Alexanders CD-Tipp der Woche: Anna Lucia Richter – Heimweh (Schubert Lieder)
15 staunenswert außergewöhnliche der ca. 600 Franz Schubert Lieder fasst die junge deutsche Sopranistin Anna Lucia Richter auf ihrer im Februar 2019 bei Pentatone veröffentlichten CD unter dem Schwerpunkttitel „Heimweh“ zusammen. (Alexander Kinsky)
Es ist mehr die Liedauswahl als die Interpretation, die für das Album einnimmt. Anna Lucia Richter singt mit reinem Sopran, ohne viel Vibrato, aber viele Vokale lösen sich darin auf. Das ausführliche, nobel gestaltete Booklet mit Detailinformationen zu jedem Lied sowie mit allen Liedtexten muss helfen, textlich wirklich alles zu erfassen, was bis in kleinste Details hier aber ungemein wichtig ist. Die Stimmungen der Lieder vermitteln Anna Lucia Richter, ihr kongenial mit ihr atmender Pianist Gerold Huber und im letzten Lied auch der Klarinettist Matthias Schorn freilich ungemein eindringlich, in romantisch geheimnisvoller Atmosphäre.
Wir begegnen Königinnen, jungen Mädchen und Schäfern, Soldaten, Zwergen und Totengräbern. Und mit ihnen teilen wir verschiedene mehr oder weniger schmerzvolle Heimweherfahrungen.
Schuberts schlichte Strophenvertonung von Goethes An den Mond (Füllest wieder Busch und Tal) D 259 macht den Anfang – die Natur als Liebeskummertrösterin.
Matthäus von Collins Ballade Der Zwerg (Im trüben Licht verschwinden schon die Berge) beendet die nicht mögliche Beziehung des Zwergs mit der Königin tragisch schlimmstmöglich. Schuberts op. 21 Nr. 2 D 771 komponiert die Psychologie der Figuren unheimlich und getrieben im angespannt Schaurigen aus.
Noch nervöser drängend gibt sich Schuberts Ernst Schulze Vertonung An mein Herz (O Herz, sei endlich stille) D 860. Noch ist hier keine Harmonisierung des Liebeskummers möglich.
Mignon, das unbewusst inzestuös gezeugte knabenhafte Mädchen, zu dem sich die Männer hingezogen fühlen, diese viele inspirierende Figur aus Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, italiensehnsüchtig und später herzleidend, stirbt auch an Liebeskummer. Die Verse die Goethe ihr in den Mund legt und wie Schubert sie vertont, traurig, innig, zwischendurch leidenschaftlich aufblitzend – wie das Herz und Seele rührt, unbeschreiblich innige Höhepunkte der Kunstliedkomposition: Lied der Mignon (Nur wer die Sehnsucht kennt) op. 62 Nr. 4 D 877/4, Lied der Mignon (Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen) op. 62 Nr. 2 D 877/2 und Lied der Mignon (So laß mich scheinen, bis ich werde) op. 62 Nr. 3 D 877/3.
Das Heimweh (Oft in einsam stillen Stunden) D 456 setzt diese Innigkeit fort.
Dann wird es wieder grimmig und düster. Totengräbers Heimwehe (Menschheit, o Leben) D 842 nimmt uns erschüttert mit in die Totengräber-Todessehnsucht. Wie sich diese im Lauf des Liedes zum idealisierten Todestraum verklärt ist ein weiteres der unbeschreiblichen Schubert-Liedwunder.
Jetzt folgt eine große Ballade, über 12 Minuten lang in Schuberts Vertonung von Franz von Schobers Vorlage, aber sowas von innig und spannend komponiert: Viola (Blumenballade) op. post. 123 D 786 lässt uns zunächst verliebt mitfiebern und dann aber mehrere Schockstationen umso unmittelbarer mitstocken.
Erster Verlust (Ach, wer bringt die schönen Tage) op. 5 Nr. 4 D 226 wiederum gehört thematisch dem allerersten Liebeskummer.
Nach Mignon singt nun auch Ellen, eine Figur aus der literarischen Welt des schottischen Schriftstellers Walter Scott. Sie versucht das absurd Unmögliche, Kriegsheimkehrern neue Geborgenheit zu vermitteln – Ellens Gesänge D 837-839, Raste Krieger D 837 und Jäger ruhe von der Jagd D 838, und dann folgt auch noch das wohl berühmteste Lied der CD (das gehört nämlich auch zu Ellens Gesängen), das Ave Maria D 839 mit seiner markanten harfenartigen Dreiklangszerlegungsbegleitung, nicht zu verwechseln mit Bach/Gounods Ave Maria.
Bei einem Melodram wird zur Musik nur gesprochen. Das hört man nun beim vorletzten Titel der CD, beim wieder ganz anders anrührenden, bewegenden Abschied von der Erde (Leb wohl, du schöne Erde) D 829.
Und noch einmal über 12 Minuten große Liedkunst, nun sogar mit Sopran, Klavier und Klarinette (!), aus den Alpen gesungen, in Liebessehnsucht und möglicherweise vor einem Lebensentwurfswechsel vom Hirten zum Wanderer (dem der „Winterreise“?) – Der Hirt auf dem Felsen (Wenn auf dem höchsten Fels ich steh) op. 129 D 965.
Ein letztes dieser Schubert Liedwunder der CD.
Anna Lucia Richters Homepage: https://www.annaluciarichter.com/index.php
CD-Vorstellung bei BR-Klassik: https://www.br-klassik.de/aktuell/br-klassik-empfiehlt/cd/album-der-woche-anna-lucia-richter-schubert-lieder-heimweh-100.html
ein wunderbarer Text von Dir zu einer offenbar wunderbaren Sängerin mit einer wunderbaren Stimme. Wie Du schreibst: nahezu vibratofrei, von herrlich klarem Klang, je höher sie aufsteigt mit ihrer Stimme, desto schöner scheint diese Stimme zu werden. Eine Entdeckung für mich!
Wobei Du, tatsächlich, in einem Punkt völlig Recht hast (leider): an der Textverständlichkeit ihres Gesangs wird Anna Lucia Richter noch arbeiten müssen. Sonst landet sie, des erstrebten Wohlklangs wegen, dort, wo einst auch eine Joan Sutherland mehr und mehr verlorenging: im unverständlichen Wohlklang.
Danke für diese Entdeckung, Danke für Deinen Text! (Einfühlsam, fantasievoll und genau wie alle Deine Texte zu den MusikerInnen, die Du uns nach und nach vorstellst!!!)
Herzlich
Holdger