Wozu sind Kriege da? (2/2)
Krieg „rechnet sich“ mindestens so gut wie Sklavenhaltung, vorausgesetzt die gesetzlichen Kontrollmechanismen sind genügend aufgeweicht und alle Reste humaner Rücksichtnahme aus der Seele verbannt. So wird ein geschickter Geldanleger kaum gegen den Krieg demonstrieren, sondern vielmehr von ihm zu profitieren suchen, indem er zuerst in die Zerstörung und anschließend in den Wiederaufbau investiert. Der bekannte Zinskritiker Helmut Creutz schreibt in „Das Geld-Syndrom“: „Mit der Rüstung wird nicht nur das Kapital bedient, sondern auch gebunden, zutreffender: vom Markt genommen. Würde man das in die Rüstung, die Raketensilos, Kasernen und Kriegsschiffe investierte Kapital im zivilen Sektor einsetzen, dann wäre das Angebot an zivilen Gütern und Leistungen auf den Märkten deutlich größer. Ein größeres Angebot an Wohnungen, Konsumgütern usw. aber würde auf die Kapitalrendite drücken und schließlich – wenn das Kapital nicht streiken könnte – den Zins gegen Null sinken lassen.“ Ein solches Schreckensszenario mag man den bedauernswerten Zinsprofiteuren natürlich nicht zumuten.
Auch der Theologe Eugen Drewermann hat erkannt: „Wir können die Illusion wohl auch nicht aufrechterhalten, dass wir die aggressivste aller Wirtschaftsformen in Gestalt des Kapitalismus etablieren können und am Ende Frieden erwarten dürfen. (…) Kapitalismus besteht in nichts anderem, als dass wir – im Staat ebenso wie in der Wirtschaft – überhaupt nur investieren können durch Kreditaufnahme, durch Schuldenmachen. Dann müssen wir den aufgenommenen Krediten hinterherhetzen, plus Zinseszinsspirale.“ Drewermann beruft sich dabei vehement auf die Ethik der Bergpredigt: „Reagiert nicht auf das Böse“, so legt er die Worte Jesu aus, „indem ihr euch von der Aktion die Gegenreaktion vorschreiben lasst, denn dann bleibt ihr innerhalb der Gefangenschaft des gleichen Handlungsniveaus, ihr kommt aus der Blutmühle von Gewalt und Gegengewalt niemals heraus.“
Die „Blutmühle“ wird in Gang gehalten von einer ebenso simplen wie barbarischen Prämisse: Das, was mir angetan wurde, soll auch dem anderen angetan werden. Auch anderen großen Denkern außerhalb des christlichen Kulturkreises wollte diese „Logik“ nicht so recht einleuchten: Mahatma Gandhi äußerte etwa: „Es ist nicht erkennbar, wieso es mich erleichtern soll, wenn ein anderer den gleichen Schmerz empfindet wie ich. Es gibt dann doch niemanden, der weniger leidet. Es gibt lediglich zwei Menschen, die gleich viel leiden. Wem aber hilft das?“ Über Feindbilder sagte Gandhi: „Gegen wen könnten wir Feindschaft hegen, wo doch Gott selbst sagt, dass er in allen Lebewesen wohnt?“ Der unlängst verstorbene Wissenschaftler und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker gab sogar zu Protokoll, „ein radikaler Pazifismus sei das „christlich einzig Mögliche.“
Muss man sich aber gleich zum „Pazifisten“ erklären, um die Unmenschlichkeit des Krieges anzuklagen? Genügt es nicht, ganz allgemein „ein bisschen für den Frieden zu sein“ und sich das Hintertürchen zur notgedrungenen Gewaltanwendung (analog zur Notwehr oder Nothilfe) offen zu halten? Ich habe hohe Achtung vor Menschen, die auf solche Fragen keine vorschnelle, einfache Antwort geben. Auf die Frage, ob ich unter bestimmten Umständen zu Gewalt greifen würde, antworte ich auch oft mit „Ich weiß es nicht“. Ich glaube aber, viele der populärsten Argumente gegen den Pazifismus beruhen auf Missverständnissen – oder auf leicht durchschaubarer Propaganda seitens der Bellizisten.
Argument 1: „Wer einem Hilfsbedürftigen privat beistehen würde, muss auch bereit sein, in den Krieg zu ziehen.“
Ein solches Argumentationsschema ist aus den Fragekatalogen für Kriegsdienstverweigerer bekannt: „Stellen Sie sich vor, Ihre Frau wird auf der Straße von einem Vergewaltiger angegriffen. Würden Sie Gewalt anwenden, um das Verbrechen zu verhindern?“ Die Frage ist m.E. nicht sehr schwer zu beantworten. Es wäre angemessen und auch emotional mehr als verständlich der Frau zu helfen – notfalls auch mit Gewalt. Dabei wäre es zu vermeiden, den Angreifer zu töten, denn es handelt sich wahrscheinlich um ein krankes, verirrtes Wesen, und welches noch so schwere Delikt „verdiente“ die Auslöschung eines Lebens? Die Frage ist nur, ob ich verpflichtet bin, für ein Abstraktum wie mein „Vaterland“ dasselbe zu tun wie für meine Frau.
Ich hatte vor die Gelegenheit, Konstantin Wecker zu diesem Thema zu interviewen. Konstantin antwortete auf die erwähnte Fangfrage: „Solange ich das wirklich ganz allein entscheiden kann, ist es etwas anderes, als wenn ich irgendeinem General oder Führer vertraue, dass er für mich die richtige Entscheidung trifft. Wann kann ich denn sicher sein, dass wir uns wirklich in einer Situation der Verteidigung befinden? Wir werden in den Medien ja ständig manipuliert, und wenn es darum geht, Kriege zu führen, werden wir ausschließlich belogen.“
Argument 2: „Nur wer sich persönlich vollkommen friedlich und harmonisch verhält, hat das Recht, Pazifist zu sein.“
Unser politisches und wirtschaftliches Establishment hat zwar keine Probleme damit, die Freiheit mit Unfreiheit (also durch Drill auf dem Kasernenhof) zu verteidigen, es legt aber größten Wert darauf, dass für den Frieden keinesfalls anders als friedlich demonstriert wird. Die Medien verspotten den Pazifisten gern als „Softie“ und „Feigling“, wenden aber jede Anwandlung von gerechtem Zorn sofort gegen den Kriegsgegner. Konstantin Wecker, der als Künstler für sein vehementes, kraftvolles Auftreten bekannt ist, sagte zu diesem Thema: „Wer für den Frieden ist, ist nicht unbedingt ein durchgehend sanftes Wesen, das nur mit leiser Stimme spricht und mit Birkenstocksandalen durch die Gegend schleicht. Da ist es auch ganz gut, dass mal so ein Typ wie ich mit aller Gewalt für Gewaltfreiheit eintritt.“ (Wobei mit „Gewalt“ hier Vehemenz, nicht physische Gewalt gemeint ist.)
Auch der Friedenspsychologe Gert Sommer legt Wert darauf, dass es nicht genügt, für den Frieden ab und zu ein Kerzchen ins Fenster zu stellen. Gerade spirituell motivierte Menschen argumentieren ja gern: „Der Friede beginnt in dir“. Leider hilft es nicht viel, wenn der Friede im eigenen Herzen beginnt, um genau dort auch zu enden. Er muss nach außen getragen werden, um gesellschaftliche Realität zu werden. Prof. Sommer mahnt ein politisches Engagement an, das auch die Auseinandersetzung mit den Kriegsbefürwortern nicht scheut. „Mit sich selbst im Frieden zu sein ist auch schön. Aber selbst wenn 99 % der Weltbevölkerung im Frieden sind und 1 % ist es nicht, dann reicht das völlig aus, um Kriege zu führen.
Argument 3: „Krieg ist die unvermeidliche Folge der allen Menschen innewohnenden Aggression.“
Junge Männer ziehen nicht in den Krieg, um sich mal „auszutoben“, sondern weil sie manipuliert, missbraucht und zum Kriegsdienst gezwungen werden. Krieg, gerade moderner Krieg, setzt äußerste emotionale Kälte und Präzision voraus, nicht das Ausagieren „heißblütiger“ Impulse. Die These von der „wölfischen Natur“ des Menschen, der, einem inneren Automatismus folgend, Gräueltat auf Gräueltat häuft, ist irreführend und verschleiert die Bedeutung ganz rationaler politischer und wirtschaftlicher Interessen bei der Kriegsvorbereitung. Eugen Drewermann: „Krieg ist nicht die Summation der unausgetragenen aggressiven Potentiale in der Seele beliebig vieler Individuen. Man kann Krieg nicht betrachten als die Kondensation vieler Wassertröpfchen im angeheizten Kessel, der schließlich bei Überdruck explodiert. Ganz im Gegenteil, die Menschen werden auf Staatsbefehl hineingezogen in ein organisiertes Morden, hinein in einen Staatsschlachthof, mit dem sie, ginge es nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen, nichts zu tun haben würden.“
Was also ist ein Pazifist? Der Humorist Gerhart Polt gab in seiner unnachahmlichen Art folgende paradoxe Weisheit zu Protokoll: „Diese Pazifisten haben ja noch nie einen Krieg verhindert. Oden können Sie mir einen Krieg nennen, den die verhindert haben?“ Dieser satirische Seitenhieb gegen die unqualifizierte Vorverurteilung des Pazifismus hat einen ernsten Kern. Da konsequenter Pazifismus noch nie – in keinem Land der Erde – an der Regierung war, kann man auf keine historischen Erfahrungen zurückblicken, die seine Wirksamkeit dokumentieren könnten. Gegner können auf diese Weise leicht von „abenteuerlichen Utopien“ sprechen, deren Scheitern an der rauen Wirklichkeit vorprogrammiert ist. Das Sicherheitsbedürfnis einer Bevölkerung, die sich „lieber in bekannten Höllen als in unbekannten Himmeln“ aufhält, lässt sich allzu leicht zu Ungunsten des Pazifismus aktivieren. So als ob es nicht ein großes, ja für viele potenzielle Kriegs- und Terroropfer mörderisches Risiko beinhalten würde, wenn liebedienerische deutsche Politiker den USA in jedes ihrer militärischen Abenteuer hinterher stolpern.
Der Pazifismus ist alles andere als ein Ausweichmanöver ins Reich der Utopien, aber er wird ein Zukunftsprojekt bleiben, solange ihm die faktische Machtfülle des politisch-militärisch-industriellen Komplexes die Erprobung seiner Thesen in der Gegenwart verweigert. „Der Pazifismus ist nicht die Utopie von Blauäugigen und ewig Gestrigen“, schreibt Drewermann, „er war und ist die Antizipation der einzigen Form von Zukunft, die uns Menschen auf dieser Erde beschieden ist.“