Zärtliche Revolution

 In FEATURED, Politik, Spiritualität

Gerald Hüther, Bildquelle: http://www.gerald-huether.de/

Was macht eine menschlich gewordene Gesellschaft aus? Ob wir es vor uns selbst oder vor anderen zuzugeben bereit sind oder nicht: Wir Menschen sind keine Einzelkämpfer. Als Einzelne könnten wir nicht einmal überleben, geschweige denn uns weiterentwickeln. Wir sind soziale Wesen und deshalb brauchen wir eine verlässliche Gemeinschaft mit anderen Menschen, um die in uns angelegten Potentiale zu entfalten. Weil unser menschliches Gehirn aber so stark durch die jeweiligen individuellen Erfahrungen geprägt wird, die jede und jeder von uns im Leben macht, ist jeder Mensch einzigartig. Wir sind also alle ganz unterschiedlich. Haben verschiedene Auffassungen, vertreten verschiedene Ansichten, verfolgen unterschiedliche Interessen und Ziele, erleben bei unterschiedlichen Anlässen Freude oder Angst. Deshalb brauchen wir etwas, das uns trotz aller Unterschiedlichkeit hilft, unser Zusammenleben nicht nur erträglich, sondern fruchtbar zu machen. Doch reicht eine gemeinsame Sprache, reicht eine Regierung und reichen Gesetze hierfür aus? Insbesondere in einer „globalisierten“ Welt? (Gerald Hüther)

Wie hältst Du es mit der Religion?“ hatte Goethe in seinem Faust das mit dem Herzen sehende Gretchen ihren von Mephisto verführten Geliebten fragen lassen. Damals war das Leben um Weimar herum noch überschaubar. Wer von Religion sprach, meinte das Christentum. Geistliche und weltliche Herrscher bestimmten, was erlaubt und was verboten war. Das Zusammenleben der Menschen war bestimmt von historisch gewachsenen sozialen Ordnungen. Und die hielten die meisten für gottgegeben und damit unveränderbar. Für freie Geister, wie diesen Dr. Faustus, war eine solche Welt schon damals viel zu eng. Er wollte wissen, was sie im Innersten zusammenhält. Deshalb hatte er ja diesen fatalen Pakt mit dem Teufel geschlossen.

Heute leben wir in einer von dieser geistigen Enge befreiten, globalisierten, digitalisierten und rund um den Globus vernetzten Welt. So steht es jedenfalls in den Zeitungen. „Fack ju Göhte“ ist zu einem der erfolgreichsten Kinofilme der letzten Jahre geworden. Er zeigt aber nicht nur, wie es in unseren Schulen zugeht, denn die sind ja immer nur ein Abbild der jeweiligen Beschaffenheit und des inneren Zusammenhalts einer Gesellschaft.

Wie viele Menschen können mit der Gretchenfrage heute überhaupt noch etwas anfangen? Manche verstehen nicht genug Deutsch. Manche wissen nicht, was mit dem gemeint ist, was sie dazu auf Wikipedia finden. Manche fragen auch berechtigterweise zurück, welche Religion denn hier von diesem Gretchen gemeint sei. Was den besessenen Faust damals noch etwas irritiert hatte, stößt heute bei den meisten Menschen auf schulterzuckendes Unverständnis. Sogar Christen tun sich schwer mit einer klaren Antwort. Die Welt ist für so eine einfache Frage ganz offenbar zu kompliziert geworden.

Der Dalai Lama hat deshalb unlängst vorgeschlagen, der Ethik einen höheren Stellenwert einzuräumen als der Religion. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, eine über alle Religionen hinausreichende und in allen Religionen enthaltene ethische Dimension zur Grundlage unseres künftigen menschlichen Zusammenlebens machen zu können. Manche versuchen es auch mit moralischen Apellen.

Aber sind ethische oder auch moralische Maßstäbe hierfür wirklich geeignet? Wird nicht das, was die Menschen in dem einen Kulturkreis als ethisch korrekt und moralisch rechtens betrachten, in einem anderen Kulturkreis ganz anders bewertet? Ethische und moralische Vorstellungen waren schon immer von dem bestimmt, was die Mehrzahl der Mitglieder einer Gemeinschaft für richtig und notwendig hielt. Und das war niemals überall gleich und hat sich auch bei uns immer wieder verändert. Die Nazis hatten auch eine Moral und eine Ethik, aber das war eine andere als jene, die wir heute für geeignet halten. Und die ethischen und moralischen Werte, die von den Anhängern des gegenwärtigen US-amerikanischen Präsidenten vertreten werden, möchten die meisten hier bei uns wohl kaum zur Grundlage ihres Handelns machen.

Aber als soziale Wesen brauchen wir Menschen irgendetwas, das uns hilft, unser Zusammenleben in geordnete Bahnen zu lenken und fruchtbar zu machen. Interessanterweise haben die über Jahrtausende hinweg entwickelten, sehr klar definierten und so gut wie möglich abgesicherten hierarchischen Ordnungen genau das geleistet. Sie erwiesen sich als sehr geeignet, um das Zusammenleben von Menschen zu steuern und sind deshalb in alle gesellschaftlichen Bereiche vorgedrungen. In Familien, Unternehmen, im Militär sowieso. Sogar die Kirchen sind hierarchisch organisiert. Ohne solche hierarchischen Ordnungsstrukturen hätten unsere Vorfahren weder einen Krieg führen noch ihr Hab und Gut schützen können. Entstanden sind sie sehr wahrscheinlich mit der Sesshaftwerdung, also vor etwa zehntausend Jahren.

Die hierarchische Strukturierung einer Gesellschaft gewährleistet aber nicht nur ein einigermaßen geordnetes Zusammenleben ihrer Mitglieder. Sie haben auch einen interessanten Nebeneffekt: In allen Hierarchien strengen sich die auf den unteren Etagen gelandeten Menschen mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Fähigkeiten enorm an, um durch besondere Leistungen auf der Stufenleiter dieser Hierarchien etwas weiter nach oben aufzusteigen.

Sie erzeugen etwas, sie entdecken etwas, sie erfinden etwas – kurz: Sie bringen ständig etwas Neues in die Welt, neues Wissen, Entdeckungen, Erfindungen und innovative Technologien. Diesem Umstand verdanken wir all das, was wir heute als wissenschaftlich-technische Entwicklungen begrüßen, als ökonomische und soziale Errungenschaften feiern, auch das, was wir als ständige Erweiterung unserer Möglichkeiten erleben und was viele für einen Gewinn an Freiheit halten. Zwangsläufig wird aber durch all diese Leistungen und Fortschritte die Lebenswelt der Menschen zunehmend komplexer. Denn jede dieser Erfindungen, Entdeckungen oder neu entwickelten Produkte breitet sich ja sehr schnell in der Gesellschaft aus.

Inzwischen ist absehbar – und wird in manchen Bereichen auch schon recht offensichtlich –, dass unser Zusammenleben in dieser so entstandenen hochkomplexen Welt durch hierarchische Ordnungen nicht mehr steuerbar ist. Deshalb beginnen sich diese Strukturen in unserer gegenwärtigen vernetzten, globalisierten und digitalisierten Welt nicht nur in Familien und Kommunen, auch in Unternehmen und Organisationen zunehmend spürbarer aufzulösen. Scheinbar gewinnen die Menschen dadurch mehr Freiheit und es eröffnen sich ihnen bisher ungeahnte neue Möglichkeiten. Aber unser Zusammenleben ist dadurch nicht leichter geworden. Im Gegenteil . Die Verunsicherung wächst und die soziale Ordnung wird zunehmend instabiler. Als Einzelne oder eingebunden in Gruppen von Gleichgesinnten versucht eine wachsende Zahl von Menschen, ihre jeweiligen Interessen möglichst erfolgreich auf Kosten anderer durchzusetzen.

Deshalb gibt es jetzt so viele verunsicherte Bürger, die sich eine Wiederherstellung der alten, verlorengegangenen hierarchischen Ordnung wünschen. Oder die nach strengerer Einhaltung der innerhalb dieser Ordnung geschaffenen und diese Ordnung bisher gewährleistenden gesetzlichen Regelungen rufen. Oder nach mehr Moral und Ethik in Politik und Wirtschaft. Aber hierarchische Ordnungsstrukturen können ja nur dann wieder funktionieren, wenn wir unsere Welt wieder so einfach und überschaubar machen, wie sie einmal war. Herbeiführen lässt sich das beispielsweise durch einen möglichst zerstörerischen Krieg.

Wenn wir diesen Weg der Selbstzerstörung vermeiden wollen, bleibt uns nur die Möglichkeit, uns gegenseitig dabei zu helfen, uns dessen bewusst zu werden, was unser eigentliches Menschsein ausmacht. Wir müssten einander also ermutigen, in uns selbst so etwas wie einen inneren Kompass zu entwickeln, der uns Orientierung für die Gestaltung eines menschenwürdigen Zusammenlebens bietet:

So bleibt uns auf der gesellschaftlichen Entwicklungsstufe, auf der wir inzwischen angekommen sind, nun wohl nichts anderes übrig, als zu der Einsicht zu kommen, dass es bei der Gestaltung unseres Lebens und unseres Zusammenlebens mit anderen Menschen, auch mit allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten, nur um eines gehen kann: um die Wahrung unserer eigenen Würde, die den Kern unserer Menschlichkeit ausmacht. Denn wer sich seiner eigenen Würde bewusst geworden ist, kann die Würde anderer nicht mehr verletzten. So jemand stellt sich anderen nicht mehr als Objekt für die Verfolgung von deren Interessen zur Verfügung. Solche Menschen sind auch nicht mehr verführbar. Und sie machen auch keinen anderen zum Objekt ihrer Interessen und Absichten, ihrer Erwartungen und Bewertungen, ihrer Belehrungen und Maßnahmen. Das wäre unter ihrer Würde.

Wie schrieb Richard Beauvais hierzu so treffend?

„Wir sind hier, weil es letztlich kein Entrinnen vor uns selbst gibt. Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Solange er nicht zulässt, dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich selbst noch andere erkennen – er wird allein sein. Wo können wir solch einen Spiegel finden, wenn nicht in unseren Nächsten? Hier in der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig klar über sich selbst werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der – Teil eines Ganzen – zu ihrem Wohl seinen Beitrag leistet. In solchem Boden können wir Wurzeln schlagen und wachsen; nicht mehr allein – wie im Tod –, sondern lebendig als Mensch unter Menschen.“

„Zärtlichkeit und Wut“ schließen sich dabei, wie Konstantin Wecker es singt, alles andere als aus. Sehr wohl kann man als Mensch nämlich „zärtlich wütend“ sein, aus Liebe, Achtung und Respekt für sich und andere:

„Die Wut in unser Herz zu bringen ist nicht nur ein Akt der Liebe für uns selbst, sondern für alle Lebewesen, da eine solche Praxis die Chancen erhöht, dass wir nicht zulassen, dass unsere Wut zu Aggressivität, Feindseligkeit und Hass mutiert, sondern vielmehr in eine in Mitgefühl zentrierte Aktivität. Indem wir unsere Wut weder verbannen, noch destruktiv nutzen, bewegen wir uns ein wenig näher dazu, die Liebe zu sein, die wir uns so sehr von anderen wünschen. Wut kann Liebe sein – lassen wir zu, dass es so sei.“

Wie hilfreich sind also angesichts dieser durch uns zu gestaltenden Zukunft all die bisher gestellten alten Fragen? Haben uns die endlosen Debatten darüber, was für moralische und ethische Maßstäbe, welche Religion oder welche gesetzlichen Regelungen wir brauchen, in irgendeiner Weise dabei geholfen, Hunger und Krieg, den daraus erwachsenen Flüchtlingsströmen, dem Klimawandel oder dem Artensterben endlich Einhalt zu gebieten? Lautet nicht daher die entscheidende Frage, die wir uns künftig gegenseitig stellen müssten: „Wie halten Sie es mit Ihrer Würde? Ist das, was Sie tagtäglich tun und wie Sie Ihr Zusammenleben mit anderen Menschen gestalten, mit Ihrer eigenen Würde vereinbar?“

Meine persönliche Antwort lautet: „Ich versuche es und ich werde es jeden Tag weiter versuchen, auch wenn es mir nicht — noch nicht — immer gelingt.“ Ganz allein und inmitten all der Würdelosigkeiten, die unser Zusammenleben in so vielen Bereichen bestimmen, ist das auch nicht so leicht. Deshalb haben wir im Rahmen der Akademie für Potentialentfaltung eine Initiative gestartet, die den Aufbau von „Würdekompass-Gruppen“ in möglichst vielen Städten und Gemeinden unterstützt und alle Bürger einlädt, sich gemeinsam auf den Weg zu machen, um unser Leben und unser Zusammenleben endlich würdevoller zu gestalten als bisher.

 

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Dank für den Tipp an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist

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