Akte X-Revival: Die Wahrheit in Zeiten der Totalüberwachung

 In Kultur, Roland Rottenfußer
David Duchovny, Gillian Anderson in den 90ern

David Duchovny, Gillian Anderson in den 90ern

„Vertraue niemandem“ oder „Die Wahrheit ist irgendwo da draußen“ – mit solchen Sprüchen wurden die „X-Files“ in den 90er-Jahren zu eine der einflussreichsten Serien der Fernsehgeschichte. Überraschend hat sich das alte Team nun für sechs neue Folgen – ausgestrahlt im Februar/März 2016 auf Pro7 – zusammengefunden. Mulder und Scully, das schmucke Agentenpärchen, müssen sich darin in einer radikal veränderten Post-Nine-Eleven-Welt zurechtfinden. Ist die Faszination, die die Serie seinerzeit auf Millionen Menschen ausübte, wiederholbar? Und werden sich die Serien-Macher trauen, die wirklich brisanten Themen der Weltpolitik anzupacken? (Roland Rottenfußer)

„Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau.“

Eines der bekannten Gedichte Goethes handelt vom Widerstreit zweier unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen. Die eine, die des Sohnes, ist mystisch. Der Bub sieht buchstäblich Gespenster. Die andere Sichtweise, die des Vaters, führt alles „Mysteriöse“ auf überprüfbare, gar nicht so geheimnisvolle Realität zurück. Imagination vs. Ratio könnte man auch sagen. Es hat in der Literaturgeschichte mehrere solcher Antagonistenpaare gegeben. Das bekannteste sind Don Quixote, der für die Überlagerung der Realität durch eine wuchernde Fantasie steht, und Sancho Pansa, der den „gesunden Menschenverstand“ verkörpert.

Mulder und Scully, die Hauptfiguren der Serie „Akte X“, ausgestrahlt erstmals 1993-2002, sind so ein Paar. In ihnen wiederholte sich der ewige Widerstreit der geistesgeschichtlichen Tendenzen, die man vereinfacht Romantik und Aufklärung nennen könnte. Gespielt wurde das ungleiche Agentenpaar, das sich lange nicht traute, auch ein Liebespaar zu werden, von David Duchovny und Gillian Anderson. Die Serie, entwickelt von Chris Carter, behandelte eine Reihe ungelöster Fälle des FBI, bei denen „übernatürliche“ Phänomene eine Rolle spielten. Fox Mulder war überzeugt, seine Schwester sei von Aliens entführt worden, als er noch ein Junge war; daher gingen ihm viele der Fälle existenziell nahe. Dana Scully, die kühle Rothaarige, war Wissenschaftlerin und dem Heißsporn Mulder quasi als Kontrolleurin an die Seite gestellt.

Don Quixote und Sancho Pansa als Liebespaar

Neben abgeschlossenen Folgen, die das ganze Mystery-Repertoire auf den Bildschirm brachten (Geistererscheinungen, Monster, Rückführungstherapie…), gab es auch eine Rahmenhandlung mit aufeinander aufbauenden Episoden. Darin ging es u.a. um einen Geheimbund, angeführt von einem kaltschnäuzigen Alten („Der Raucher“). Die Grauen Herren hatten mit Außerirdischen verabredet, dass diese Experimente an Menschen – u.a. die Züchtung von Mensch-Alien-Hybriden – durchführen durften. Im Gegenzug würden die Aliens auf eine große Invasion auf der Erde verzichten. Der „Raucher“ entpuppte sich als Mulders Vater. Auch ein Baby Scullys, dessen Herkunft nicht völlig geklärt war, spielte eine Rolle.

Ab der 7. Staffel wurden Duchovny und Anderson, die „serienmüde“ geworden waren, durch die Agenten Doggett und Reyes (Robert Patrick und Annabeth Gish) abgelöst wurden. Sie tauchten dann nur noch in Gastauftritten auf. Die Quoten bröckelten, das Ende der Serie schien – wie bei „Lost“ – unbefriedigend und wenig durchdacht. Dana Scully „bekehrte“ sich gegen Ende teilweise zu Mulders Glauben an das Mysteriöse, da die Beweise hierfür überwältigend schienen. „Ich kam an den Punkt, an außerirdisches Leben zu glauben und an eine Verschwörung der Regierung, deren Existenz geheim zu halten“, sagte sie an einer Stelle.

2012 und der abgeflaute Esoterik-Optimismus

Die Ankündigung von Akte-X-Macher Chris Carter, 2016 eine neue Staffel mit 6 Episoden ins Fernsehen zu bringen, kam für die meisten überraschend. Das Thema schien „durch“ zu sein. Der zweite Akte X-Kinofilm „Jenseits der Wahrheit“ von 2008 war eine Enttäuschung gewesen. Die “Mythologie“ (wie die Macher großspurig den größeren Handlungsbogen der Serie nannte) wurde nicht fortgesetzt. Stattdessen gab es nur einen reichlich beliebig wirkenden Fall, aufgeblasen auf Spielfilmlänge. Zum Ende der 9. Staffel (ausgestrahlt 2002) hatte der „Raucher“ noch eine Prophezeiung ausgesprochen, die sich auf das Jahr 2012 und den Maya-Kalender bezog. Als das ominöse Jahr dann tatsächlich herannahte, waren auf einigen Internet-Seiten Spekulationen zu lesen, es sei ein großer, dritter Akte-X-Film geplant. Inhalt: ein spektakulärer Alien-Angriff im Jahr 2012. Der Film blieb aus – ebenso wie andere Bahn brechende Ereignisse in jenem Jahr.

Warum glaubten die Macher, dass „Akte X“ 2016 wieder „funktionieren“ würde? Man kann die alte Serie auch als Ausdruck einer Zeitstimmung interpretieren, die sich von der heutigen in vieler Hinsicht unterscheidet. Auffällig waren 1993 eine relative Popularität von Verschwörungstheorien sowie ein Esoterik-Optimismus, der heute – in Zeiten des bröckelnden Esoterik-Markts – überholt erscheint. Als die Serie konzipiert wurde, war die Wiedervereinigung Europas noch jung. Der Westen schien stark wie nie, ein „unipolare“ Weltordnung und gar das „Ende der Geschichte“ in Sicht. Gleichzeitig erlebte der starke Staat in den USA einen Vertrauensverlust. Verschwörungstheorien boomten und wurden teilweise zum Volkssport. Oliver Stones Film „JFK“, der eine Regierungsbeteiligung am Tod des Präsidenten suggerierte, kam 1991 in die Kinos.

Ein diffuses Gefühl der Bedrohung

„Akte X“ griff diesen Zeitgeist auf und heizte ihn gleichzeitig kräftig mit an. Dabei waren die Inhalte der in der Serie offenbarten Verschwörungen zwar spannend, aber im Prinzip nebensächlich. Was faszinierte, war die diffuse Atmosphäre von Bedrohung, der Nebel aus Fakten, die sich bei näherem Hinsehen als brüchig erwiesen, und aus Spekulationen, die plötzlich ungeahnt real wurden. Diese Versuchsanordnung war ein Spiegel des seelischen Zwiespalts vieler Menschen im Übergang zwischen dem vorherrschenden wissenschaftlichen und dem heraufdämmernden „ganzheitlich-spirituellen“ Weltbild. Eine vergleichbare Atmosphäre muss im späten 18. Jahrhundert geherrscht haben, als der Geheimbundroman in Deutschland und der Schauerroman in England blühten – beides Inspirationen für eine umfassendere Geistesbewegung, die wir heute als „Romantik“ kennen.

Im Zentrum des „Mystery“-Booms der 90er, den man durchaus als neuromantisch verstehen kann, stand Vertrauens-Verlust. Er betraf die Glaubwürdigkeit der Institutionen (Staat, Geheimdienste, Militär) ebenso wie das schwindende Vertrauen in die eigene Wahrnehmungsfähigkeit, ja in die Rekonstruierbarkeit der Realität überhaupt. Die Mystery-Welle kam nicht naiv daher, der Paranoia-Verdacht war von vornherein eingepreist. Man misstraute sogar dem eigenen Misstrauen – eine Haltung, die in der Figur Scully trefflich Gestalt annahm. „Vertraue niemandem“, das Mantra der Serie, war, so Chris Carter, ein „Aufschrei“ der verletzten Kollektivseele. Jeder, so Carter, möchte doch vertrauen können. Aber wem kannst du noch trauen, wenn die zu deinem Schutz Bestellten dich verraten?

Eine Verschwörung gegen Verschwörungstheorien?

Verschwörungstheorien waren das Symptom eines sich formierenden geistigen Widerstands gegen eine „Megamaschine“ aus Staat, Wirtschaft, Geheimdiensten, Militär und Medienkonzernen, die die Absicht zu verfolgen schien, die Menschheit in einem Dämmerzustand aus Unwissenheit festzuhalten. Naturgemäß konnte man über den Wahrheitsgehalt von Verschwörungstheorien schon damals streiten. Auch waren sie nicht gefeit vor krassen Irrwegen. Aber sie waren in den 90ern teilweise salonfähig und hatten den Mainstream erreicht. Heute hat es ein einflussreicher Teil der Öffentlichkeit geschafft, „Verschwörungstheorie“ zum Schimpfwort zu erklären – unabhängig von deren Wahrheitsgehalt. Ein Teil (rechte und antisemitische Verschwörungstheorien) wird für das Ganze genommen, und jemand muss nur das V-Wort in den Diskurs einbringen, schon ist der so Bezeichnete öffentlich diskreditiert. Es braucht nicht viel paranoide Fantasie, um die Vermutung zu äußern, dass die Tabuisierung des Begriffs „Verschwörungstheorie“ Kräften hilft, die sich vor berechtigter Kritik schützen wollen.

Einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung von Verschwörungstheorien markierte dabei der 11. September 2001. Das Ereignis vollzog sich kurz vor Ablauf der letzten Akte-X-Staffel und vermutlich erst nach Beendigung der Arbeit an den Drehbüchern. Es fand keinen Eingang mehr in die Handlung. In der Folge von „Nine Eleven“ drehte sich die öffentliche Meinung jedoch massiv pro Regierung. Interessanterweise äußerte sich Chris Carter hierzu in einer Dokumentation zur neuen Staffel. „Einer der Gründe, warum es aufregend war, die Serie wiederzubeleben, bestand darin, dass wir es mit einer komplett veränderten Welt zu tun hatten. Nach Nine Eleven setzten die Menschen ihr Vertrauen gänzlich in die Regierung. Sie wollten nichts hören von Regierungs-Verschwörungen. Sie wollten überzeugt sein, dass ihre Regierung sie beschützte.“

„Wir waren nie in größerer Gefahr“

Schon der Trailer zur Serie deutete an, dass auch der Überwachungsstaat – dessen Installierung nach dem September 2001 eskalierte – darin eine Rolle spielen würde. Die Bilder suggerieren einen Anschlag, der als von Terroristen ausgeführt „erscheinen“ soll und bei dem Alien-Technologie eine Rolle spielt. Der gealterte Fox Mulder sagt in einer der Folgen zum ebenfalls reaktivierten Director Skinner: „Sie überwachen uns, spionieren uns aus und erzählen uns, dass dadurch die Welt sicherer wird – wir waren nie in größerer Gefahr.“ Glen Morgan, Co-Autor der Drehbücher, gibt zu Protokoll: „Es scheint, als sei wahr geworden, wovor uns Mulder damals hatte warnen wollen. Jeder starrt auf seine Telefone, es fliegen Drohnen über den Köpfen…“

Chris Carter gibt als Grund für die Wiederaufnahme vor allem die Wünsche der Fans an, die die Serie quasi wieder zurück ins Leben geliebt hätten. Was hat die Staffel sonst zu bieten? Eine neue Figur wird eingeführt, der junge Webseiten-Betreiber Tad O’Malley (Joel McHale). Sein Misstrauen gegen die Regierung trifft sich mit den Theorien Mulders, den er – stellvertretend für viele jüngere Zuschauer – als Legende verehrt. Tad „rekrutiert“ Mulder zu Beginn der Handlung von Folge 1 für einen besonderen Auftrag. Für den Jungspund ist der 11. September „Teil einer Verschwörung, die bereits mit dem UFO-Absturz in Roswell angefangen hat“. Im Mittelpunkt der ersten Folge steht außerdem eine von Alien entführte Frau. Auch mit der Frage „Lieben sich Mulder und Scully?“ wird wieder geschickt gespielt. Und nicht zuletzt erlebt der tot geglaubte „Raucher“ seine Wiederauferstehung.

Truther-Thesen – nach den Paris-Attentaten eine Provokation

Falls von den Machern beabsichtigt war, dem Misstrauen gegen Regierungen neue Nahrung zu geben, so könnte der Schuss nach hinten losgehen. Die neuen Folgen mögen in den Post-Snowden-Jahren konzipiert worden sein, als der NSA-Skandal zumindest einen Teil der Öffentlichkeit empört hat; die Ausstrahlung platzt nun aber in eine Zeit hinein, in der allzu viele wieder gern bei der Regierung unterkriechen. „Charlie Hebdo“ und das Paris-Attentat vom 13. November kreieren – neben Furcht vor dem IS und vor Fremden in Folge der Flüchtlingskrise – eine Atmosphäre, die jener unmittelbar nach dem 11. September 2001 vergleichbar ist. „Truther“ (Personen, die behaupten, die Wahrheit über Nine Eleven aufzudecken) werden heute in einem Atemzug mit nationalistischen Wirrköpfen und Antisemiten in die Schmuddel-Ecke gestellt.

Es erscheint unzeitgemäß, Überwachung und den Abbau von Bürgerrechten zu kritisiert, anstatt die Terroristen, die eben diese Maßnahmen „notwendig“ gemacht haben. Gerade diese brisante Gemengelage macht den Serienneustart aber auch für kritische Beobachter interessant. Man kann die Brisanz eines kulturellen Ereignisses ja auch daran bemessen, wie aggressiv sich die Gegner regen. Dies geschah längst vor Serienstart. Laut filmstarts.de „prognostizieren TV-Kritiker für die USA einen ganz anderen Shitstorm gewaltigen Ausmaßes“, speziell wegen der angesprochenen „Truther“-Problematik. Tim Goodman vom Magazin Hollywood Reporter schrieb, dass „die erste Stunde so enttäuschend ist, dass sich selbst Hardcore-Fans überlegen werden, ob weiter zu schauen wirklich die Zeit wert ist.“

Sollte die Serie etwa schon vor ihrem Start niedergeschrieben werden, um potenzielle Zuschauer von den darin enthaltenen Erkenntnissen fernzuhalten? Hat sich gar eine Verschwörung aus Regierung und Medienkonzernen gegen die Verschwörungsserie verschworen? Da kommt wieder das schöne gruselige Gefühl der Unklarheit auf, das wir an „Akte X“ so liebten. War es der Erlkönig oder doch nur der Schatten der Weiden im Wind? Die Wahrheit ist immer noch irgendwo da draußen.

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