Nach Barcelona: 9 vermeidbare Fehler im Umgang mit Anschlägen
„Autoritäre Kräfte in jedem Staat erwecken nur allzu gern den Eindruck: ‚Es geht jetzt nur noch um Terror und unseren Kampf dagegen‘. Sie lieben ein Volk, dass verängstigt auf den möglichen Terror wie ein Kaninchen auf die Schlange starrt und schutzsuchend bei einem starken Papa Staat unterkriecht. Ein Volk, das seine Hände freiwillig den Ketten darreicht, mit denen man es binden will.“ Nachdem Roland Rottenfußers Satire „So machen Sie das beste aus dem aktuellen Terroranschag“ viel beachtet wurde, hier nun noch einige Argumente zu einem vernünftigen und menschlichen Umgang mit derartigen Katastrophenmeldungen, die uns leider noch eine Weile verfolgen dürften. Diesmal in ernsthafter und direkter, nicht in satirischer Form, was Anflüge von Ironie nicht ausschließt. (Roland Rottenfußer)
1. Den Islam jetzt mit besserem Gewissen hassen. Unvermeidlich werden sich „abendländische Patrioten“ jetzt bestätigt fühlen. „Man sieht ja, wohin es führt, wenn Softies und Kanaken-Versteher die Politik bestimmen. Das muss jetzt anders werden.“ Sich als Protest gegen eine unmenschliche Tat einer Bewegung anschließen, die Intoleranz gegen Muslime und Härte gegen Flüchtlinge (wieder Unmenschlichkeit) fordert, kann nicht der Weg sein. Vernünftige Muslime sehen ihre Religion durch den Anschlag missbraucht und verraten. Sie weisen gerade jetzt auf die friedlichen Aspekte des Islam hin. Keiner käme auf die Idee, alle Norweger seien verdächtig – wegen Breivik. Es gibt keine Rechtfertigung für pauschalisierende Hetze gegen eine bestimmte Gruppe. Rechte und Nazis sind keine glaubwürdigen „Entrüster“. Sie tragen in jedem Land (in Frankreich mit der Le Pen-Partei) zu einem gereizten, hasserfüllten Klima zwischen ursprünglichen Einwohnern und „Fremden“ bei. Sie werden nach dem Anschlag wieder dazu beitragen, alles nur noch schlimmer zu machen.
2. „Jetzt haben wir auch unseren 11. September“. „Wir“, das sind in diesem Fall die Europäer. Sollen wir jetzt auch wie 2011 in eine Sicherheits-Hysterie verfallen, Kriege gegen mögliche Ursprungsländer des Terrors lostreten? Auf der Welt sähe es dann bald so finster aus wie in den Gehirnen der Mörder. Besonnene Menschen müssen jetzt klar und öffentlich sagen: Mit uns nicht (noch mal)! Auch Parolen der Art „Nach diesem Anschlag ist nichts mehr wie es vorher war“ sind übertrieben und eher der Absicht bestimmter Akteure geschuldet, einen Epochenwechsel hin zu mehr Krieg und Repression einzuleiten. Deshalb ist Vorsicht geboten.
3. Die Bürgerrechte aushebeln. Mehr Kontrolle, mehr Überwachung, härtere Strafen, schnellere Abschiebung … diese Forderungen werden so sicher gestellt wie das „Amen“ in der Kirche. Die Falken stehen schon in den Startlöchern und freuen sich klammheimlich über jeden Anschlag, der ihrem repressiven Weltbild Nahrung gibt. Zur Erinnerung: Mord ist schon jetzt verboten. Um mangelnde Effizienz der Polizeiarbeit mache ich mir keine Sorgen, eher „zu große“ Effizienz, „Sicherheitszonen“, verdachtsunabhängige Kontrollen, das endgültige Ende jeder Privatsphäre. Die Mörder (wenn die übliche Deutung des Geschehens zutrifft) versuchten eine Welt-Diktatur zu etablieren, in der Angst regiert und Meinungsfreiheit so weit geschrumpft wird, bis sie in deren enges Weltbild passt. Als Reaktion darauf dürfen wir nichts tun, das unser Gesellschaftsgefüge auch nur minimal in Richtung Diktatur verschiebt, sonst hätten wir wirklich den „Beelzebub“ statt des „Teufels“ an der Macht. Marine Le Pen forderte nach dem „Charlie Hebdo“-Anschlag die Vorratsdatenspeicherung, Seehofer die Einführung der Todesstrafe. Oh, Entschuldigung, ich glaube, es war doch eher umgekehrt. Man sieht, woher der Wind weht. Auch das kennen wir vom 11. September her. Kriegstreiber und Repressions-Appartschiks, versuchen die erzeugte aufgewühlte Stimmung gern zu nutzen, um etwas sonst nicht Durchsetzbares durchzusetzen. (Siehe auch Naomi Kleins Buch: „Die Schock-Strategie“). Die Mörder können sich im Grunde freuen, so einen Eindruck zu hinterlassen. Umgekehrt: Durch nichts können wir ihre Tat stärker neutralisieren und zunichte machen als damit, dass alle so weiter machen wie zuvor.
4. Blutigen Kriege für das Gute. Wir „ehren“ die unschuldigen Opfer nicht, indem wir anderswo weitere unschuldige Opfer erzeugen. Genau dies ist aber im Irak- und Afghanistan-Krieg geschehen, die u.a. unzähligen Kindern das Leben gekostet haben. Allein Drohnen-Angriffe, die von der US-Regierung befohlen wurden, haben bis 2012 176 Kindern (!) das Leben gekostet. Und das ist nur ein besonders abstoßender Ausschnitt der ganzen brutalen Wahrheit. Die Schlussfolgerung aus dem entsetzlichen Geschehen muss sein: „Keine (weitere) Gewalt“ und nicht „Lass uns dasselbe tun wie die Mörder – nur mit gutem Gewissen, denn die haben ja angefangen“.
5. Das Ereignis isoliert betrachten. Ohne dass darin eine Rechtfertigung für die Mörder läge, muss man sich bewusst machen, dass der Anschlag nicht im luftleeren Raum stattfand. Es ist zu fragen: Wie wird eine Mentalität gezüchtet, die dazu führt, dass jemand Mitglied einer Terror-Zelle wird? Wie entstehen Hoffungslosigkeit und Gewaltbereitschaft, wie entstehen Hass und Wut auf den Westen und seine „Werte“? Laut Bericht der „Abendzeitung“ hatte einer der beiden Attentäter angegeben, er sei durch die Folterfotos aus Abu Ghraib radikalisiert worden. Das sollte uns nachdenklich machen. Der „christliche“ Westen sollte gemäß dem Jesus-Wort beginnen, den Balken im eigenen Auge zu erkennen. Die Radikalisierung bestimmter islamischer Kreise ist auch eine Reaktion darauf, dass sich der Westen mit seinen „Werten“ zutiefst unglaubwürdig gemacht hat, sich als Zwingherr der Welt aufspielt und Blutbäder angerichtet hat, mit denen verglichen die Anschläge von Barcelona und anderswo eher kleinere Scharmützel waren.
6. Vergessen, wer die größten Terroristen sind. Diejenigen, die Kriege inszenieren und millionenfach Leid und Tod über Menschen bringen: überwiegend also staatliche Institutionen, gewählte „Volksvertreter“ zumeist. Über Mord sind Mächtige immer nur dann entrüstet, wenn er von anderen begangen wird. Mordet man selbst, sind dies „friedensschaffende Maßnahmen“, „Humanitäre Einsätze“ usw. Die „Je suis Charlie“-Bewegung gefiel mir insofern als sie über Solidarität hinaus Identifikation mit den Opfern ausdrückte. Wo aber blieben „Je suis“-Bekundungen, als unter dem Kommando von Oberst Klein etwa 140 Menschen in Afghanistan aufgrund eines „Irrtums“ tot gebombt wurden? Wo bleibt die Solidarität mit den Toten von Hartz IV (laut Angaben der Webseite schindersliste.wordpress.com sind es schon ca. 45 in direkter oder indirekter Folge der Verelendungspolitik) oder mit den Opfern der globalen Schuldenwirtschaft? In Zeiten einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich haben alle „Wir müssen jetzt alle zusammenhalten“-Parolen auch etwas Heuchlerisches, jedenfalls von Seiten staatlicher Stellen. Schon gar nicht sollten wir durchsichtigen Parolen wie „In Zeiten der Not gibt es keine Parteien mehr, nur noch Spanien/Deutsche/Europäer …“ aufsitzen. Mit dieser Art von Gehirnwäsche wurden Weltkriege losgetreten, haben auch US-Präsidenten ihre Bevölkerung auf grausame Feldzüge eingeschworen.
7. Nur noch „darüber“ sprechen. Das Ereignis ist schockierend, sollte aber nicht wie ein Magnet all unsere Gedanken über Wochen und Monate ansaugen. Alles, was wir „vorher“ für wichtig hielten, bleibt auch jetzt wichtig, ob das nun der Kampf gegen das unmenschliche Hartz IV-System ist, der Rechtsruck in der Bevölkerung, unser ungerechtes Geld- und Wirtschaftssystem oder das Leid der Tiere. Autoritäre Kräfte in jedem Staat erwecken nur allzu gern den Eindruck: „Es geht jetzt nur noch um Terror und unseren Kampf dagegen“. Sie lieben ein Volk, dass verängstigt auf den möglichen Terror wie ein Kaninchen auf die Schlange starrt und schutzsuchend bei einem starken Papa Staat unterkriecht. Ein Volk, das seine Hände freiwillig den Ketten darreicht, mit denen man es binden will und sich von den Mächtigen in von ihnen geschaffenen Denkgefängnissen in Schutzhaft nehmen lässt. Die auf Krawall gebürstete Medien lieben das Thema „Terror“ gleichermaßen, wodurch eine Atmosphäre der Angst und Erbitterung im Volk geschürt wird. In dieser Atmosphäre kann (falsche) Politik leichter durchgesetzt werden – wenn wir uns von ihr ergreifen lassen.
8. Berechtigte Anliegen ignorieren, weil sie im Einzelfall in Mord mündeten. Ich behaupte, dem RAF-Terror, der sich in seinen Mitteln drastisch vergriffen hat, lag ein rationaler Kern zugrunde. Die Kritik am mörderischen Vietnam-Krieg z.B. oder Empörung über den schäbigen Verrat der Staatsmacht an seinen demonstrierenden Bürgern am Tag des Schah-Besuch (2. Juni 1967). Und der Terror der Palästinenser – geschah und geschieht er nicht aus purer Verzweiflung, weil das eigene Anliegen, solange man friedlich und unauffällig agiert, vor der Weltöffentlichkeit ignoriert wird? Man darf den Mördern nicht zu Willen sein und z.B. gerade jetzt aus Angst auf Islamkritik verzichten; man sollte aber Muslimen zuhören, die ohne zu Gewalt zu greifen, traurig und verärgert über (in ihren Augen) herabwürdigende Äußerungen über ihre Religion sind. Menschen, die bereit sind, für ihre Weltanschauung zu morden, sind nur die Spitze eines Eisbergs. Wenn wie der „Spitze“ nicht zuhören wollen, weil sie sich durch Gewalt als Gesprächspartner disqualifiziert hat, dürfen wir es dennoch nicht versäumen, den „Eisberg“ zu untersuchen. In diesem kann sich eine legitime Grundstimmung verbergen: „Der Westen nimmt unsere Kultur nicht ernst. Wir fühlen uns gedemütigt und ausgegrenzt.“
10. Die Täter (oder wahlweise: deren Feinde) hassen. Es ist besser, sich nach Möglichkeit nicht in Hass auf die Mörder hineinzusteigern. Und auch nicht auf die Rechten und Nazis, die jetzt verstärkt gegen den Islam, gegen Migranten und Flüchtlinge hetzen werden. Würden wir dies zulassen, hätte der Hass einen weiteren Sieg errungen, indem es ihm gelänge, uns seinem Einflussbereich hinzuzufügen. Stattdessen müssen wir unseren Standpunkt der Menschlichkeit, der Toleranz und des Friedens unbeirrbar gegen alle verteidigen, die von verschiedenen Seiten versuchen werden, dies als naives Gutmenschentum abzutun. Wer sich wie wir moralisch überlegen wähnt, sollte dies durch seine Worte und Taten auch belegen. Zeigen sich Gruppierungen, die unseren Wertvorstellungen drastisch widersprechen, ist dies eine Gelegenheit, Frieden einzuüben – ohne dass inakzeptable Meinungen auf uns abfärben dürfen. Ich möchte nicht zulassen, dass immer die extremsten, dümmsten und brutalsten Vertreter einer Weltanschauung meine Tagesordnung und meinen Seelenzustand dominieren. Es stört mich, dass Tagesnachrichten die Macht haben, meine Stimmung nachhaltig zu verdunkeln. In meinem Geist soll Raum bleiben, mich mit den Dingen und Menschen zu beschäftigen, die ich liebe – statt nur mit denen, die ich verabscheue. Gleichzeitig kommen wir nicht umhin, Trauer und Wut zu empfinden, uns gegen bestimmte Kräfte auch zu wehren. Beide Ziele sind in der Praxis nicht leicht zu erreichen, aber es gut, dies als Ziel vor Augen zu haben