50 Jahre 1968 (2)

 In FEATURED, Politik

Frantz Fanon, Autor von „Die Verdammten dieser Erde“

„Achtundsechzig, das ist das lustvolle Zähnefletschen des Gespenstes der Freiheit, der nachhaltige Schrecken für jede Art von Autoritäten und Bürokraten.“ Im Jahr 2018 ist es also 50 Jahre her, dass die 68er ihre Revolte begannen. Zu kaum einem anderen Inhalt, kaum einer anderen Bewegung gibt es so viele verschiedene, auch häufig verdrehte Berichterstattungen bis hin zu Diskriminierungen. Zeit, noch einmal zu versuchen, sich zu erinnern. Ja, wir sind alt geworden. Aber beileibe keine „Alt-68erInnen“. Der Wunsch zur Rebellion und zur Veränderung hat uns nicht verlassen. (Ellen Diederich)

Die Bewegung gegen die Notstandsgesetze

Die 1968 verabschiedeten Notstandsgesetze enthalten Regelungen für den Verteidigungsfall, den Spannungsfall, den inneren Notstand und den Katastrophenfall. In diesen Fällen werden die Grundrechte eingeschränkt und zwar: das Briefgeheimnis, das Post- und Fernmeldegeheimnis, die Freizügigkeit, d.h. die freie Bewegungsmöglichkeit. Es gibt keine Beschwerdemöglichkeit gegen diese Einschränkungen.

Wir, als Gegner der Notstandsgesetze befürchteten, dass diese Gesetze Eingriffsmöglichkeiten des Staates zugunsten demokratiefeindlicher Kräfte bieten würden, unter Umständen sogar durch den Einsatz von Bundeswehr und Bundesgrenzschutz. Die Befürchtungen erhielten u.a. Nahrung durch Bemerkungen wie die des damaligen Innenministers Hermann Höcherl, dass der Verfassungsschutz „nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen“ könne.

Unter dem Slogan: „Notstand der Demokratie“ gab es eine breite Bewegung des Widerstandes gegen die Notstandsgesetze.

An den Notstandsgesetzen entzündete sich eine heftige öffentliche Auseinandersetzung. Am 11.Mai 1968 kamen über 70.000 Demonstranten zu einem „Sternmarsch auf Bonn“ zusammen, um gegen die Notstandsgesetze zu protestieren.

Der „Sternmarsch auf Bonn“ war die größte Kundgebung in einer langen Reihe von Protestaktionen, zu denen sich Gewerkschafter und Politiker, Professoren und Künstler, Studenten und Schüler zusammengefunden hatten. Diese Kette von Protesten war eines der  Anzeichen für das Entstehen der Außerparlamentarischen Opposition. (APO).

Andere Bewegungen und Organisationsformen

Falken und Gewerkschaftsjugend

Ich war, wie viele Jugendliche, neben der Beteiligung beim Ostermarsch und gegen die Notstandsgesetze in verschiedenen Gruppen und Organisationen aktiv, als Kind bei den Falken. Wir fuhren in Zeltlager, die nach demokratischen Prinzipien organisiert wurden. Es gab Zeltdörfer mit BürgermeisterInnen, ein Lagerparlament. In den Niederlanden ehrten wir die von den Nazis Verfolgten, begingen den 1. Mai und den 1. September zusammen. Wir beschäftigten uns mit Literatur gegen den Krieg, lasen Tucholsky, Erich Kästner, Bert Brecht. Zum ersten Ostermarsch 1961 gingen die Falken und ihre gewählten Vertreter mit. Ein Jahr später – die SPD war auf die NATO, damit auf atomare Bewaffnung eingeschwenkt – wurde uns als Falken die Mitarbeit in den Vorbereitungsausschüssen der Ostermärsche verboten. Diejenigen, die das nicht akzeptierten, auch ich, wurden ausgeschlossen. Das hat mich für mein ganzes Leben resistent gemacht gegen Parteien, Hierarchien, undemokratische Entscheidungsprozesse.

Daneben war ich, wie viele Jugendliche, die in Ausbildung und Beruf waren, in der Gewerkschaftsjugend aktiv. Wir beschränkten uns in der Gruppe nicht auf die unmittelbare Arbeit in unseren Betrieben. Wir diskutierten über Gott und die Welt, lasen gemeinsam Sartre, Nietzsche, Camus, Saint-Exupéry und vieles andere.

Autonome Jungenschaft

Nach dem Ausschluss bei den Falken war ich auf der Suche nach anderen Zusammenhängen. Ich fand eine neue Gruppe, die autonome Jungenschaft, d.j.1.11. Es war die einzige Gruppe aus der bündischen Jugend, die sich 1933 mit linken Organisationen gegen den Faschismus verband. Ein paar Gruppen waren nach dem Krieg in Westdeutschland neu entstanden. Wir zogen mit Tipizelten und Rucksack jedes Wochenende in die Wälder, beschäftigten uns mit Zen Buddhismus, lernten Bogenschießen, sammelten Lieder aus der ganzen Welt, schrieben Gedichte und trampten durch Europa, gingen zusammen zum Ostermarsch, spielten Kabarett und Brecht-Stücke.

Die Erfahrungen in dieser Gruppe brachte uns die Bewegung der peaceniks, der Tramper in den USA nahe. Die Bücher von Jack Kerouac „On the road“ oder „Gammler, Zen und hohe Berge“ und Allen Ginsbergs „Geheul“ vermittelten uns Inhalte und Lebensformen eines Teils des „Anderen Amerikas“, derjenigen, die die kapitalistische US-Gesellschaft ablehnten, andere Lebensformen suchten und ausprobierten. Eine große Rolle spielten Musik und Lieder, die großen Blues- und Folk-SängerInnen Bessie Smith, Billi Holliday, Bob Dylan, Joan Baez, Pete Seeger, Woody Guthrie und Harry Belafonte hatten uns in ihren Liedern bereits über dieses „Andere Amerika“ erzählt, über die Tradition der Arbeiterbewegung, der Antikriegsbewegung, die Bürgerrechtsbewegung gegen Rassismus, die Bewegung gegen den Vietnam-Krieg.

Die Burg Waldeck – Chanson, Folklore international

Lieder haben in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. Aufgewachsen bin ich mit Liedern der Arbeiterbewegung. Liedertexte sind zum festen Bestandteil von Denken, Fühlen und Handeln geworden. In der Jungenschaft hatten wir Lieder aus der ganzen Welt gesammelt, dazu kamen die Lieder des Ostermarsches. Fasia Jansen wurde zu unserer Vorsängerin, Gerd Semmer hatte die Lieder der französischen Revolution übersetzt, Süverkrüp sang sie, George Brassens und andere französische Chanson-Sänger waren uns vertraut.

So erfuhren wir auch sofort von einem Festival im Hunsrück, das 1964 zum ersten Mal auf der Burg Waldeck stattfand. Ein romantischer Ort, wenn man die Mosel entlang fährt, dann auf die Hunsrückhöhenstraße, landet man irgendwann auf der Burg.

„Danach war in der deutschen Liedkultur nichts mehr so, wie es vorher war. Folker, Rocker, Liedermacher begannen damals damit, deutsche Texte zu singen, nachdem es in der Nachkriegszeit den Sängern die deutsche Sprache verschlagen hatte. Nach 1964 gab es noch fünf Festivals in Folge auf der Waldeck. Und auch die waren, jedes einzelne für sich, ein neuer Schub in Richtung Emanzipation der Lied-Kultur. Plötzlich gab es eine Alternative zum deutschen Schlager-Gesummse. Damals unbekannte Sänger wie Franz Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Dieter Süverkrüp, Hans Dieter Hüsch, Walter Moßmann und Hannes Wader wurden hier entdeckt und populär von einem auf den anderen Tag. Es war die Zeit, da noch kleine Wunder passieren, ehe man sich versieht.“ (Bericht WDR 5)

Aber auch SängerInnen aus anderen Ländern kamen, aus den USA, Schottland, Irland, der Schweiz, Roma Musiker wie Schnuckenack Reinhard spielten dort. Jahr für Jahr über Pfingsten trafen sich einige tausend Menschen dort, um zu singen, zuzuhören, zu diskutieren. Jahr für Jahr steigerte sich auch der politische Anspruch. 1968 verlangte ein Teil der TeilnehmerInnen, mit dem Singen aufzuhören, Hüsch wurde als zu unpolitisch ausgepfiffen, es sollte diskutiert werden. Die Spaltung des Festivals war da.

Achtundsechzig, das war das Lebensgefühl: Wir werden die Welt verändern.

Dieses Lebensgefühl setzte sich aus sehr verschiedenen Elementen zusammen.

Die Befreiungsbewegungen, Kampf gegen den Kolonialismus

Weltpolitisch war es die Zeit der Entkolonialisierung, d.h. des sich Lossagens der Länder der 2/3 Welt von ihren Kolonialmächten, die Zeit der Befreiungsbewegungen. Insbesondere seit dem Algerienkrieg fühlten wir uns mit diesen Bewegungen verbunden. Menschen und Bewegungen waren uns nahe, Menschen wie Mahatma Gandhi, ermordet 1948, Patrice Lumumba, der erste frei gewählte schwarze Präsident des Kongo, ermordet 1961, Menschen wie Amilcar Cabral, der Anführer der Bewegung in Guinea Bissau und den Kapverden, ermordet 1973, Nelson Mandela aus Südafrika und viele andere hatten wir über die Medien verfolgt und in solidarischen Aktionen und Demonstrationen uns für sie engagiert. Ereignisse wie 1962 die Beendigung des brutalen Algerienkrieges, als Frankreich Algerien mit dem Vertrag von Evian die Unabhängigkeit „gewährte“. Später hatten Bewegungen wie die Tupamaros in Urugay, die FMLN in El Salvador, die Sandinistas in Nicaragua unser Interesse.

Achtundsechzig, das waren auch Idole:

„Che Guevara für den subjektiven Willen und die Bereitschaft zur Revolution,

Ho Chi Minh für die Aussicht der Armen auf den Sieg

Mao-Tse Tung für die Gleichheit.“

Wie die große italienische Publizistin Rossana Rossanda es im Kursbuch 30: „Unsere Schwierigkeiten mit den sozialistischen Ländern“ charakterisiert hat.

An all diesen Auseinandersetzungen hatte sich die Debatte um die Legitimität des gewaltsamen Widerstandes entfacht.

Diese Diskussion war stark beeinflusst durch das Buch „Die Verdammten dieser Erde“ des in Martinique geborenen Revolutionärs Frantz Fanon.  „Er hatte auf neuartige Weise – nämlich soziologisch und psychologisch – ein kollektives ‚revolutionäres Subjekt‘ beschrieben: die antikolonialen Befreiungsbewegungen, die in den 1950er und 1960er Jahren wesentliche welthistorische Veränderungen bewirkten.

Im ersten Kapitel „Von der Gewalt“ analysiert Fanon die verschiedenen Gewaltarten, die zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten eine Rolle spielten. Es geht nicht nur um die Bedrohung physischer Körper, sondern auch um strukturelle Gewalt: alle Formen von Rechtlosigkeit, die eine systematische Benachteiligung in Bezug auf Ernährung, Wohnung, Gesundheit, Ausbildung und politische Teilhabe nach sich ziehen. Fanon behauptete, dass die physische Gewalt, welche die Kolonisierten zum Einsatz brächten, eine historisch notwendige Gegengewalt darstellten. „Sie richtet sich gegen physische und strukturelle Gewalt, welche die Kolonialmacht permanent gegen die Kolonisierten einsetzt.“ (Frantz Fanon nach Sabine Kebir, Privatdozentin an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt/Main, in Wikipedia)

 

(Nächste Woche lesen Sie von Ellen Diederich im Rahmen Ihrer Serie über 1968 u.a.: „Der Vietnamkrieg“)

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