50 Jahre 1968 (9)
„Achtundsechzig, das ist das lustvolle Zähnefletschen des Gespenstes der Freiheit, der nachhaltige Schrecken für jede Art von Autoritäten und Bürokraten.“ Im Jahr 2018 ist es also 50 Jahre her, dass die 68er ihre Revolte begannen. Zu kaum einem anderen Inhalt, kaum einer anderen Bewegung gibt es so viele verschiedene, auch häufig verdrehte Berichterstattungen bis hin zu Diskriminierungen. Zeit, noch einmal zu versuchen, sich zu erinnern. Ja, wir sind alt geworden. Aber beileibe keine „Alt-68erInnen“. Der Wunsch zur Rebellion und zur Veränderung hat uns nicht verlassen. (Ellen Diederich)
Die Sache der Frauen
Wie sah die Situation 1968 von Frauen aus? Ein paar Daten.
Nach wie vor durfte der Mann bestimmen, ob eine Frau arbeiten gehen darf oder nicht. Die Einkommensschere war grandios. Frauenarbeit in den Fabriken wurde als Leicht-Lohnarbeit beurteilt und dementsprechend weniger bezahlt. Für die Kontoeröffnung brauchte es die Zustimmung des Ehemannes. Unverheiratete Frauen und Männer durften im Hotel oder privat nicht zusammen in einem Zimmer übernachten, da gab es den Straftatbestand der Kuppelei. Die Pille wurde weitgehend nur an verheiratete Frauen ausgegeben. Abtreibung war strafbar. Die Macht der Frauenärzte war grenzenlos, die Frauen wussten so gut wie nichts über den eigenen Körper. Noch bis Mitte der siebziger Jahre wurde an der Frankfurter Uni keine Frau als Gynäkologin ausgebildet. Gewalt gegen Frauen war massiv vorhanden, aber ein Tabuthema. Die Sexualität war ebenfalls kein „öffentliches Thema“. Frauen durften in vielen Berufen und der Öffentlichkeit keine Hosen tragen.
Alle Organisationen, Parteien, Verbände, Kirchen waren patriarchal organisiert.
Das Patriarchat gab es aber auch in den Organisationen der Linken, Strukturen, die die angestrebte Gleichheit von Männern und Frauen nicht erfüllte. Die Sache der Frauen war auch hier etwas, was nur mit radikalen Mitteln, selbst innerhalb der antiautoritären Bewegung klar gemacht werden konnte. Es gab den berühmten Tomatenwurf gegen die Wortführer des SDS, wobei Ulrike Meinhof damals sagte: Sie glaube, dass noch ganze Güterzüge von Tomaten verfeuert werden müssten, bevor die Genossen etwas kapierten.
Helke Sander hielt ihre berühmte Rede auf dem SDS Kongress, sie symbolisiert den Beginn der neuen Frauenbewegung. „Wir können mit der Lösung der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen nicht auf Zeiten nach der Revolution warten, da eine nur politisch-ökonomische Revolution die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt.“
Achtundsechzig ist der Beginn der neuen Frauenbewegung, einer Bewegung, die zeigte, dass das „Persönliche politisch ist“, die der Gewalt gegen Frauen als Tatbestand vorgeblicher Privatheit den Schleier weggerissen hat. Es ist eine Bewegung, in der die Frauen sich ihrer Körper bewusst werden, mit Hilfe von Frauenärztinnen lernten wir Selbstuntersuchungen, schmissen BHs weg, Misswahlen wurden boykottiert, Frauenhäuser gegründet, in denen Frauen vor Gewalt Schutz finden, Beratungsstellen, Frauenzentren, -buchläden, -cafes, -verlage, -filmfestivals. Viele der Projekte sind an der kapitalistischen Ökonomie gescheitert.
Eine Auseinandersetzung begann, die sowohl den Kapitalismus, als auch das viel tiefer liegende Patriarchat analysierte und bekämpfte, auch innerhalb der Linken, die gerade in dieser Frage bis heute in vielem konservativer ist als man vermuten möchte. Eine breite Debatte zwischen Frauenbewegung und der Linken begann, in Büchern beschrieben wie in Maria Mies: „Patriarchat und Kapital“. Anderen wie z.B. dem mit dem sarkastischen Titel „Das höchste Glück auf Erden. Frauen in linken Organisationen“. Oder „Politik der Subjektivität“, „Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft“ und vielen anderen.
Achtundsechzig das sind weitere Schlüsselbücher für das neue Frauenbewusstsein, wie das der niederländischen Aktivistin Anja Meulenbelt: „Die Scham ist vorbei!“ Sie schreibt:
„Es ist kein Zufall, denke ich später, dass ich erst für die Frauenbewegung empfänglich wurde, als ich nichts mehr zu verlieren hatte. Kein einziger Traum, hinter dem ich mich noch verstecken konnte. Keine Klassenprivilegien mehr. Misslingen meiner Arbeit. Im Stich gelassen durch die politischen Gruppierungen, von denen ich das meiste erwartet hatte.
Ich will keine Kompromisse schließen. Nach dem Kompromiss, bei dem ich in politischer Sprache schrieb, ökonomischer Sprache, um für die Genossen verständlich zu sein, zeigte es sich, dass zuviel weggefallen war, was nicht in die Schemata passte. Ich schreibe, um mein Gleichgewicht wieder zu finden. Gegengewicht zur marxistischen Sprache, in der ich vieles erfassen konnte, aber nicht alles. Es müsste eine Einheit sein, es muss eine Einheit werden, aber das ist es noch nicht. Das Persönliche ist Politik, aber vorläufig zieht sich durch mein Schreiben derselbe Bruch wie der, mit dem ich auch in der Realität nicht fertig werde.
Wieder die Versuchung, es dabei zu belassen. Dazu zu gehören. Die Genossen von früher, die lügen, dass sie schon immer vorausgesehen haben, wie wichtig wir werden würden. Die Solidarität vortäuschen, die sie noch nie gefühlt haben. Es wäre so schön, ihnen zu glauben. Kein Schmerz. Keine Kluft. Kein Hass. Keiner der Genossen sieht sehr streichelbar aus.“ (S. 149 ff.)
Wichtige politische Gruppen wurden durch den Widerspruch von Männerdominanz und erwachendem Frauenbewusstsein erschüttert: Die Black Panthers in den USA, der PdUP und Lotta Continua in Italien und auch der SDS hatte an diesem Problem scharfe Auseinandersetzungen,
Am 23. November 1976 veröffentlichte die Zeitung „Il Manifesto“ in Italien den berühmten Brief „Liebe Genossen, wir verlassen Euch“ von 12 Frauen aus der Partei der Proletarischen Einheit, dem PdUP:
„Wir werden unsere Mitgliedsausweise nicht erneuern und wir ersetzen sie auch nicht durch andere. (…) Damit wollen wir nicht sagen, dass wir zur Partei keine Meinung haben und ihre positiven oder negativen Eigenschaften nicht in Betracht ziehen, sondern nur, dass sich unsere wirkliche politische Motivation aus dem Feminismus, aus unserer politischen Aktivität in der Frauenbewegung sowie aus der Beziehung ergibt, die wir zu den Frauen in der Partei gehabt haben. (…) Die Verflechtung der in der Partei geltenden Geschlechterrollen mit dem Kampf und der politischen Organisation hat uns allmählich von der totalen Unversöhnlichkeit der Partei mit den in der feministischen Bewegung gereiften Inhalten und Zielen überzeugt.
Was wollten wir von einer Partei neuen Typs? Wir wollten eine Auseinandersetzung, die ihre Legitimität aus dem tiefen Glauben an das anfängliche Projekt zog; einem Glauben, der sich auf einem für die Linke neuen Versuch gründete, sich auf der Basis von Zielvorstellungen wie der Überwindung der Arbeitsteilung, der Bejahung der Intelligenz und Kreativität eines und einer jeden und der Beseitigung des Bruchs zwischen Öffentlichem und Privatem zusammenzufinden.“
(Michaela Wunderle: Politik der Subjektivität. Texte der italienischen Frauenbewegung, Suhrkamp, S. 230)
Zunächst arbeiteten die Frauen in der Form der „doppelten Militanz“, d.h. sowohl in der Frauenbewegung als auch in den Organisationen der Linken. Dann aber stellten sich die Unterschiede immer deutlicher heraus: Die Frauenbewegung in Italien war eine Massenbewegung ohne das Schema, das bisher alle linken Organisationen als Programmatik haben: Vereinheitlichtes Bewusstsein der Massen. Die Frauenbewegung war eine Bewegung, in der die Frauen begonnen hatten, die ihnen durch Werbung und Medien weggenommen Körper wieder zu finden, eine Bewegung, die den Mythos vom vaginalen Orgasmus zerschlagen hat.
Ihr grosser Slogan war: „Tremate, tremate, le stregghe son tornate!”
Zittert, zittert, die Hexen sind zurück.
„Wir stellten fest, dass die Marxsche Analyse die Arbeit der Frauen, die nahezu die Hälfte des Arbeitsvermögens ausmacht, Hausarbeit, unbezahlte Arbeit, nicht in die Analyse einbezogen hat. „Der Marxismus hat der Frauenbewegung kein nennenswertes Erbe im Hinblick auf das Verhältnis der Frauen zum kapitalistischen Plan der Entwicklung und Unterentwicklung hinterlassen.“ sagten die Italienerinnen. Das heißt nicht, grundlegende Erkenntnisse zu negieren, die Ergebnis der marxistischen Analyse sind. Aber sie ist nicht genügend und fehlerhaft. Eine für uns sehr wichtige Frage, sehr einfach eigentlich:
„Haben Frauen, die keine Lohnarbeiterinnen sind, bloße Hilfsfunktionen für den Kapitalismus (wie man annahm) und haben sie deshalb eine bloße Hilfsfunktion für einen grundlegenderen politischen Kampf gegen den Kapitalismus? Kann irgend etwas jemals ‚allgemein‘, ‚politisch‘ gewesen sein, das so viele Frauen so lange ausgeschlossen hat?“
Fragten Selma James und Mariarosa Dalla Costa in ihrem Buch: Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, das ein Schlüsselbuch wurde.
Diese Fragen elektrisierten uns, sie waren Ausgangspunkt für viele Überlegungen. Wir sind ein Stück weiter gekommen in unseren Bemühungen, die Barbarei in den alltäglichen Beziehungen einzufangen. Wir haben dabei nicht vergessen, dass die Verhältnisse noch immer ohne bewusstes Planen hinter dem Rücken der Menschen entstehen. Von Berlin über die CSSR nach Moskau, Peking, Santiago ist’s eine weite Reise, von der Pariser Commune über Marx, Lenin, Bloch zu Herbert Marcuse eine Zeit unzähliger Kämpfe, in der die Geschichte der Frauen noch zu wenig vorkommt. Wir haben angefangen, unsere Geschichte zu machen und zu schreiben. (…) Wir haben es vielleicht einfacher. Für unsere Geschichte haben wir das Symbol der französischen Revolution: die Marianne. Wir haben Louise Michel, Emma Goldmann, Alexandra Kollontai, Clara Zetkin, Rosa Luxemburg nur in einem kleinen Teil, Simone de Beauvoir, Angela Davis. Wir haben die Schwester Che Guevaras, die Witwe von Allende. Aber wir haben so viele, die angefangen haben, zu beschreiben, was sie sehen.
Wir haben keinen Freud, sondern die Selbsterfahrung in kleinen Gruppen, die Erforschung des Unbewussten, das dem Körper, dem Denken, dem Fühlen und Handeln tiefe Zensuren einschreibt“.
(Michaela Wunderle, Politik der Subjektivität, 1977, S.52)
Wir lehnen die Bildung von Avantgarde-Gruppen ab, die den Massen das richtige Bewusstsein bringen soll. Die Frauenbewegung ist vielschichtig, es gibt kein geschlossenes Theoriekonzept. die Treffen haben nicht den Charakter: Auszuführen, was irgendwo anders am grünen Tisch entworfen wurde. Die Treffen, die Projekte, die Demonstrationen, die Entwicklung alternativer Medizin, Psychologie, die tägliche Arbeit ist die Praxis. Es entstehen Versuche erster Verallgemeinerungen, es wird wichtig sein, grundlegende Fragen zu analysieren, zu beantworten.
Die Frauenbewegung hat unendlich viel bewegt. Heute ist sie bei uns formalisiert, angelangt sind wir u.a. beim verschleiernden „Gender mainstreaming“.