in Syrien, wo âGut und Böseâ schwer auseinander zu halten sind.
Aber es geht bei dem tĂŒrkischen Einmarsch nicht um âGut und Böseâ, eine âkomplexe Gemengelageâ, âzusĂ€tzliches Ăl ins Feuerâ, modernisierte Panzer oder um BankrotterklĂ€rung und Verrat. Die Invasion ist zuerst einmal ein Aggressionsakt gegen eine Region und die dortige Bevölkerung, den die TĂŒrkei nicht gegen den Willen der âinternationale Gemeinschaftâ ausfĂŒhren könnte. Eine Petition von Wissenschaftlern und Menschenrechtsaktivisten bringt diesen Sachverhalt klar auf den Punkt:
âAn attack of this kind against the peaceful citizens of Afrin is a blatant act of aggression against a peaceful and democratically-governed region and population. Turkey cannot carry out such an attack without the approval of Russia, Iran and Syria â and inaction by the U.S. to stop it. The Kurdish people have endured the loss of thousands of young men and women who joined the YPG, and YPJ womenâs force, to rid the world of ISIS. The U.S and the international community have a moral obligation to stand behind the Kurdish people now. We call on U.S. officials and the international community to guarantee Afrinâs stability and security and prevent further Turkish aggression from within Syria and across the Syrian border.â
Die Medien sind beim PanzervorrĂŒcken und Bombardieren des tĂŒrkischen MilitĂ€rs jedoch um Balance bemĂŒht. Holen wir den Rechenschieber raus. 1280 Mal wurde in der deutschen Presse von einer â*Offensiveâ (* als Platzhalter fĂŒr z.B. âMilitĂ€roffensiveâ) in Hinsicht auf die tĂŒrkische Invasion gesprochen, 121 Mal von âSelbstverteidigung*â. 86 Mal tauchte der Hinweis auf âAggression*â auf, vor allem in Bezug auf die Sichtweise der Kurden und der syrischen Regierung. 61 Mal zitierte die Presse die Sichtweise der Linkspartei, die die Offensive als âAngriffskriegâ bezeichnet. Die Medien prĂ€sentieren die Invasion also als Offensive, die von der tĂŒrkischen Seite, den USA und Nato-Partnern als âSelbstverteidigungâ, den Kurden und der syrischen Regierung als âAggressionâ und der Linkspartei als âAngriffskriegâ betrachtet wird. Gleichzeitig wird das âKurdenproblemâ in Syrien stark auf das Thema Terrorismus verengt und die Offensive als Anti-Terror-Kampf gerahmt. Die Wortkombination âKurdenâ/âTerror*â liefert insgesamt 871 Treffer, die von âTĂŒrkeiâ/âAnti-Terror*â 52.
Von einem âAufschreiâ in den Medien gegen den tĂŒrkischen Einmarsch, von dem selbst die Informationsstelle Militarisierung spricht, kann nicht die Rede sein. Als die tĂŒrkischen Panzer in die Region vorrĂŒckten, reichte der Nachrichtenbetrieb die Statements aus Anakara, Washington D.C., aber auch aus anderen HauptstĂ€dten kommentarlos weiter, dass die TĂŒrkei das Recht habe, sich gegen Terrorattacken selbst zu verteidigen. Die Bundesregierung spricht von âlegitimen Sicherheitsinteressenâ. Es ist offensichtlich, dass es sich dabei um Apologie und Propaganda handelt. Die TĂŒrkei hat sich nicht einmal bemĂŒht, eine âsmoking gunâ fĂŒr irgendetwas hervorzuzaubern. Doch die Journalisten widersprachen den PR-Formeln nicht, schwiegen, mit wenigen Ausnahmen. In der Berliner Zeitung heiĂt es in einem Leitartikel: âJuristisch betrachtet, handelt es sich bei der zynisch âOperation Olivenzweigâ benannten Offensive um einen Bruch des Völkerrecht, denn von Afrin ist nie eine echte Aggression gegen die TĂŒrkei ausgegangen. Aber das Völkerrecht spielt im Syrien-Konflikt schon lange keine Rolle mehr.â
So sieht die radikalste Kritik an dem tĂŒrkischen Aggressionsakt gegen die Kurden in Deutschland aus: Der Völkerrechtsbruch ist unschön; aber letztlich ist es eine juristische Formalie, denn das Völkerrecht spiele in Syrien âlange keine Rolle mehrâ. Zudem wĂŒrde âjede tĂŒrkische Regierung den Aufbau eines kurdischen Quasi-Staats und einer starken, mit der PKK verbundenen Kurdenarmee in Syrien als Bedrohung ansehenâ. Auch die USA tragen Verantwortung fĂŒr die âbesondere Tragik dieser Invasionâ, so die Berliner Zeitung weiter. Sie hĂ€tten die Kurden in Syrien bewaffnet, aber ihnen âpraktisch keine Grenzenâ gesetzt und âihre mindestens logistische UnterstĂŒtzung fĂŒr die PKK toleriertâ. Selbst dort also, wo das Tabuwort âVölkerrechtsbruchâ am Ă€uĂeren Ende des Meinungsspektrum aufscheinen darf, werden sogleich jede Menge intellektuelle Beruhigungspillen verabreicht und an die âlegitimen Sicherheitsinteressenâ der TĂŒrkei erinnert.
WĂ€hrend sich die Medien auf NebenschauplĂ€tzen ereifern und entrĂŒsten, ignorieren sie den Skandal des Angriffskriegs. So kommentiert Christiane Schlötzer in der SĂŒddeutschen Zeitung, dass die âMilitĂ€raktionâ nicht nur âbrandgefĂ€hrlichâ sei, âweil sie zu neuen Vertreibungen und Toten in Syrien fĂŒhren wirdâ, sondern auch eine âGefahr fĂŒr die TĂŒrkei selbstâ darstelle, âweil sie den alten Konflikt mit den Kurden am Leben halten wirdâ. Damit sei âniemandem gedient. Das mĂŒssen die VerbĂŒndeten der TĂŒrkei sagen, immer wiederâ. Als ob die TĂŒrkei das nicht selber wĂŒsste. Als ob es um eine MilitĂ€raktion in einem alten Konflikt ginge. Als ob sich irgendjemand im Westen jemals um die Kurden gekĂŒmmert hĂ€tte. Wie wĂ€re es mit der ehrlichen Bestandaufnahme von Fakten. Es ist ein Angriffskrieg. Er muss sofort gestoppt werden. Die Ampel muss von den GroĂmĂ€chten umgehend von GrĂŒn auf Rot gestellt werden. Oder wie wĂ€re es, die Verantwortlichen fĂŒr das Leid und den Tod von Unschuldigen zur Rechenschaft zu ziehen â unabhĂ€ngig davon, ob die âMilitĂ€raktionâ strategisch gesehen âdienlichâ ist oder nicht? Solche ErwĂ€gungen liegen aber jenseits des Meinungsspektrums. Daher ist es fĂŒr SZ zwar âschwer ertrĂ€glichâ, dass deutsche Panzer in dem Gebiet herumfahren, aber nicht, dass ein Angriffskrieg gegen eine Bevölkerung stattfindet, mit freundlicher UnterstĂŒtzung der âinternationalen Gemeinschaftâ.
Solche verdeckten Apologien sind der Sound, mit dem die Medien der TĂŒrkei auf die Finger klopfen, aber sie ansonsten, dem politischen Kurs der GroĂmĂ€chte folgend, gewĂ€hren lassen. âWenn der tĂŒrkische PrĂ€sident Recep Tayyip ErdoÄan nun den Kurdenkanton AfrĂźn angreifen lĂ€sst, tut er das weniger, weil ihn der Flecken militĂ€risch bedrohtâ, so die SZ an anderer Stelle. âDie Selbstverwaltung der Kurden dort stört ihn eher aus politisch-symbolischen GrĂŒnden (âŠ)â. Der richtigen Einsicht, dass das tĂŒrkische MilitĂ€r Menschen in einem Kriegsgebiet aus âpolitisch-symbolischen GrĂŒndenâ, also MachtwillkĂŒr, mit Soldaten, Panzern und Kampfjets angreife, folgen aber nur strategische Bedenken. So ist die links-liberale QualitĂ€tszeitung vor allem bemĂŒht, die ZuschauertribĂŒne aus der Schusslinie zu bringen. Denn dass die USA und Russland âhöchstens pflichtschuldig maulenâ, Erdogan aber nicht âin den Arm fallen werdenâ, wisse der tĂŒrkische PrĂ€sident. Denn beide GroĂmĂ€chte brĂ€uchten ihn, âdie eine als Nato-Partner, die andere, um das syrische Chaos vielleicht irgendwann ordnen zu könnenâ. Die MĂ€r vom tĂŒrkischen Sultan, der Russland und die USA durch die geopolitische Manege fĂŒhrt, samt der âinternationalen Gemeinschaftâ, mag die Leser in den Schlummermodus versetzen. Sie hat aber nichts mit der RealitĂ€t und den MachtverhĂ€ltnissen zu tun. Statt den Angriffskrieg, die Verbrechen und das Leid der Kurden in den Fokus zu nehmen, wĂ€scht die SZ einen Angriffskrieg weiĂ, bei dem klar ist, dass die TĂŒrkei ihn sich âabschminkenâ mĂŒsste, wenn die USA, Russland oder die EuropĂ€er âNoâ, âNjetâ oder âNeinâ sagen wĂŒrden. DafĂŒr brĂ€uchte es nicht einmal Soldaten, die der TĂŒrkei âin den Arm fallenâ. âLiebesentzugsâ wĂŒrde reichen.
Aber die mediale GleichgĂŒltigkeit gegenĂŒber Recht und Gesetz sowie das WeichspĂŒlen des tĂŒrkischen Kriegsverbrechens sind nur fair. Es wĂ€re eine Heuchelei, wenn die Medien Ankaras Völkerrechtsbruch an die groĂe Glocke hĂ€ngen wĂŒrden und den Aggressionsakt zu mehr machen wĂŒrden als einem âgefĂ€hrlichen Spielâ Erdogans, einem moralischen Abenteuer, ĂŒbertriebenem âAntiterrorkampfâ oder einer neuen Episode im tĂŒrkisch-kurdischen Konflikt. Warum sollten SZ, Spiegel und Co. dem Nato-Staat TĂŒrkei nicht das zugestehen, was den USA, Frankreich und GroĂbritannien, unterstĂŒtzt von der deutschen Regierung, eingerĂ€umt wird: Das Gewaltverbot in internationalen Beziehungen mit FĂŒĂen zu treten, wie es ihnen beliebt; andere LĂ€nder zu ĂŒberfallen und zu attackieren, wenn es geopolitisch opportun ist.
Das Völkerrecht lĂ€sst sich spĂ€testens seit den endlosen Kriegen der USA nach 9/11 vor jeden geopolitischen Wagen spannen. Darum ist es wichtig daran zu erinnern, um was es beim Gewaltverbot in internationalen Beziehungen und dem Recht auf Selbstverteidigung genau geht. Die Medien ĂŒberspringen diesen Teil fast immer oder deformieren das Recht bis zur Unkenntlichkeit, um nicht in Teufels KĂŒche zu kommen. Wobei die Reaktion auf den TĂŒrkei-Einmarsch etwas anders ausfĂ€llt als die auf die âhumanitĂ€ren Interventionenâ des Westens sonst. Denn nicht jeder ist froh darĂŒber, was die TĂŒrkei gerade in Syrien anstellt. Die rhetorische Solidarisierung mit dem Autokraten Erdogan und seiner Politik tendiert Richtung null. Daher sind diesmal sogar, wenn auch in stark dosierter und begrenzter Form, âExtremansichtenâ erlaubt. So darf die Völkerrechtlerin Anne Peters auf FAZ-NET klarmachen, dass die tĂŒrkische Invasion sich nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen kann. Ein Erkenntnispfund, mit dem man wuchern könnte. Doch das Pfund wird schnell wieder in den Meinungstresor geschlossen. Keine Neurahmung der Berichterstattung in Hinsicht auf âAngriffskriegâ bzw. Kriegsverbrechen und dem, was aus Angriffskriegen folgen sollte. Das Verdikt der Völkerrechtlerin verschwindet ohne jedes Echo in der Nachrichtenflut. Denn eine Debatte ĂŒber Völkerrechtsbruch, das Gewaltverbot und den Umgang mit Angriffskriegen könnte sich ĂŒber den TĂŒrkei-Fall hinaus wie ein Virus auf andere AntiterrorkĂ€mpfe, âMilitĂ€roffensivenâ und Komplizenschaften mit Kriegsverbrechern ausweiten. Und diese BĂŒchse der Pandora will niemand öffnen. Daher wird beim tĂŒrkischen Aggressionsakt die völkerrechtliche Diskussion ignoriert, wie ĂŒblich, nicht allein, um das GewĂ€hren-lassen der GroĂmĂ€chte vor „Fundamentalkritik“ zu schĂŒtzen, sondern auch, um die von einer Diskussion ausgehende Ansteckungsgefahr zu bannen. Kein einziges Mal wird in der deutschen Presse von âVölkerrechtsbruchâ gesprochen. Lediglich bei den deutschen Panzerlieferungen wird vereinzelt vom âvölkerrechtswidrigenâ Vorgehen der TĂŒrkei gesprochen, um die MilitĂ€rexporte als rechtliches Problem fĂŒr Deutschland in den Blick zu nehmen.
Ăffnet man beim TĂŒrkei-Einmarsch die BĂŒchse der Pandora, erkennt man schnell, wo die Gefahren, die vom Völkerrecht ausgehen können, liegen. Es mĂŒssen nĂ€mlich eine Reihe von Ă€uĂerst strengen Kriterien erfĂŒllt sein, um Gewaltanwendungen in internationalen Beziehungen als legal einstufen zu können. Eine kleine, bei weitem nicht vollstĂ€ndige Auflistung einiger Prinzipien (1):
– Es muss sich um einen imminenten bzw. stattfindenden Angriff von auĂerhalb handeln, der nur noch mit militĂ€rischen Mitteln abgewehrt werden kann. Es muss sich zudem um mehr als reine Grenzvorkommnisse handeln (âlarge scaleâ).
– AusschlieĂlich die Abwehr von evidenten (âcrystallizedâ) Angriffen ist rechtmĂ€Ăig. PrĂ€ventive (âpre-emptiveâ) Gewalt bzw. Gewalt gegen eine âwachsende Bedrohungâ fallen nicht unter das Recht gewaltsamer Selbstverteidigung.
– Alle friedlichen Lösungen mĂŒssen ausgeschöpft worden sein. Die daraus resultierende Notwendigkeit muss belegt und bewiesen werden.
– Die Selbstverteidigung ist begrenzt auf proportionale Mittelanwendung im VerhĂ€ltnis zur Abwehr konkreter Angriffe. Zugleich muss der UN-Sicherheitsrat informiert werden. Nach der Abwehr des Angriffs geht die Verantwortung an die UN (âkollektive Selbstverteidigungâ).
– Von rechtmĂ€Ăiger Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung kann nur dann gesprochen werden, wenn belastbare Evidenz vorliegt. Die HĂŒrden dafĂŒr sind hoch (steigend mit der Ausweitung der Gewaltanwendung). Die Belege mĂŒssen zudem öffentlich prĂ€sentiert werden können.
Nimmt die TĂŒrkei gemÀà dieser Kriterien ihr Recht auf Selbstverteidigung wahr, wenn es in Syrien einmarschiert und die Afrin-Region bombardiert? Die TĂŒrkei mĂŒsste auf eine Reihe von Fragen eine Antwort geben:-
– Welche groĂdimensionierten, imminenten/stattfindenden Angriffe gegen die TĂŒrkei sind mit dem tĂŒrkischen Einmarsch und den KĂ€mpfen mit den kurdischen Milizen in Nord-Syrien tatsĂ€chlich gestoppt worden?
– Welche Evidenz liegt dafĂŒr vor, dass es um mehr ging als âVorbeugungâ gegen eine âwachsende Gefahrâ?
– Sind alle möglichen friedlichen Wege fĂŒr den Stopp des imminenten/stattfindenden Angriffs von der TĂŒrkei ausgeschöpft worden?
– Sind die Mittel des tĂŒrkischen MilitĂ€rs proportional gemessen an der Dimension der Bedrohung?
Das erstaunliche ist, dass sich die TĂŒrkei und die tĂŒrkische Ăffentlichkeit nicht einmal bemĂŒhen, irgendetwas zu konstruieren und den internationalen Medien Rechtfertigungsfutter fĂŒr den Angriff zu bieten. Es sind lediglich Phrasen, die stĂ€ndig wiederholt werden, die aber fĂŒr sich genommen nichts rechtfertigen und belegen können, wie: âtĂ€gliche Angriffe von Afrin ausgehendâ; Afrin als âsafe havenâ fĂŒr Terroristen; âterroristische Bedrohungâ; ânotwendige MaĂnahmen gegen eine Terrorgruppe, die uns von drei Seiten umzingelt und unsere Rechte verletztâ; âAngriffe auf YPGâ (âPeople’s Protection Unitsâ, militĂ€rischer Arm der kurdischen âDemocratic Union Partyâ, PYD, in Syrien); âSĂ€ubern der Grenze von YPG und PYD, um sie von dem Aufbau einer autonomen Region abzuhaltenâ; âKampf gegen die Entstehung eines Terror-Korridor, der den nordwestlichen Afrin-Kanton mit dem von Kobani und Jazeera im Osten verbindetâ; âdas nĂ€chste Ziel ist Manbij, wenn YPG Elemente sich in den nĂ€chsten Monaten nicht aus dem Gebiet zurĂŒckziehenâ. (2)
Nichts von dem kann auch nur annĂ€hernd eine gewaltsame Selbstverteidigung begrĂŒnden und das Gewaltverbot aushebeln. Denn:
– Es geht beim TĂŒrkei-Einmarsch nicht um das Stoppen von imminenten/stattfindenden Angriffen, sondern wenn ĂŒberhaupt um pre-emptive Gewaltanwendung gegen âTerroristenâ, einen unspezifischen âwar on terrorâ. Wenn es tatsĂ€chlich um imminente Angriffe geht: Wo ist die Evidenz dafĂŒr?
– Friedliche Lösungen wurden von der TĂŒrkei nicht nur nicht ergriffen sondern blockiert. Angesichts des Bruchs des Waffenstillstands mit der kurdischen Seite, der Eskalation der Gewalt der tĂŒrkischen Regierung gegen die Kurden sowie der Indizien, dass die TĂŒrkei die ISIS unterstĂŒtzt habe im Kampf gegen die Kurden in Syrien, kann nur schwer von einer Ausschöpfung aller friedlichen Mittel geredet werden.
– Es wird auch sonst keinerlei Evidenz vorgelegt fĂŒr die Behauptung, dass es sich um âSelbstverteidigungâ im Sinne des internationalen Rechts handelt.
– Die offiziell verkĂŒndeten Ziele der TĂŒrkei beim Einmarsch sowie die militĂ€rischen Operationen und Strategien des MilitĂ€rs widersprechen den Prinzipien der Selbstverteidigung. Es geht der tĂŒrkischen Regierung augenscheinlich darum, eine autonome kurdische Region im Norden Syriens zu verhindern (deklariert als âsafe havenâ oder âterror corridorâ), wobei der Konflikt eskaliert und regional ausgeweitet wird.
Da keine Resolution des Sicherheitsrats oder eine âEinladungâ der syrischen Regierung vorliegt, ist die Invasion schlicht und ergreifend ein Völkerrechtsbruch, ein illegaler und illegitimer Aggressionsakt, ein Kriegsverbrechen und zugleich eines, das von der âinternationalen Gemeinschaftâ gestoppt werden kann und muss. Zudem sollten die Verantwortlichen und Komplizen des Angriffskriegs vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden.
Dass die USA und Europa die TĂŒrkei gewĂ€hren lassen und die veröffentlichte Meinung hierzulande die Tatsache eines Angriffskriegs entweder ignoriert beziehungsweise wie einen Formfehler fĂŒr irrelevant erklĂ€rt, wĂ€hrend die Kritik auf strategische Fragen konzentriert wird, ist ein weiterer Beleg dafĂŒr, dass aggressive Geopolitik und ihre Folgen von den Medien geduldet werden, solange sie nicht Kerninteressen der âinternationalen Gemeinschaftâ (sprich: der westlichen GroĂmĂ€chte) betreffen. Zu den Kerninteressen im TĂŒrkeifall zĂ€hlen offensichtlich nicht das Schicksal der Kurden, das ZurĂŒckdrĂ€ngen von ISIS und die Stabilisierung Syriens und der Region.
Die Kurden mĂŒssen fĂŒr diese mediale Ignoranz und moralische Lethargie blutig bezahlen, wie viele andere Völker, auf die der militĂ€rische Vorschlaghammer niederrauschen darf. Gleichzeitig erodiert das Gewaltverbot in internationalen Beziehungen weiter. Im Zuge der US-Antiterrorkriege mit UnterstĂŒtzung der Nato-Partner ist die Missachtung des Völkerrechts quasi zum Gewohnheitsrecht mutiert. Stillschweigend haben viele Staaten akzeptiert, dass prĂ€ventive MilitĂ€raktionen gegen âTerrorgruppenâ eine legitime Form der Selbstverteidigung darstellen. Die GrĂŒnde dafĂŒr sind offensichtlich. Viele Regierungen der Welt, vor allem die der GroĂmĂ€chte wie China, Russland oder der Iran, ganz zu schweigen von den Nato-Staaten, wollen ihre âAntiterrorkĂ€mpfeâ ungestört fĂŒhren. Die Konsequenzen der öffentlichen Ignoranz und des medialen Schweigens sind fatal. Ganze Regionen werden verwĂŒstet, ohne dass irgendjemand dafĂŒr zur Verantwortung gezogen wird. Die Kriterien der UN-Charta, die Gewalt zwischen Staaten einschrĂ€nken sollen, werden aber nicht nur in der politischen Praxis oder im UN-Prozess, sondern auch in der völkerrechtlichen Fachdebatte zunehmend aufgeweicht. Einige Schwenks sind bereits vollzogen worden.
Der Feldzug der TĂŒrkei gegen das kurdische Volk in Syrien ist eine verpasste Chance in einer langen Kette von verpassten Chancen, dem rechtlosen, inhumanen und den Weltfrieden bedrohenden Treiben Einhalt zu gebieten. Manche mögen den Glauben an das Völkerrecht verloren haben. Aber so schnell sollte man die erkĂ€mpften Rechte nicht auf den MĂŒllhaufen der Geschichte werfen. Das Gewaltverbot und die strikten Regeln fĂŒr militĂ€rische Selbstverteidigung können eine Waffe gegen WillkĂŒr mĂ€chtiger Staaten sein. Daher wird das Völkerrecht auch möglichst aus der öffentlichen Debatte ferngehalten. Wenn die Medien in den USA, in Europa und in Russland Angriffskriege als Angriffskriege in den Berichterstattungsfokus nehmen mĂŒssten, egal von wem sie begangen werden, wĂ€re es fĂŒr die Aggressoren sehr viel schwieriger, wenn nicht unmöglich, sie durchzufĂŒhren, jedenfalls nicht in der Weise, wie sie es wollen und immer wieder tun.
Anmerkungen:
1.)
Hier sind einige AusfĂŒhrungen der Völkerrechtler zu drei zentralen Prinzipien. Die angefĂŒgten Zitate sind der gemeinsamen PrinzipienerklĂ€rung von Völkerrechtsexperten zum Selbstverteidigungsrecht (International Law Programme at Chatham House, UK, 2005) entnommen.
1. Es muss ein imminenter Angriff vorliegen, gegen den die AbwehrmaĂnahmen gerichtet sind. PrĂ€ventive VerteidigungsschlĂ€ge werden nicht gestĂŒtzt vom internationalen Recht.
âTo the extent that a doctrine of âpre-emptionâ encompasses a right to respond to threats which have not yet crystallized but which might materialise at some time in the future, such a doctrine (sometimes called âpreventive defenceâ) has no basis in international law. A fatal flaw in the so-called doctrine of prevention is that it excludes by definition any possibility of an ex post facto judgment of lawfulness by the very fact that it aims to deal in advance with threats that have not yet materialised.â
âThe fatal flaw in the new-minted doctrine of âpre-emptionâ is that it excludes by definition any possibility of an ex post facto judgement of lawfulness by the very fact that it aims to deal in advance with threats that have not yet come into existence; it is thus inherently self-justifying and can have no place in an ordered system of law. To make the general rule of self-defence into one that was in the last analysis self-judging would expose it to the same fundamental objection. How would such a rule protect the interests of a generally peaceable and law-abiding state against a hostile, lawless neighbour?â
âIn particular, in so far as a right of pre-emptive (or preventive) self-defence implies a departure from the requirement of imminence it has no basis in the law. Put another way, as Hans Blix did in his third Hersch Lauterpacht Memorial Lecture on 24 November 2004: âAlthough âimminenceâ may be a severe time requirement, âa growing threatâ would be an unacceptably lax criterion and would not tally with the generally accepted position that force should be used only as a last resort.ââ
2. Evidenz ist unabdingbar fĂŒr die LegalitĂ€t gewaltsamer Selbstverteidigung.
âThe self-defence rule cannot possibly mean that force is lawful whenever the state thinks that a particular application of force is necessary to deal proportionately with what it conceives to be a particular threat against it (immaterial whether the threat derives from an actual use of force or an imminent one) â even if âthinksâ is glossed to be âsincerely believesâ or even âvery sincerely believesâ; that would destroy its value and standing as a legal rule designed to balance the rights of both sides in a quarrel.â
âThe determination of âimminenceâ is in the first place for the relevant state to make, but it must be made in good faith and on grounds which are capable of objective assessment. Insofar as this can reasonably be achieved, the evidence should be publicly demonstrable. Some kinds of evidence cannot be reasonably produced, whether because of the nature or source, or because it is the product of interpretation of many small pieces of information. But evidence is fundamental to accountability, and accountability to the rule of law. The more far-reaching, and the more irreversible its external actions, the more a state should accept (internally as well as externally) the burden of showing that its actions were justifiable on the facts. And there should be proper internal procedures for the assessment of intelligence and appropriate procedural safeguards.â
âOn the question of the evidence necessary before a State can act by way of anticipatory self-defence, the threshold should be both high and, insofar as this can reasonably be achieved, the evidence should be publicly demonstrable.â
Notwendig sei â⊠real evidence that an attack is imminent sufficient to convince a detached bystander and not just someone who wants to be convinced.â
âThe existence of a campaign or the presence of an attack as understood above from non-state groups requires demonstration, to give rise to a right of self-defence at all. There was evidence of complicity of the Ugandan authorities with the hijackers in the Entebbe incident. To demonstrate the necessity of action against the territory of another state not directly responsible for the acts of the non-state group requires, inter alia, the demonstration that there is no other means of meeting the attack (and that this way will do so). The state potentially under threat might be persuaded to co-operate in the face of a legitimate threat to its territory but, save for the most compelling emergency, the territorial state is surely entitled to proceed first in its own way against an identified group on its territory. The Security Council might authorise action. It seems to me likely that satisfying the necessity test will be rare.â
3. Es hat zwar eine stillschweigende Erweiterung des Selbstverteidigungsrechts auch gegen nicht-staatliche Gruppen insbesondere nach 9/11 gegeben. Aber weiter gilt: Nur groĂdimensionierte Angriffe auf eigenes Territorium können sich auf das Recht auf Selbstverteidigung stĂŒtzen.
âIt is in this context (rather than that of an attack by a state itself) that it is relevant to consider the ICJâs (Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag, David) remarks in the Nicaragua judgment (supra note 2). At para. 195 the Court stated that: â⊠it may be considered to be agreed that an armed attack must be understood as including not merely action by regular armed forces across an international border, but also âthe sending by or on behalf of a State of armed bands, groups, irregulars or mercenaries, which carry out acts of armed force against another State of such gravity as to amount to (inter alia) an actual armed attack conducted by regular forces, âor its substantial involvement therein. â ⊠The Court sees no reason to deny that, in customary law, the prohibition of armed attacks may apply to the sending by a State of armed bands to the territory of another State, if such an operation, because of its scale and effects, would have been classified as an armed attack rather than as a mere frontier incident had it been carried out by regular armed forces.â
2.)
AngefĂŒgt sind einige offizielle BegrĂŒndungen fĂŒr den tĂŒrkischen Einmarsch in den Norden Syriens
âTurkeyâs foreign minister on Thursday slammed the presence of the YPG/PKK in northern Syria, saying that Turkeyâs possible Afrin operation came in response to the groupâs terrorist threat. âTurkey is subject to attacks every day from Afrin. It is our right to self-defense in line with international law to take measure against a terror group surrounding us on three sides, violating our rights, and we should intercede,â Mevlut Cavusoglu told news channel CNN Turk.â (AA News, http://aa.com.tr/en/politics/ankara-exercising-its-right-to-self-defense…)
âUsing northern Iraq as a safe haven, the PKK, however, has become one of the bloodiest terror organizations in the last three decades, claiming the lives of tens of thousands of Turkish citizens. This is the historical perspective that has pushed Turkey to attack the YPG.â âThe next stages of the anti-YPG fight will enter the pipeline only after Afrin is fully cleared. It is believed that the Afrin operation could take around five or six months. The next target is Manbij, in the western part of Euphrates, if the YPG elements are not withdrawn from the area in the following months. The U.S. had promised that the YPG would be pushed back to the eastern Euphrates after the city was captured from the ISIL but this never happened. However, it is beyond doubt that Turkey should focus on the eastern Euphrates part of Syria if it really wants to deal with the YPG problem. The YPG controls around 600 kilometers of the Turkish-Syrian border as well as a number of border gates between the two countries. Although it is too early to talk about these hypothetical aspects of the military operations, one assumes this massive campaign against terror will last much longer than one can forecast.â (Kommentar of Hurrieyet Daily News, http://www.hurriyetdailynews.com/opinion/serkan-demirtas/afrin-operation…)
âThe Netherlands said Tuesday that there have been enough signs for Turkey to exercise self-defense and launch the Operation Olive Branch in Syria’s Afrin to protect its borders. (âŠ) On Saturday, the Turkish military launched an operation on Afrin to clear its border of the PKK’s Syrian affiliate Democratic Union Party (PYD) and its People’s Protection Units (YPG) militia to prevent them from establishing an autonomous region, which Turkish officials call a „terror corridor,“ by connecting the northwestern Afrin canton to the Kobani and Jazeera cantons to the east. (Daily Sabah Diplomacy, https://www.dailysabah.com/diplomacy/2018/01/23/there-are-enough-signs-f…)
Ăhnliche BegrĂŒndungen gab es schon vor gut einem Jahr von Seiten der TĂŒrkei:
âSimilarly, in an op-ed for the Turkish newspaper The Daily Sabah, Mehmet Celik argues that the ambivalence of the West â in particular the United States â over Kurdish separatism has emboldened terrorists and made Turkeyâs task more difficult: Due to organic organizational links between the PKK and the PYD, Turkey also sees the PYD as a terrorist establishment in its borders, which Ankara has said numerous times it will not allow….Meanwhile, Yeni Birlik newspaper columnist Avni ĂzgĂŒrel said that many of Turkey’s internal problems also have international dimensionsâŠadding that the U.S.’s partnership, military and logistical support with the PYD in Syria, despite Turkey’s concerns, has encouraged the PKK terror group to carry out attacks against Turkey, the U.S.’s historic NATO ally.â
âThe terror wave Turkey faces today is not coordinated from within, but from an area in Syria which is under U.S. control. And if we rewind and go back to July 15, if things had gone as they had planned that night, all the plans they had foreseen for that region of Syria would have been actualized and thus a PYD terror corridor would have been established all the way to the Mediterranean.â (http://www.mepc.org/commentary/terror-attacks-and-assassination-turkey)
Bin jetzt 69 Jahre alt und ĂŒber 50 Jahre am arbeiten, aber habe in dieser Zeit noch nicht erlebt, dass die Politik fĂŒr mich irgendetwas positives getan hat! Es sind alles nur gross aufgemachte AnkĂŒndigungen und anschlieĂend kommt nichts heraus. Das was immer heraus kommt, ist mehr Geld fĂŒr Politiker, bei immer schlechteren Leistungen!