Wundervolle Gedichte über eine furchtbare Zeit

 In Buchtipp, FEATURED, Holdger Platta

Zu Holdger Plattas Lyrikband „Ruhmesblätter mit Linsengericht“. HdS stellt hiermit die erste Buchbesprechung von „Ruhmesblätter mit Linsengericht“ vor, dem Gedichte-Zyklus, der vor wenigen Wochen im Ludwigsburger Pop-Verlag erschien. Es handelt sich um einen Rückblick vor allem auf die Fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, auf ein Jahrzehnt, das noch aufs stärkste geprägt war vom „Beschweigen“ und Verdrängenwollen dessen, was während des Dritten Reichs in Deutschland geschah. Mit der Wahrnehmungsfähigkeit eines Kindes und mit dem Wissen des Erwachsenen beschwören diese Gedichte persönliche und politische Erinnerungen an diese Zeiten gleichermaßen herauf. Geschrieben hat diese Buchbesprechung Ulrike Spurgat, die ganz ersichtlich diese Zeiten aus eigener Erfahrung kennt und mit großer Kompetenz und spürbarer Sensibilität zu erfassen vermag, was Holdger Platta mit diesen Lyrik-Band wiedervergegenwärtigen wollte: Menschen und Zeiten, die sich den Unmenschlichkeiten der eigenen Vorgeschichte nur unzureichend zu stellen vermochten – wenn überhaupt. Rezension: Ulrike Spurgat, Vorspann: HdS-Redaktion

 

September , die Tage werden kürzer, das Herbstlaub fliegt von den Bäumen, beim Kastaniensammeln tauchen Bilder aus der eigenen Kindheit wieder auf –  und da gibt es unverhofft ihn, den Jungen aus dem Lyrik-Band “Ruhmesblätter mit Linsengericht”, der mir seine Welt der Fünfziger Jahre in Erinnerung bringt, eine Welt, die für ihn, den Jungen aus einem sehr armen Elternhaus, wenig mit dem „Wirtschaftswunder“ der damaligen Zeit zu tun hatte. Ich betrete ein Erzähl-Gedichte-Haus, das mehrere Zimmer zum Verweilen bereithält, mich einlädt, Zeit mit diesem Jungen zu verbringen und ihm zu folgen in ein “fremdes Land”, wo braunes Schweigen die Zeiten verklebt hatte, Zeiten, die nicht vergangen sind, und wo sich das Vergessen über das verwundete Land legen sollte, über den Schmerz und die Scham, über die Verzweiflung, die Not und das Elend, über den Verlust von Menschen und Menschlichkeit nicht zuletzt. Eher leicht wird das alles beschworen, unsentimental.  Und dennoch werden wir, sehr präzise und erlebnisnah, mit einem “fremden Land” konfrontiert, mit einem kalten Land, mit einem untröstlichen Gestern.

Der Junge erkennt die Widersprüche seiner Zeit, die Lügen, die Missgunst und den Neid, das Ausgegrenztsein, das Nichtdazuzugehören… Aber zu welchen Menschen hätte er gehören sollen? Zu denen, die hinter seinem Rücken tuschelten? Zu denen, die immer noch die alten Propagandaphrasen hinausposaunten? Zu denen, die unfähig waren, dem Menschen ein Freund zu sein und dem Jungen, dessen Eltern mit ihm aus Niederschlesien geflüchtet und im Ruhrgebiet gelandet waren und deswegen allesamt als „Polacken“ beschimpft wurden, das an „verlorenem Leben“ zurückzugeben, was uns Menschen zum Menschen macht: Liebe und Mitgefühl?

Dennoch: der suchende und fragende Junge begibt sich mitten in sein Leben hinein, mitten hinein in eine Kindheit der Fremdenfeindlichkeit, und er tut dies voller Ängste und mutig zugleich: auf dem Weg in seine Geschichte innerhalb der großen Geschichte.

Beim Lesen und Eintauchen in eine auch mir vertraute Zeit bleibe ich stehen… ich weiß gar nicht, wo genau, weil mich seine erlebte Zeit gefangen nimmt und ich einfach von einem Zimmer in das nächste wandere, den Jungen an der Hand, der mir mit seiner Sicht auf das Erlebte in seinen wunderbaren Erzählgedichten ernst und wissend die Türen öffnet und mich verstehen lässt, was es bedeutet hat, nicht im Strudel der Geschichte verlorengegangen zu sein….

Lauschend lese ich und vergesse dabei die Zeit, Pfannekuchen mit Äpfeln sollte es geben, und Elias steckt seinen Kopf zur Türe rein und grinst. “Heute wird später geschmaust“, grinse ich zurück. Wissend schließt er die Türe hinter sich.

Der Krieg ist allgegenwärtig, immer noch. Sein Schatten lebt fort in der Lyrik von Holdger Platta, der seinen Erzählgedichteband zur richtigen Zeit und an einem richtigen Ort uns Lesern zu einem Geschenk macht, zu einem Geschenk, das dieses Gestern mit dem Heute und dem Morgen verknüpft und leise dabei auf seinem  “Nie wieder!“ besteht – mit einem besonderen Klang der Sprache, mal leise, mal traurig, mal fragend, mal am Rande fast des Verstummens. Sein Wunsch ist, die Welt der Erwachsenen verstehen zu wollen, also bleibt er, der allmählich heranwachsende Junge, dem Leben auch zugewandt, und er wird zu einem Jungen, der sein Leben mehr und mehr verstehen lernt, zu einem Jungen,  der aufbricht, um zu leben in einer Gesellschaft, die erst viel später begreift  – oder auch gar nicht -, was hier mitgeteilt wird, ohne Selbstmitleid und falsche Sentimentalität.

In dem Lyrikband begegne ich auf Seite 29 dem Gedicht “Kein einziges Brillengestell”. Was für eine Geschichte, die uns der Junge da erzählt:  über eine Streuobstwiese, über den Opa, über ein Hühnervolk, über die Kurische Nehrung, über Fluchtgepäck, über Tränen, und über “kein einziges Brillengestell”. Was für ein wunderbar anmutendes Buch! Man wird in eine andere Zeit versetzt… und schon öffnet der Junge die nächste Tür, schon öffnet sich in dem Haus, wo hinter der einen Tür die vorherige Geschichte noch weitergeht, die Tür zu einem weiteren Gedicht, auf Seite 39, “Ruhmesblätter mit Linsengericht”.

Ein “Album mit Zigarettenbildern” lässt die Fragen zu, was die mit dem Buchtitel wohl zu tun haben? Zigarettenbilder auf dem Schoß, der Alte Fritz im Siebenjährigen Krieg, der Junge und die Linsensuppe, und der Nebel, und die Angst, und die “Ruhmesblätter Deutscher Geschichte, “der Junge friert fast vor Hunger”, „Und ich sitz am Tisch und esse Klops”. Trauer schwingt beim Lesen mit.

Der Leser wird mitgenommen in eine Zeit, da Leben wieder kostbar wird, obwohl den Engeln die Flügel verbrannten  und der Junge herzzerreißend auf Seite 63 das angebliche “Von nichts gewusst” wieder in Erinnerung ruft:

…Leichenberge, Buchenwald, “Herztöne der Angst”, “Tränen im Gesicht”, gedämpfte Kneipen-Gespräche, Hausdurchsuchungen, Menschen in dicken Mänteln auf Ladeflächen, und das mitten im Sommer… “Im Schatten von Auschwitz verschwinden die Gründe”.

Holdger Platta bringt eine Zeit zum Klingen, die noch Generationen nach Faschismus und Krieg für viele Menschen der Anlass ist, der Geschichte zu entfliehen oder der Geschichte entfliehen zu wollen. Umso wichtiger ist dieser Gedichtband, den ich mit großer Begeisterung, Schmerz und Trauer gelesen habe. Und ich erkenne, dass wir Menschen mit unseren Geschichten einmalige Wesen sind, die manchmal nur etwas, manchmal auch ganz vieles zu erzählen und zu sagen haben, auch für die kommende Generation.

Mit großer Anteilnahme und mit großem Dank las ich diese Gedichte, eine Lyrik voll menschlicher Wärme, die dennoch die Kälte der Fünfziger Jahre in der Bundesrepublik spüren lässt, wieder und wieder – sodass sogar wir Leser und Leserinnen zu frieren beginnen, obwohl die Menschlichkeit dieser Texte überall zu spüren ist.

Für mich ein dringend empfehlenswertes Buch!

 

Holdger Platta: Ruhmesblätter mit Linsengericht. Erzählgedichte. Pop Verlag Ludwigsburg 2022. ISBN 978-3-86356-366-0. 88 Seiten. 12,80 Euro

 

 

Kommentare
  • Freiherr
    Antworten
    …auch ich finde mich da wieder, in dieser Lyrik, die tief und schwer ist ( positiv ! ).

     

     

     

     

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