50 Jahre 1968 (3)

 In Ellen Diederich, FEATURED, Politik

Szene aus dem Vietnam-Film “Platoon” von Oliver Stone

„Achtundsechzig, das ist das lustvolle Zähnefletschen des Gespenstes der Freiheit, der nachhaltige Schrecken für jede Art von Autoritäten und Bürokraten.“ Im Jahr 2018 ist es also 50 Jahre her, dass die 68er ihre Revolte begannen. Zu kaum einem anderen Inhalt, kaum einer anderen Bewegung gibt es so viele verschiedene, auch häufig verdrehte Berichterstattungen bis hin zu Diskriminierungen. Zeit, noch einmal zu versuchen, sich zu erinnern. Ja, wir sind alt geworden. Aber beileibe keine „Alt-68erInnen“. Der Wunsch zur Rebellion und zur Veränderung hat uns nicht verlassen. (Ellen Diederich)

Der Vietnam Krieg

Ab 1964 wurde ein Grauen in die Protestbewegung hineingetragen, das die politische Entwicklung erheblich bestimmt hat: Der Krieg des diktatorischen Thieu Regimes von Südvietnam und seiner Verbündeten, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, gegen das Volk von Vietnam.

1945 proklamierten die Kommunisten in Vietnam ihr Land als unabhängig von der Kolonialmacht Frankreich. Frankreich akzeptierte die Proklamation nicht, sondern antwortete mit Erhöhung des Militärpotentials. 1946 begann der Widerstand vietnamesischer Kommunisten und anderer Gruppen im so genannten Indochinakrieg. Dieser Krieg war einer von vielen Befreiungskriegen in Asien, Afrika und Lateinamerika zu der Zeit. Der Anführer der Kommunisten war Ho-Chi-Minh. Ein Ergebnis der Auseinandersetzungen war 1954 die Teilung des Landes in einen kommunistischen Norden und einen antikommunistischen Süden. Im Norden war die Kommunistische Partei die stärkste politische Organisation.

Der Süden wurde nur wenige Jahre später Schauplatz eines Bürgerkriegs, den die USA als Bedrohung ihrer Interessen interpretierten. Ihr direktes Eingreifen in den Krieg begründeten sie mit dem so genannten Tonkin-Zwischenfall. So bezeichnet man die Ereignisse im Golf von Tonkin vor der Küste des damaligen Nordvietnam im August 1964, bei denen ein US-amerikanisches Kriegsschiff angeblich in ein Gefecht mit nordvietnamesischen Schnellbooten verwickelt wurde. Der Zwischenfall wurde von der amerikanischen Regierung um Lyndon B. Johnson als Vorwand für die offizielle Beteiligung der USA an den damals stattfindenden Feindseligkeiten zwischen den beiden Landesteilen benutzt, die sich in der Folge zum Vietnamkrieg (1964–75) ausweiteten. Der ehemalige Pentagon-Mitarbeiter, später einer der aktivsten Antikriegsaktivisten der USA, Daniel Ellsberg, deckte die US-Darstellung des Tonkin Zwischenfalls als bewusste Falschinformation auf. Dieses wurde am 30.11.2005 durch den US Geheimdienst NSA bestätigt.

Die USA begannen mit Bombardierungen Nordvietnams am 2. März 1965. Eine Woche später landeten die ersten US-Truppen in Vietnam. Militärische Berater des US Militärs hatten allerdings schon länger die südvietnamesische Regierung beraten.

Die FNL – Front National de Libération – oder auch der Vietcong war eine starke Guerillabewegung im Norden. Der Norden wurde militärisch durch China und die Sowjetunion unterstützt. Um dem Vietcong die Möglichkeiten ihrer militärischen Strategien abzuschneiden, insbesondere den Ho-Chi-Minh-Pfade, wurde der Dschungel Vietnams mit dem verheerenden Gift Agent Orange vergiftet. Agent Orange ist der militärische Codename eines Entlaubungsmittels (CAS 39277-47-9). Es enthält Dioxin, Rückstände befanden sich Jahrzehnte lang im Boden. Auch Agrarflächen wurden bespritzt, um dem Norden die Möglichkeit, Nahrung anzubauen, zu nehmen. Insgesamt wurden mehr als 6.000 Einsätze dieser Art geflogen. Der Einsatzbefehl wurde von John F. Kennedy unterzeichnet. Das verwendete Gift beschädigt die Gene auch der nachfolgenden Generationen. Im Friedensdorf in Oberhausen sind seit dem 6-Tage-Krieg 1967 ständig an die 200 schwerst verletzte Kinder aus verschiedensten Kriegsgebieten. Dort ist inzwischen die dritte Generation von Kindern aus Vietnam, die Enkel von Agent-Orange-Opfern.

Hergestellt und geliefert wurde Agent Orange damals von der Firma Dow Chemical und dem Agrar-Konzern Monsanto sowie vom tschechischen Unternehmen Spolana in Neratovice. Monsanto ist bis heute einer der weltweit agierenden großen verbrecherischen Konzerne. Heute versucht er, sich die Patente auf Pflanzen anzueignen. U.a. hat er einen Samen entwickelt, der Selbstmordsamen genannt wird. Die Bauern können nicht Saatgut von der Ernte aufbewahren, um ihn nächstes Jahr wieder auszusäen. Die Samen sind unfruchtbar, so dass die Bauern gezwungen sind, jedes Jahr neues Saatgut zu kaufen. Dieses Saatgut funktioniert nur mit entsprechenden Düngemitteln, die auch zugekauft werden müssen. Viele tausend Bauern können sich den Kauf nicht leisten. Sie mussten Kredite aufnehmen, die sich nicht zurückzahlen konnten. Mehrere zehntausend Bauern in Indien haben Selbstmord begangen. Es gibt in Indien inzwischen besondere Schulen für Kinder von Bauern, die sich das Leben genommen haben. Der WDR berichtete gerade darüber: „Die traurigsten Schulen der Welt“, heißt der Beitrag.

Ab 1970 weiteten die Vereinigten Staaten ihre militärischen Aktionen, insbesondere die verheerenden Bombardierungen, auf die Nachbarstaaten Kambodscha und Laos aus. Trotz all dieser militärischen Einsätze und Bombardierungen – es wurden mehr Bomben abgeworfen als im gesamten 2. Weltkrieg zusammen – konnten die USA den Vietcong nicht besiegen. Ab 1969 bis zum März 1973 wurden die US-Truppen wieder aus Südvietnam abgezogen. Der Krieg endete mit der Einnahme Saigons am 30. April 1975 durch nordvietnamesische Truppen und hatte die Wiedervereinigung des Landes zur Folge.

Der Vietnamkrieg forderte etwa drei Millionen Todesopfer, davon waren zwei Millionen Zivilpersonen. Vier Millionen Menschen erlitten schwere Verletzungen

1968 hatten die USA 536.000 Soldaten in Vietnam stationiert. An die 60.000 verloren ihr Leben, 153.000 wurden verletzt. Nach dem Krieg begingen mehr ehemalige US-Soldaten Selbstmord, als in Vietnam getötet worden waren.

Die Ausgaben für den Vietnamkrieg beliefen sich pro Jahr auf 61 Milliarden Dollar (zu dem Zeitpunkt stand der Dollar bei 3,50 DM), also insgesamt von 1964 bis 1972 knapp 500 Milliarden US Dollar. (Der Irak-Krieg kostete über mehrere Jahre etwa 94 Milliarden Dollar pro Jahr)

In der BRD fanden viele Demonstrationen gegen den Vietnam-Krieg und 2 große Vietnam-Kongresse in Berlin und in Frankfurt am Main statt. Dort sagte Oskar Negt:

„Studenten und Jugendliche der westlichen Welt waren die Einzigen, die das Grundrecht der Informationsfreiheit ernst nahmen, um sich über Völkermordpraktiken auch verbündeter Nationen zu informieren und öffentlich dagegen aufzutreten. Auf ihren Protestdemonstrationen wurden sie geprügelt und beschimpft; für den großen Teil war es die erste Erfahrung der manifesten Gewalt im eigenen Lande, und viele haben das bei späteren Aktionen immer wieder bestätigt und niemals vergessen.“
(Oskar Negt, Rede in Frankfurt)

Die Fiat Streiks, Potere operaio – Autonomia

Italien zerfällt bis heute in zwei Teile: den hoch industrialisierten Norden mit modernsten Produktions- und Arbeitsorganisationen stehen in Süditalien Verhältnisse mit zum Teil mittelalterlichen Eigentumsstrukturen in der Landwirtschaft gegenüber.

Es gibt eine andere Art der politischen Bewegung. Bei vielen Treffen in Italien habe ich drei Dinge immer als sehr anders erfahren. Auf der einen Seite war die Widerstandsbewegung gegen Mussolini und den italienischen Faschismus nicht so gründlich zerschlagen wie die in Deutschland.

Es gab immer aus allen Generationen Menschen, die zusammen auf die Straße gingen, die Jungen konnten ungebrochener von den Alten lernen. Dann gab es eine andere Streitkultur. Auch Menschen aus verschiedenen Gruppen und Organisationen diskutierten, stritten sich und konnten dennoch abends zusammen sitzen, singen, essen und trinken. Der dritte Unterschied bestand vor allem darin, dass sich in Italien alles immer sehr schnell umsetzte in praktische Anstrengungen und Aktionen.

So war auch, anders als in Deutschland, sehr viel schneller und intensiver eine Verbindung zwischen StudentInnen und ArbeiterInnen geschaffen. Die Bewegung wurde sehr schnell militant, es gab Aktionen innerhalb und außerhalb des Betriebes. Die Militanz hatte ihren Ursprung in der veränderten sozialen Zusammensetzung der italienischen Arbeiterklasse. Unzählige arbeitslose Jugendliche aus dem ländlichen Süden kamen in den Norden, um in den Fabriken zu arbeiten. Sie hatten meistens nur wenige Jahre Schulbesuch absolviert. Ein Ergebnis der Kämpfe war die Aktion 120 Stunden. Das bedeutete, dass sowohl die Arbeiter als auch die Betriebe 120 Stunden zur Verfügung stellten, um zu lernen. Mathematik wurde an praktischen Problem des Betriebs gelernt, Sprache an Alltagserfahrungen usw. Eine großartige Kampagne.

Die Arbeiter wurden mit extremen Arbeitsbedingungen konfrontiert: Hohe Fließbandgeschwindigkeiten, Aufgliederung der Arbeit in monotone Einzelhandgriffe und ein brutales Aufsichtssystem von Managern und Vorarbeitern. Das Ergebnis war eine enorme Wut. Die Studentenrevolte war der Zündfunke, der diese Wut zum Explodieren brachte.

„Die Fiat ist unsere Universität“ hieß eine Umfrage unter jungen ArbeiterInnen. Die Fragen waren von Potere operaio (Arbeitermacht) und einigen Gruppen des Movimento Studentesco entwickelt worden.

Die Fragen waren u.a.:

Was hältst du von deiner Arbeit?

Wie sehen deine Forderungen aus?

Welche Form des Kampfes und der Organisation hältst du für die wirksamste?

Welche Hilfe können die ArbeiterInnen in ihren weiteren Kämpfen von der Studentenbewegung erwarten?

In den Antworten zeigte sich die Entfremdung von der Arbeit als Desinteresse, Abscheu, Hass auf die eigene Arbeit.

„Für mich bedeutet ein Tag, an dem ich nicht zur Arbeit gehe, dass ich ein Jahr länger lebe.“

„Es ist zum Verrücktwerden, unmögliche Rhythmen, chronischer Mangel an Springern, Repressionen des Unternehmers.“

„Es ist grauenhaft, meine Lungen atmen 8 Stunden lang den Dunst von Säuren ein.“

„Ich fühle mich wie ein Unschuldiger im Kerker.“

„Ich glaube, meine Arbeit ist ein Instrument dafür geworden, dass es den Unternehmern immer besser geht. Sie ist eine Diktatur im Gewand der Demokratie.“

„Es genügt ein Wort: FIAT = Ausbeutung, Demütigung, Unterwerfung.“

(Fiat Streiks, München 1970, S. 6 ff)

Die Zahl der Streiks vervierfachte sich zwischen 1968 und 1969. Die Streiks waren meist spontan, an den Gewerkschaftsstrukturen vorbei und militant. Betriebsbesetzungen, gezielte Sabotage zur Lahmlegung der Produktion und massenhaftes Krankfeiern waren die Kampfformen der Bewegung. Die Fabrikkämpfe weiteten sich schließlich bis zum Herbst 1969 in einem ungeahnten Ausmaß aus. Der Höhepunkt war ein landesweiter Generalstreik mit einer Demonstration am 25. September in Turin mit 600.000 Metallarbeitern.

Aufschwung

Die Streikbewegung veränderte die italienische Linke schlagartig. 1968 gab es keine nennenswerte revolutionäre Linke in Italien, alles wurde überschattet von den 1,5 Millionen Mitgliedern der kommunistischen PCI. 1973 hatte Italien die größte revolutionäre Linke aller entwickelten Industrieländer, mit Zehntausenden von Anhängern und drei Tageszeitungen.

Neue Organisationen entstanden direkt aus dem Kampf. Aus gemeinsamen Versammlungen von Studenten und Arbeitern bei Fiat Mirafiori in Turin ging die Organisation Lotta Continua hervor. Vier Monate nach der Gründung organisierte Lotta Continua tausende von militanten Arbeitern und vertrieb eine Wochenzeitung mit einer Auflage von 65.000 Stück. Die Zeitung wurde auf wöchentlichen Massenversammlungen verteilt, auf der bis zu 1.000 Arbeiter in einem Betrieb teilnahmen. Diese Versammlungen fanden jede Woche in einer anderen Stadt statt, Arbeiter fuhren mit Bussen aus den großen Fabriken Italiens zu den Treffen.

Die Streiks griffen über die Betriebe hinaus. Ein Zeitzeuge beschreibt die Dynamik: “Die Bewegung folgt einer Spirale, die ihren Ausgang meist von einem artikulierten Streik nimmt. Der Unternehmer, noch unerfahren, antwortet mit Aussperrung und Entlassung. Die Arbeiter kontern mit einem Solidaritätsstreik, in den mehr und mehr Abteilungen hineingezogen werden, die Studenten werden von den Arbeitern in die Fabrik hineingelassen, die Arbeiter kommen in die Universität. Der Verkehr, erst vor dem Betrieb, dann in den Hauptstraßen der Stadt, wird blockiert. Die Polizei greift an. Straßenschlachten, Barrikaden, Rathausbesetzungen, Solidaritätsstreiks anderer Betriebe, der Schulen und Universitäten sind die Folge”.

(Nächste Woche lesen Sie von Ellen Diederich im Rahmen Ihrer Serie über 1968 u.a.: „Der Pariser Mai“)

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