Alexanders Albumtipp der Woche: Time & Eternity
„Diese Musik ist aus dem Blut und den Tränen gequälter Seelen entstanden: einem unterdrückten Schrei, murmelnden Stimmen in der Stille größter Angst, Kriegslärm in einer improvisierten Kadenz. Sie handelt von unserer Vergangenheit und unserer Zukunft.“ Die moldauisch-österreichisch-schweizerische Geigerin Patricia Kopatchinskaja und die Camerata Bern geben auf ihrem Album „Time & Eternity“ mit Musik aus 600 Jahren den Opfern eine Stimme. (Alexander Kinsky)
Die beiden zentralen Werke des Albums stammen aus dem 20. Jahrhundert.
Karl Amadeus Hartmanns (1905-1963) „Concerto funebre“ für Violine und Streichorchester entstand 1939 im Entsetzen um den Nationalsozialismus und den beginnenden Krieg. Der Komponist zitiert darin ein rebellisches Hussitenlied, ein russisches Lied für die Opfer von 1905 sowie ein jüdisches Lied.
Frank Martins (1890-1974) Polyptyque für Violine und zwei Kammerstreichorchester schrieb der Komponist kurz vor seinem Tod für Yehudi Menuhin, inspiriert durch die um 1310 für den Hochaltar in Siena entstandenen Gemälde zur Passion Christi von Duccio di Buonsegna.
Die beiden Werke sind eingebettet in dazu passende weitere Stücke und Gesänge, wodurch sich das Album zu einem großen in sich Geschlossenen zusammenfügt, wie eine Andacht oder eine liturgische Feier.
Eröffnet wird es mit John Zorns (geb. 1953) Kol Nidre für Violine und Orchester, und an geeigneten Orten werden die jüdische Gebetsformel und weitere katholische und russisch-orthodoxe Gebetsworte gesprochen sowie von einer polnischen Volksmusikgruppe gesungen.
Ein Kyrie von Guillaume de Machaut (1300-1377) in einer Transkription für Streichorchester verdeutlicht, dass sich Martins darauffolgendes Werk auf Gemälde aus dem 14. Jahrhundert bezieht.
Zwischen die Teile des Martin-Werks werden tröstliche Streichorchesterarrangements von Bach-Chorälen eingeflochten, nicht nur dies eine musikpsychologisch ganz wunderbare Entscheidung.
Martin hat das Kreuzigungsgemälde (alle Gemälde sind im Booklet abgebildet) nicht „vertont“, an der Stelle erklingt Crux für Violine, Pauken und Glocken des tschechischen Komponisten Luboš Fišer (1935-1999).
Das Album rundet sich mit dem deklamierten Christ ist erstanden und dem tröstlichen Streicherchoral O große Lieb aus Bachs Johannes-Passion BWV 245 sowie ausklingenden Glockenschlägen ab.
Patricia Kopatchinskaja als Sologeigerin und musikalische Leiterin des Projekts und die Camerata Bern gestalten das 77 Minuten starke Album musikalisch atemberaubend souverän und intensiv zu einem unter die Haut gehenden musikalischen Menschendienst sondergleichen. Die eindringliche Musik wirkt nicht abschreckend, sie macht aber zutiefst betroffen.
Der grauenhafte Schrecken der Nazidiktatur, danach das Leiden Christi als Sinnbild für das Leiden jedes Einzelnen – das im September 2019 bei Alpha-Classics erschienene Album ist ein unbedingt (und somit leider) wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur genauso wie eine Mahnung für alle Zukunft.
Die Homepage von Patricia Kopatchinskaja: https://www.patriciakopatchinskaja.com/
Die Homepage der Camerata Bern: https://www.cameratabern.ch/
Trailer zum Album: