Zwischen Minus und Null – Zur Berichterstattung über die Münchener Demonstration gegen „G7 Elmau“
Liebe Freunde,
am vergangenen Donnerstag, den 4. Juni, fand die seit langem größte Demonstration in der Bundesrepublik Deutschland statt: auf dem Münchener Stachus und Marienplatz sowie vor der Feldherrenhalle versammelten sich rund 40.000 Bürgerinnen und Bürger, um gegen die Elmauer Gipfelkonferenz an diesem Wochenende zu protestieren.
Aufgerufen zu dieser Kundgebung hatten zahlreiche Organisationen, Parteien und Einzelpersonen – unter anderem Campact, Naturschutzverbände, kirchliche Gruppen sowie die Linkspartei und die Grünen. Prominentester Redner war Jean Ziegler, der globalisierungskritische Wissenschaftler aus der Schweiz und über viele Jahre hinweg Sonderbeauftragter der UNO für den Kampf gegen den Hunger auf unserem Globus. Doch großes Pech für diese Demonstration: sie blieb friedlich!
„Pech“? – Nun, Folgeerscheinung dieser Friedlichkeit war, daß in zahlreichen Tageszeitungen in der Bundesrepublik keine einzige Zeile über diese größte Kundgebung seit Jahren erschien. Hätte das anders ausgesehen, wäre es zu irgendwelchen Tätlichkeiten gekommen – und sei es auch nur am Rande oder womöglich in Szene gesetzt von eingeschleusten „agents provocateurs“ (= getarnten Polizisten oder Geheimdienstmitarbeitern) -, die bundesdeutschen Tageszeitungen wären tags darauf voll gewesen von empörten Berichten. So aber…
Ich möchte das kurz veranschaulichen am Beispiel der Region Nordhessen und Südniedersachsen. Hier verfügen mehr oder minder zwei Tageszeitungen über das Monopol: die „Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA)“ (mit zahlreichen Kopfblättern) und das „Göttinger Tageblatt (GT)“ (ebenfalls mit zahlreichen Regionalausgaben). Gesamtauflage beider Blätter: rund 230.000 Exemplare. Doch im gesamten Gebiet um Kassel und Göttingen herum – die Städte eingeschlossen (mit rund 200.000 bzw. rund 120.000 Einwohnern) – wurden mit keiner Zeile über die Großdemonstration in München informiert. Null-Berichterstattung also! Und lediglich im erwähnten Negativfall, bei Tätlichkeiten usw., hätten ‚selbstverständlich’ auch diese beiden Monopolisten über München berichtet, getreu ihrer seit langem wieder und wieder an den Tag gelegten Tradition. Dann aber – auch das versteht sich ‚natürlich’ von selbst – ausschließlich negativ. Kurzum: in diesem Falle hätte man zutreffenderweise nur von einer Minus-Berichterstattung reden können. Was nun doch einige Fragen aufwirft – und ich gebe zu, die Antworten darauf könnte sich eigentlich jeder Leser und jede Leserin gleich selber geben! Doch hier meine deutliche Meinung dazu. Und ich bringe die Sache gleich auf den für mich entscheidenden Punkt:
Gehen Menschen in der Bundesrepublik auf die Straße, um gegen die herrschende Politik zu protestieren – jedenfalls dann, wenn das von links her geschieht! -, scheinen sie in manchen Regionen nur noch die ‚freie’ Auswahl zu haben zwischen Friedlichkeit gleich Null-Erwähnung oder Rabatz gleich Minus-Berichte. Tertium non datur. Ein Drittes gibt es in bestimmten Regionen nicht mehr angesichts der Medienverhältnisse vor Ort. Schönes Deutschland, schöne Demokratie!
Ich halte dieses Versagen der Presse für keine Kleinigkeit, und das gleich aus mehreren Gründen nicht. In Kurzform:
1. Noch bei den PEGIDA-Demos am Anfang dieses Jahres sah das anders aus, auch bei HNA und GT. Als da Fremdenfeinde und Islamhasser auf die Straße gingen, verbohrte Bürgerinnen und Bürger gegen eine humane Flüchtlingspolitik protestierten, sahen sich die genannten Tageszeitungen durchaus in der Berichtspflicht. Trotz der Tatsache, daß sie damit zum Teil dem rechten Mob ihre Spalten öffneten, trotz der Tatsache auch, daß selbst die schöngerechneten PEGIDA-Demos in Dresden maximal 25.000 Eiferer auf die Straße brachten. Die Frage lautet also: mehr Chancen für Rechtsextreme im deutsch-biederen Blätterwald als für Menschenrechtler, wie sie in München auf der Straße waren?
2. Stellt diese Nichtveröffentlichungspraxis von HNA und GT – jetzt, bei der Großdemonstration von Menschenrechtlern – nicht indirekt eine Aufforderung dar, all jenen Kräften Vorschub zu leisten, die von vornherein aus sind auf Krawall und meinen, daß ein Minus-Echo in der deutschen Publizistik allemal einem Null-Echo vorzuziehen ist?
3. Wie steht es um die demokratische Funktion von Presse schlechthin, wenn sie ‚großzügig’ glaubt, über den Protest von 40.000 Menschen hinwegsehen zu können wie über nichts? Was hat es auf sich, in diesem Zusammenhang, mit der Erkenntnis, daß – den Thesen des Frankfurter Sozialphilosophen Jürgen Habermas zufolge – Demokratie die „politische Partizipation“ ihrer BürgerInnen zu realisieren habe durch Partizipation auch am allgemeinen, am öffentlichen „Diskurs“? Begreifen die Zeitungsmacher bei HNA und GT nicht, daß mit derlei Verschweigen demokratische Öffentlichkeit außerkraft gesetzt wird? Daß sie damit sogar die eigene demokratische Funktion aufs Spiel setzen, nämlich als sogenannte „Vierte Gewalt“ eine öffentliche Debatte öffentlicher Dinge garantieren zu müssen? – Schon der griechische Philosoph Polybios im 2. Jahrhundert vor Christi Geburt sah darin, in dieser öffentlichen Debatte, eine Grundbedingung von Demokratie, und der französische Aufklärer Montesquieu griff diesen Gedanken 1748, im vorrevolutionären Frankreich, wieder auf. Und bereits Jean Jacques Rousseau sprach im 18. Jahrhundert deswegen von der Presse (und Pressefreiheit!) als der „vierten Säule“ einer vollgültig sich realisierenden Demokratie. Alles vergessen, alles Schnee von gestern? Oder, bei Abschaffung dieser Einsichten, Vorzeichen einer kommenden Eiszeit?
Bertolt Brecht, bei allem Engagement für die Umgestaltung gerade der realen Welt, der sozialen und ökonomischen Verhältnisse zugunsten der Ausgebeuteten und der Unterdrückten, der Unterprivilegierten und Abgehängten, selbst der „Materialist“ und Marxist Bertolt Brecht verkannte die Relevanz freiheitlicher Kommunikationsverhältnisse nicht (insofern ein Vorläufer von Habermas) und formulierte deswegen einmal: „Demokratie – das ist die Herrschaft der Argumente.“ Was ja voraussetzt: diese Argumente müssen in einer demokratischen Öffentlichkeit auch zu hören sein. Ich frage mich: trug Jean Ziegler bei seiner Rede auf der Münchener Kundgebung, unter dem Beifall von 40.000 Demonstranten, etwa keine hörenswerten Argumente vor? Gab es nicht unzählige Transparente zu sehen auf dieser Großdemonstration gegen TTIP und Umweltzerstörung, gegen den Hunger und gegen das Flüchtlingselend auf dieser Welt, die es wert waren, gelesen zu werden, und wert waren, gedruckt zu werden, auch in der HNA und im GT?
Nun, ich habe am heutigen Tage beiden Zeitungen diese Fragen gestellt. Ich werde über Antwort darauf oder Nichtbeantwortung auf HdS informieren.
Versprochen!
Holdger Platta