50 Jahre 1968 (1)
“Achtundsechzig, das ist das lustvolle Zähnefletschen des Gespenstes der Freiheit, der nachhaltige Schrecken für jede Art von Autoritäten und Bürokraten.” Im Jahr 2018 ist es also 50 Jahre her, dass die 68er ihre Revolte begannen. Zu kaum einem anderen Inhalt, kaum einer anderen Bewegung gibt es so viele verschiedene, auch häufig verdrehte Berichterstattungen bis hin zu Diskriminierungen. Zeit, noch einmal zu versuchen, sich zu erinnern. Ja, wir sind alt geworden. Aber beileibe keine „Alt-68erInnen“. Der Wunsch zur Rebellion und zur Veränderung hat uns nicht verlassen. (Ellen Diederich, Start einer Serie zu “1968”, die wir von jetzt an bis Ende Februar jede Woche fortsetzen werden)
Erinnerungsfähigkeit
In seinem Buch „Achtundsechzig“ schreibt Oskar Negt:
„Dieses Buch ist im Zorn und gegen das Vergessen geschrieben.
Zornig bin ich, weil ich in der intellektuellen Landschaft der deutschen Gesellschaft, die sich wieder in ihren normalen geschichtlichen Rhythmen bewegt, immer mehr öffentliche Auftritte von Personen wahrnehme, die sich selbst als 68er bezeichnen, um mit glaubwürdiger Geste alles abwerten zu können, wofür sie sich einst haben schlagen lassen. Das lässt einen Schluss zu: Der Opportunismus ist die eigentliche Geisteskrankheit der Intellektuellen. Wo sie ihren Eigensinn, die bohrende und widerständige Kraft ihrer Entwurfsphantasien einbüßen, werden sie zu abrufbaren Legitimationsproduzenten mit beschleunigten Häutungen, und am Ende bleibt nur die Haut übrig, die man selbst zu Markte tragen muß.
Dass diejenigen , die ein Stück ihrer Identität, ihrer Kompetenz und häufig auch ihrer Karriere aus der mit den Ideen dieser Zeit verknüpften Praxis gewonnen haben, leichtfertig oder mit Wille und Bewusstsein sich für diesen Zusammenhang geltenden Begriffe , die Werte und Symbole der politischen Sprache im vorauseilenden Gehorsam enteignen lassen, hat für mich den Rang eines kulturellen Skandals.
„Und ich schreibe gegen das Vergessen. Nichts in der heutigen Welt erscheint mir bedrohlicher als der Verlust der gesellschaftlichen Erinnerungsfähigkeit – eine „Menschheit ohne Erinnerung“. (Oskar Negt, Achtundsechzig, Göttingen 2001, S. 9)
68 war nicht der Anfang
68 ist nicht aus dem Nichts entstanden. Es gab wichtige Vorläufer der 68er Bewegung. Einer davon waren die Ostermärsche gegen Atomwaffen. Die Ostermärsche waren für meine Generation die gesuchte politische gewaltfreie Aktion gegen Krieg und Zerstörung. Wir hatten Hiroshima, Nagasaki, Auschwitz, das Leben der Geschwister Scholl, den 2. Weltkrieg insgesamt tief verinnerlicht. Wir lasen über die Gefährlichkeit von Strontium 90, Cäsium usw. durch die oberirdischen Atombombenversuche. Die USA hatten in Neu Mexiko und Nevada, auf dem Bikini Atoll, Frankreich in Mururoa, Fangataufa, in der Sahara, Großbritannien in Kirimati, Montebello und Maralinga (Australien), die Sowjetunion in Semipalatinsk und auf Nowaja Semlja, China in Lop Nor oberirdische Tests durchgeführt, die Strahlungen hatten enorme Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen und Tieren.
Unter dem Slogan „Britain must lead“ fand 1958 der erste Ostermarsch in Großbritannien von London aus 73 km zum britischen Atomforschungszentrum Aldermaston statt.
In GB war die „Campaign for Nuclear Disarmament“ bereits in vielen Städten und Gemeinden aktiv. Es gibt die unterschiedlichen Aktionsformen, eine besondere Form des Protestes ersannen Studentinnen der Universität Oxford. Die jungen Damen weigern sich, mit Kommilitonen auszugehen, die sich nicht aktiv an dem „Feldzug gegen die Wasserstoffbombe“ beteiligen.
An der Spitze der Bewegung gab es u.a. den Nobelpreisträger, Mathematiker und Philosophen Bertrand Russell. Ich sah ein Foto von ihm, wie er sich, weit über 80 Jahre, bei einem Sitzstreik vor Aldermaston wegtragen ließ. Er wurde in vielen Dingen eines unsere Idole, vor allem, weil er in klarer Sprache über die Gefährlichkeit des atomaren Wahnsinns aufklärte. Der anglikanische Geistliche von Londons größter Kirche St. Pauls, John Collins, erklärte auf der Kundgebung am Karfreitag auf dem Londoner Trafalgar Square auf die Frage, warum er an diesem Tag nicht in seiner Kirche sei: Karfreitag bedeute „Moral“ und der Kampf gegen die Atomwaffen sei eine moralische Frage.
Einer der Redner war Martin Niemöller, er sagte u.a.:
„Die ersten Atombomben, der ersten zwei Stunden, die werden auf Westdeutschland und auf Ostdeutschland fallen. Und nach zwei Stunden wird es kein Deutschland und kein deutsches Volk und keinen deutschen Menschen mehr am Leben geben. Und in den zwei Stunden haben sich die Herren in Moskau und Washington vielleicht überlegt, dass es klüger, vernünftiger und menschlicher ist, die Sache noch abzustoppen, die sonst zum Tode der Menschheit und zum Ende der Menschheitsgeschichte führen muss.“ (Zitiert nach: Herbert Hoven und Wolfgang Kraushaar, Protest in unruhigen Zeiten – Die 60er Jahre Folge 1: Die Ostermarschbewegung, Produktion WDR 5, 2008)
In der BRD war von 1957 bis 1959 die Kampagne Kampf dem Atomtod als außerparlamentarische Bewegung gegen die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen aktiv.
1960 fand der erste Ostermarsch in Deutschland statt. Initiator war die LehrerInnen Helga und Konrad Tempel. Beide gehören den Quäkern an, sind bis heute aktiv und arbeiten u.a. in der Ausbildung von FriedensarbeiterInnen.
Der Marsch ging als Sternmarsch zum Raketenübungsplatz Bergen-Hohne in der Lüneburger Heide. Hier war zum ersten Mal von der Bundeswehr am 4. Dezember 1959 eine zur Nuklearbewaffnung geeignete Honest-John-Rakete abgeschossen worden.
Ab 1961 fanden Ostermärsche in vielen Teilen der Bundesrepublik statt, so auch im Ruhrgebiet. Der Ostermarsch war die erste soziale Bewegung im Nachkriegsdeutschland, in deren Zusammenhang auch neue Lieder entstanden.
Im Laufe der Jahre nahmen die Ostermärsche auch andere Themen auf. 1966 waren die bestimmenden Parolen: Stop the war in Vietnam! Joan Baez war aus den USA gekommen, marschierte mit uns durchs Ruhrgebiet. Die größten Ostermärsche fanden in den 8oer Jahren statt, als die Friedensbewegung sich gegen die Mittelstreckenraketen engagierte.
(Nächste Woche lest Ihr von Ellen Diederich u.a.: “Die Bewegung gegen die Notstandsgesesetze”)