Zwischen den Fronten – immer noch? (2/2)

 In Holdger Platta, Politik (Ausland)

Anmerkungen zur Erinnerungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel der „Kriegskinder“-Debatte. Dieser Text von Holdger Platta enthält quasi die Langfassung des Vorwurfs, den der Autor in seinem letzten Aphorismus gegen den Friedenspreisträger Martin Walser erhoben hat. Im ersten Teil hatte sich der Autor mit der Welle der „Kriegskinderbücher“ auseinander gesetzt und ihnen bescheinigt, nicht grundsätzlich des Geschichtsrevisionismus verdächtig zu sein. In diesem zweiten Teil nimmt Holdger Platta Walser selbst ins Visier. Dieser erweckte in seiner “Paulskirchenrede” (1998) den Eindruck, jegliche Gedenkkultur bzw. die Wachsamkeit gegenüber neuem Antisemitismus und Faschismus anschwärzen zu wollen und wurde so zu einem Vorläufer des “Man wird doch wohl noch sagen dürfen…”-Diskurses der Sarrazin- und Höcke-Ära. (Holdger Platta)

„Erinnerungspolitik von rechts“, auf diesen Vorwurf läuft im Kern der Vorwurf des Hamburger Wissenschaftlers Naumann an die Adresse der genannten Wissenschaftler und Publizistinnen hinaus. Und dass es so etwas gibt, habe ich ja an einem anderen Beispiel selber dargestellt, in meiner Analyse der Buchpublikation „Die selbstbewusste Nation“, 1994 herausgegeben im Berliner Ullstein-Verlag von den Journalisten Heimo Schwilk und Ulrich Schacht (siehe dazu Platta 1998, S. 171ff.!). Aber gibt es nicht auch das Pendant zu dieser „rechten Erinnerungspolitik“? Und mengt sich nicht auch dieser Vorwurf in die Debatten ein: es gäbe in der Bundesrepublik so etwas wie eine „Erinnerungspolitik von links“? Und die „Sprechergruppe“ und Verabredungen dieser „Fraktion“ belasteten das öffentliche Gespräch über die NS-Zeit mindestens so stark, wie es – Naumann zufolge – die „geschichtspolitischen Manöver“ der angeblich Rechten tun?

International gibt es ja schon seit längerem den einschlägigen Slogan dafür: „There’s no Business like Shoah-business“ – ganz so, als ob der Holocaust ein Musical gewesen wäre (denn auf ein solches, auf einen Songtitel aus „Annie, get your gun!“, geht dieser zynische Slogan zurück). Und mit diesem Vorwurf, es gehe beim Erinnern an die Ermordung der europäischen Juden nur um’s Geldverdienen, werden seit Jahren der Staat Israel und der Weltrat der Juden, Regisseure wie Steven Spielberg („Schindlers Liste“, 1993) und Claude Lanzmann („Shoah“, 1985), Autoren wie Eli Wiesel und Daniel Goldhagen überzogen (Nichtjuden – ich komme darauf zurück – werden als gehorsame „Meinungssoldaten“ abgetan). Merkwürdig ist das natürlich schon: in einer zunehmend von den „Raubtiergesetzen des Kapitalismus“ beherrschten Welt – so sehen das unter anderem Helmut Schmidt, die weltweit-vernetzte globalisierungskritische Organisation Attac und der Schweizer Autor Jean Ziegler (siehe Literaturverzeichnis!) – wird das Geldverdienen an einem bestimmten Punkt urplötzlich zum Skandal: dort, wo es um Erinnerung geht, um Erinnerung an millionenfachen Mord. Dieser Propaganda zufolge scheint es nichts Schlimmeres zu geben als Gelderwerb, der zugleich auch humanitären und aufklärerischen Zwecken dient. Und was hat das mit unserem Thema zu tun?

Zweierlei: erstens gibt es höchstrenommierte Vertreter dieser „Denkschule“ auch in der Bundesrepublik, seit 1998 zumindest, und zweitens sollten sich alle, denen an einem zweifelsfreien Projekt „Kriegskinder“ liegt, überlegen, ob sie ausgerechnet diesen Sonntagsredner zu ihrem Gewährsmann machen wie leider an einer Stelle in diesem Buch geschehen. Es könnte sonst sein, daß Beiträger, die sich derart verrennen, mit beitragen zu den Befürchtungen eines Klaus Naumann und damit zum Entgleisen eines öffentlichen Dialogs. Destruktive Differenzen zwischen Menschen entstehen stets dann besonders leicht, wenn jeweils die Differenzierungen verlorengehen. Bode und Lorenz, Schulz und Radebold haben in ihren Arbeiten gezeigt, dass sie zu Differenzierungen fähig sind; die ihnen unterstellten Einseitigkeiten oder Vereinseitigungen gibt es nicht. Doch wenn ich festgestellt habe, dass sich im Beitrag Naumanns diese innere Differenzierung nicht auffinden läßt – bei allem Verständnis für die Überbesorgnis des Hamburger Sozialwissenschaftlers – , so muss ich doch andererseits feststellen dürfen, dass es auch auf der Befürworterseite des „Kriegskinder“-Projekts einige undifferenzierte Äußerungen gibt, vor denen diese Arbeit zukünftig bewahrt bleiben sollte. Aber der Reihe nach (und mit den ersten Feststellungen lüfte ich ganz sicher kein Geheimnis mehr):

Selbstverständlich habe ich mit dem bundesdeutschen Vertreter jener Denkschule, die mit der Erinnerungsarbeit zum Thema Holocaust nur noch sachfremde Zwecke zu assoziieren vermag, Martin Walser gemeint. Und die Rede ist natürlich von jener Rede, die der berühmte Autor am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt, aus Anlass der Überreichung des „Friedenpreises“ an ihn, zuerkannt vom Börsenverein des deutschen Buchhandels. Doch zunächst im Sinne des eigenen Differenzierungswunsches gesagt: eindeutig gab es in dieser Ansprache Aussagen, die vollkommen unzweideutig sind:

  • „Auschwitz“, das ist und war für Walser auch an diesem Tag „die unvergängliche Schande“;
  • „kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz;
  • kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum“;
  • „unbestreitbar“ gehöre es zu den „Gewissensthemen der Epoche“;
  • und wer es heute anspräche, diene damit „immer guten Zwecken“, „ehrenwerten“… (alle Zitate aus der Walser-Rede hier und im Folgenden nach: <a href=”http://www.literatur-seiten.de/walser.htm”>www.literatur-seiten.de/walser.htm</a>)

Nun mag man, bei besonderer Empfindlichkeit vielleicht (gerade auch gegenüber der Sprache des empfindlichen Sprachvirtuosen Walser, in Kenntnis seiner Bildung und Diktion), bei der letzten Formulierung womöglich doch schon etwas Unbehagen verspüren: „immer“ gute Zwecke sollten es sein, die Menschen von Auschwitz sprechen ließen – ist das nicht fast schon eine Vokabel des Überdrusses, nicht schon eine Lobesdrehung zu viel? Und schwingt da beim altfränkischen „ehrenwert“ – ein Wort, das immerhin so veraltet erscheint, daß es im neuen DUDEN zur Rechtschreibung gar nicht mehr vorkommt und auch im WAHRIG, dem Wörterbuch der deutschen Sprache, fehlt (siehe Literaturverzeichnis!) – nicht etwas mit, das wir sonst aus anderen Zusammenhängen kennen, und positiv sind diese Assoziationen allesamt nicht: die „Ehrenwerte Gesellschaft“ etwa – sprich: die Mafia! – , das ironisch betitelte „Ehrenwerte Haus“, deren Kleinbürgerverlogenheit ein Udo-Jürgens-Song aus dem Jahr 1974 beschwor, und – beim Dichter Walser nicht als letztes zu erwägen – die Anspielung auf eines anderen Dichters Wort, die Anspielung nämlich auf die berühmte Verteidigungsre-de des Antonius’ aus Shakespeares „Julius Caesar“ (bei uns verbreitet in der Schlegel-Tieck’schen Textversion): „Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann!“? – Über eine andere Wahrnehmung als meine eigene verfüge ich in diesem Falle nicht und bekenne deshalb: ganz geheuer ist mir diese merkwürdig überinstrumentierte Freispruchsformulierung, da diene etwas „immer guten Zwecken, ehrenwerten“, nicht. Aber: lassen wir’s offen, an dieser Stelle jedenfalls!

Offen hingegen ist überhaupt nicht, was Martin Walser sonst noch an diesem Sonntag gesagt hat und was fast alle Besucher am Schluss zu „standing ovations“ animierte und nur – fast nur – den einen Gast fassungslos und ohne Beifall sitzen bleiben ließ: Ignatz Bubis.

  • Er verschlösse sich „Übeln, an deren Behebung“ er nicht „mitwirken“ könne, ließ Martin Walser bereits zu Anfang seiner Rede wissen – eine Maxime, die, ernst genommen, jede Beschäftigung mit Geschichte für obsolet erklärt und jedes Engagement auch in der Gegenwart, wo zumindest am Anfang nicht erkennbar ist, ob die eigene Tätigkeit etwas bewirken könnte; und Walser bewertete es nach diesem Sargdeckel-Bekenntnis als Ergebnis eines Lernprozesses, dass er nun auch „wegschauen“ könne;
  • den anderen aber, die das nicht tun, unterstellte er moralischen Sadismus und Verletzungsabsichten: „Die, die mit solchen Sätzen (= gemeint: Berichte in Zeitungen über Brandanschläge auf – so Walser – „Asylantenheime“. HP) auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient“;
  • gleichzeitig sei doch noch jeder „ein von Eitelkeiten dirigierter Gewissenskämpfer“, und Walser bezeichnete sie als „Meinungs- und Gewissenswarte“ der Nation, als „Meinungssoldaten“, die „mit vorgehaltener Moralpistole, den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen“ wollten;
  • und schließlich: er sei „fast froh“, wenn er glaube, „entdecken zu können, dass öfter nicht das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“.

Der letzteren Aussage folgt, wie bereits zitiert, die zumindest für mich zwischen Freispruch und Abwehr  changierende Formulierung, dass dies – die „Instrumentalisierung“ nämlich – „immer guten“, „ehrenwerten“ Zwecke diene. Erschlägt hier die Negativität des Begriffs „Instrumentalisierung“ nicht alles, was daran angeblich „gut“ sein soll? Und was enthält diese Rede an Welt- und Selbstschilderung sonst?

Man muss wohl nicht sehr in die Tiefe gehen: Zum einen ist typisch, dass Walser, der sich bereits mit seinen Eingangsbemerkungen – wie festgestellt – als Entsorgungsanwalt in Sachen deutscher Geschichte eingeführt hat, allen anderen, die anders denken, moralisch-psychologisierend und psychologisch-moralisierend nur negative Motive unterstellen kann: ob es „Eitelkeit“ ist oder „Sadismus“, „Instrumentalisierung“ oder bloßer „Gehorsam“ – wie anders wäre der Begriff „Meinungssoldaten“ in dieser Beziehung zu verstehen? -: der Autor vom Bodensee lässt, was Moral und Psyche betrifft, an diesen Menschen kein gutes Haar. So „ehrenwert“ deren Motive also – Walsers ausgesprochener Bekundung zufolge – auch sind: die Menschen selber sind es offenkundig nicht.

Doch damit nicht genug: in politischer und in historischer Hinsicht stellt sich Walsers Rede womöglich noch problematischer dar. Mit dem Begriff der „Meinungs- und Gewissenswarte“ beschwört der Autor, der sich – hier wie auch sonst! – auf die Konnotationen seiner Sprache und die Assoziationshöfe seiner Wörter durchaus versteht, natürlich unabweisbar die Erinnerung an die Nazi-Zeit selber herauf, an jene kleinen Helfershelfer des Regimes, die man damals „Blockwarte“ nannte. Wer oder was waren das? – Nun, der ZDF-Internetdienst „100 Wörter des Jahrhunderts“ (siehe: www.see-blick.de) definiert sie als „Schnüffler“, deren Aufgabe es war, „zu sehen, zu hören und zu melden“, und Max Frisch, der Schweizer Kollege, der lange vor Walser – 1976 nämlich – in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis bekam, schildert in seinem Stück „Nun singen sie wieder“, einen Hauswart in genau dieser Funktion (Frisch 1966, S. 110). Kurz: unterschwellig setzt Walser alle Menschen, die heute an Auschwitz erinnern, mit diesen Kleinst-Spitzeln von damals gleich – oder rückt sie doch so nahe zusammen, dass sie nicht mehr voneinander unterscheidbar sind: beide Personengruppen sind Agenten totalitärer Kontrolle und Überwachung. Das, was Walser vielleicht für einen netten polemischen Einfall gehalten hat, diese Metaphorik von den „Gewissens- und Meinungswarten“, stellt ganze Teile der bundesdeutschen Medienge-sellschaft unter Totalitarismusverdacht. In der Verrückungspsychologie dieser Begriffe werden die „eitlen“ und „sadistischen“ „Gewissenskämpfer“, die an Auschwitz erinnern, diese Blockwarte unseres Gedächtnisses, selber zu Helfershelfern eines neuen Nazismus in der Bundesrepublik. Sieht so tatsächlich unsere Gesellschaft aus? Haben wir es hier noch mit Weltschilderung zu tun oder schon mit einem anderen Befund?

Ähnlich fällt die Analyse von Walsers „Meinungssoldaten“ aus: die „Gehorsams“-Unterstellung wurde bereits angesprochen. Ad personam gesprochen, bedeutet das also: die da so reden, über Auschwitz und NS-Geschichte, reden ja gar nicht aus eigenem Antrieb, aus freien Stücken so. Sie unterstehen oder unterstellen sich einem Befehl, sie tun ihren Dienst – „Meinungsdienst“, wie es bei Walser heißt -, sie agieren als Befehlsempfänger, sie holen sich womöglich beim täglichen „Morgenappell“ die „Tagesparole“ ab für ihre alltägliche Medienarbeit und gehen dann bewaffnet ihrer Arbeit nach, mit der „Moralpistole“ in der Hand. Ad rem, das Moment der Weltschilderung betreffend, läuft also auch diese Metaphernsammlung auf das Bild einer totalitären Gleichschaltung hinaus: ganz Deutschland unter einem Befehl, ganz Deutschland massenmedial mehr oder minder durchmilitarisiert und ein Kasernenhof. Auch in diesem Punkt, nicht nur wenn man den Konnotationen zu Walsers „Gewissenswarten“ folgt, landen wir also, statt in der bundesdeutschen Demokratie, mitten im Nazireich. Und auch hier – erneut ist das der bezeichneten Verrückungslogik geschuldet – sind es die Antifaschisten, die in Deutschland ein neues undemokratisches Regime zu errichten drohen, so etwas wie eine Militärdiktatur im Medienbereich. Walser aber, auch das geht zwingend aus seiner Rede hervor, die er „vor Kühnheit zitternd“ – so seine Selbstbeschreibung – hielt, Walser aber ist demnach ihr tapferer Widerstandsheld. Soweit, nach dem Moment der Weltschilderung, das Moment der Selbstschilderung in diesem Sonntagstraktat.

Ich meine: bei diesem „Instrumentalisierungs“-Gerede über bundesdeutsche „Meinungssoldaten“ und „Gewissenswarte“ stehen wir dem Gegenstück zu jener „Erinnerungspolitik“ gegenüber, die Klaus Naumann beim Thema „Kriegskinder“ am Werke sieht. Diagnostizierte der FR-Autor „Erinnerungspolitik von rechts“, so offenkundig der renommierte Suhrkamp-Autor „Erinnerungspolitik von links“. Es dürfte erkennbar geworden sein, dass ich beide Versionen, bundesdeutsche Realität zu deuten, gleich weit entfernt sehe von der Realität und mir keine dieser beiden Verkennungsvarianten von Wirklichkeit auch nur annähernd zu eigen machen kann. Beide Versionen, wie dargestellt, bergen auch ein hohes Verletzungspotential in sich für die jeweils „andere Seite“ – Walsers Vorwurf an die Adresse der „Instrumentalisierer“, „sie wollen uns wehtun“, fällt also auf ihn selber zurück. Dennoch bekenne ich, bei gleichem Abstand zu den konträren Realitätsdeutungen, die von den beiden Autoren vertreten werden, dass mir, was die erkennbaren Motive – die Befürchtungen und Sorgen – angeht, die für diese beiden Gegenwartsdeuter den Beweggrund abgegeben haben dürften, der Hamburger Klaus Naumann ungleich näher steht als der Sonntagsredner vom Bodensee. Wie problematisch und unbegründet auch immer: bei dem FR-Beiträger meldet sich spürbar eine Angst – und Angst ist immer ernstzunehmen (ich hoffe, auch die von ihm Angegriffenen können es bei ihm tun); bei Walser hingegen meldet sich für mich nur totale Empathielosigkeit zu Wort, Einfühlungsunfähigkeit gegenüber dem, was ihm offenbar fremd ist. Und das, zugegeben, ist mir etwas fremd. Für mich stellt Walsers Rede nichts anderes dar als Randalieren auf hohem sprachlichen Niveau. Und ich kann nur hoffen: auch ich wäre an diesem Sonntagvormittag des 11. Oktober 1998 in der Paulskirche sitzengeblieben und hätte keine Hand zum Beifall gerührt. Zuhause, wo ich diesen Redeauftritt seinerzeit live am Fernseher erlebte, war es jedenfalls so.

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